Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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tige Unterlagen von den materiell-rechtlichen Beziehungen der Parteien zu lösen,
hätte dies mit einer Einführung amerikanischer Verhältnisse in den deutschen
Zivilprozeß wenig zu tun. Das entscheidende Merkmal des US-amerikanischen
discovery-Verfahrens liegt gerade darin, daß die Parteien dort abseits jeglicher
Erheblichkeitsprüfung zur Vorlage von Dokumenten und sonstigen Beweismitteln
angehalten werden. Nicht die Entkoppelung der Vorlagepflichten vom materiellen
Recht läßt die discovery US-amerikanischen Vorbilds hierzulande zu Recht als
Schreckgespenst erscheinen, sondern die Tatsache, daß es den Parteien ermöglicht
wird, in den Unterlagen des Gegners erst diejenigen Informationen zu suchen und
zu finden, die geeignet erscheinen, ihm gegenüber Ansprüche geltend zu machen.
Die Befugnis des Gerichts, sich von den Parteien in ihrem Besitz befindliche Unterlagen vorlegen zu lassen, entbindet die Parteien nach der ZPO dagegen weder
von ihrer Darlegungs- und Substantiierungslast noch vom Erfordernis eines schlüssigen Tatsachenvortrages. Soweit die Vorlageanordnung der Feststellung streitiger
Tatsachenbehauptungen dient, hat sie dieselben Anforderungen an den Sachvortrag
zur Voraussetzung wie eine Beweiserhebung auf Parteiinitiative. Sofern mit einer
Erweiterung der Vorlagepflichten für Urkunden daher die Befürchtung im Raum
steht, daß damit eine Ausforschung des Anordnungsadressaten einhergehen könnte, ist es entscheidend, an den Substantiierungserfordernissen des Parteivortrages
festzuhalten. Die Abkoppelung der Vorlagepflicht für Urkunden vom materiellen
Recht birgt für sich betrachtet dagegen wenig Mißbrauchsgefahren, denen es entgegenzuwirken gälte.
D. Ausblick
Ob man für die zukünftige legislative Entwicklung eine Vorlagepflicht des Beweisgegners für Urkunden auch abseits des Bestehens materiell-rechtlicher Ansprüche
fordert, ist in erster Linie eine rechtspolitische Frage. Aus rechtswissenschaftlicher
sowie anwendungspraktischer Sicht erscheint jedenfalls eine zeitnahe und klare
Positionierung des Gesetzgebers in dieser Frage wünschenswert. Es scheint fast so,
als habe der Reformgesetzgeber sich in letzter Konsequenz nicht recht entscheiden
wollen, ob der Beweisgegner beim Urkundenbeweis künftig abseits der restriktiven
Regeln der §§ 422 423 ZPO zur Mitwirkung herangezogen werden soll und als
habe er die Beantwortung dieser Frage in einer Art Testlauf zunächst den Gerichten überlassen wollen. Daß dies mit der gewählten Regelungstechnik rechtsstaatlichen Grundsätzen zuwiderläuft, mag während des Gesetzgebungsverfahrens nicht
Gegenstand der Erörterungen gewesen sein. Um so mehr ist der Reformgesetzgeber allerdings nunmehr aufgefordert, Farbe zu bekennen.
Eine klare Entscheidung für die Beibehaltung der restriktiven Regeln beim Urkundenbeweis könnte sich in einem neuen § 142 Abs. 1 S. 3 ZPO n.F. manifestieren, der anordnet, daß der Beweisgegner nur unter den Voraussetzungen der
§§ 422, 423 ZPO zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet werden kann.
Sollte sich der Gesetzgeber allerdings zukünftig dafür entscheiden, den im Jahr
2001 eingeschlagenen Weg weiterzugehen, müßten die §§ 422, 423 sowie § 424
§ 8 Bewertung und Schlußbetrachtung
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Nr. 5 ZPO ersatzlos gestrichen werden. Ob es darüber hinaus der Aufnahme eines
Katalogs von Weigerungsrechten der vorlagepflichtigen Prozeßparteien oder gar
zusätzlich der Implementierung eines Geheimverfahrens in Gestalt eines partiellen
Ausschlusses der risikobelasteten Partei bedarf, dürfte in diesem Zusammenhang
eher eine nachgelagerte Frage sein. Nicht ausgeschlossen erscheint es jedenfalls,
auch die Vorlagepflicht des Beweisgegners in Anlehnung an § 371 Abs. 3 ZPO n.F.
zunächst schlicht unter eine allgemeine Zumutbarkeitsschranke zu stellen. Hat man
sich erst einmal an den Gedanken gewöhnt, daß eine prozessuale Vorlagepflicht
grundsätzlich auch dann besteht, wenn materiell-rechtliche Ansprüche des Prozeßgegners im Hinblick auf die Urkunde nicht gegeben sind, werden Fälle, in denen
die Mitwirkung unzumutbar erscheint, selten und überdies schnell erkennbar sein.
Bis der Gesetzgeber sich zu einer klaren Positionierung durchringt, wird der gerichtlichen Praxis der unfruchtbare Streit über das Bestehen einer materiellrechtlichen Vorlagepflicht des Beweisgegners allerdings erhalten bleiben.
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References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.