§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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B. Die Hilfestellungen der Rechtsprechung für die risikobelastete Partei297
Unbilligkeiten, die für die Parteien aufgrund eines unverschuldeten Informationsdefizits entstehen, versucht die Rechtsprechung seit jeher mit einem reichhaltigen
Instrumentarium zu begegnen. Dabei ist sie einerseits bestrebt, die in Informationsnot befindliche Partei durch großzügige Handhabung des materiellen Rechts an
die von ihr für eine erfolgreiche Prozeßführung benötigten Informationen kommen
zu lassen. Andererseits greift sie aber auch auf eine Reihe prozessualer Instrumente
zurück, die geeignet sind, die fortwährende Gültigkeit der gerade genannten Leitlinien in Frage zu stellen.
I. Materiell-rechtliche Ansatzpunkte
Dem Vorrang materiell-rechtlicher Informationsansprüche folgend, knüpft das
Instrumentarium der Gerichte zugunsten der in Informationsnot befindlichen
Partei primär an der Auslegung des materiellen Rechts an.
1. Großzügige Handhabung der speziellen Auskunftsansprüche
Zunächst ist die Rechtsprechung geneigt, materiell-rechtliche Informationsansprüche zu Gunsten des Berechtigten weit auszulegen, insbesondere dann, wenn dies
für den Betroffenen die einzige Möglichkeit darstellt, seinen Anspruch zu beziffern.
Bedeutsam für die hier im Fokus des Interesses stehenden Vorlagepflichten ist
insbesondere die von der Rechtsprechung praktizierte weite Auslegung des § 810
BGB298. So dehnte der BGH diesen Vorlageanspruch beispielsweise auf Steuererklärungen und Steuerbescheide aus, um eine auf Zahlung aus einem Auseinandersetzungsvertrag klagende Ehefrau in Stand zu setzen, sich über die Vermögenslage
ihres geschiedenen Ehemanns zu informieren299. Daß diesen Urkunden Bedeutung
in erster Linie im Verhältnis zwischen den Finanzbehörden und dem Beklagten
zukommt, schließe, so der BGH, nicht aus, daß sie auch darüber Auskunft zu geben geeignet sind, welche Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten zustehen.
Es bedürfe insoweit einer "ausdehnenden und nicht am Wortlaut der Vorschrift
haftenden Auslegung"300. Auf die in der Praxis äußerst bedeutsame Ausweitung der
Vorlagepflicht aus § 810 BGB auf ärztliche Behandlungsunterlagen wurde bereits
an anderer Stelle hingewiesen301.
Trotz der Tendenz zur großzügigen Handhabung spezieller Auskunfts- und
Vorlageansprüche darf nicht übersehen werden, daß sich die Bereitschaft zu weiter
297 Vgl. allgemein Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 739 ff.; Gottwald, BB
1979, 1780 (1781 f.); Schneider MDR 1969, 4 (5); Yoshida, Die Informationsbeschaffung im Zivilprozeß, 2001, 35; Arens, ZZP 96 (1983), 1 (23); Köhler, NJW 1992, 1477 (1481).
298 Vgl. etwa BGHZ 55, 201 (203); BGH BB 1966, 99 (99); BGH WM 1963, 990 (991).
299 BGH BB 1963, 99 (99 f.).
300 BGH BB 1963, 99 (100).
301 Zweiter Teil.§ 2C.I.5.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Auslegung nur auf deren positive Voraussetzungen bezieht. Bei Annahme höherrangiger Geheimhaltungsinteressen des Auskunftsverpflichteten, die einem solchen
Anspruch regelmäßig entgegenstehen oder in den Fällen, in denen der Anspruchsteller sich erstmalig Gewißheit über das Bestehen eines Anspruches verschaffen will, bleibt die Rechtsprechung dagegen restriktiv und läßt die Durchsetzung des Informationsanspruchs regelmäßig scheitern302.
2. Informationsanspruch aus Treu und Glauben
In Zusammenhang mit dem Bemühen, dem Beweisführer über seine Informationsnot hinwegzuhelfen, ist an dieser Stelle noch einmal auf den von der Rechtsprechung geschaffenen Informationsanspruch aus Treu und Glauben (§ 242 BGB)
einzugehen, der im Einzelfall auch die Vorlage von Urkunden oder Augenscheinsgegenständen zum Inhalt haben kann303. Der Anspruch entsteht, wenn die zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen es mit sich bringen, daß der
Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen und Umfang seines Rechts im
Ungewissen ist, er sich die benötigte Information nicht auf zumutbare Weise selbst
beschaffen, der Verpflichtete sie aber unschwer erteilen kann304. Die durch das
materielle Recht ausdrücklich vorgesehenen Informationsmöglichkeiten wurden
durch diese richterliche Rechtsfortbildung jedenfalls für solche Fälle erweitert, in
denen das Gesetz keinen entsprechenden Anspruch vorhält.
3. Modifikationen der Beweislast im Wege der Rechtsfortbildung
Von der Grundregel, daß jede Partei für die ihr günstigen Voraussetzungen einer
Norm das Risiko ihrer Nichterweislichkeit trägt, hat bereits der Gesetzgeber eine
Reihe von Ausnahmen statuiert305. Er trägt damit der Tatsache Rechnung, daß der
Beweisführer in bestimmten Situationen typischerweise nicht in der Lage ist, einen
behaupteten Geschehensablauf zu beweisen, etwa weil sich der Sachverhalt regelmäßig in der Sphäre des Gegners abspielt. Als prominentes Beispiel sei die erst
jüngst im Rahmen der Schuldrechtsmodernisierung eingeführte zentrale Schadensersatznorm des § 280 BGB genannt, wonach der Schuldner eines vertraglichen
Schadensersatzanspruches zu beweisen hat, daß ihn kein Verschulden im Hinblick
auf die vom Gläubiger behauptete Pflichtverletzung trifft. Für weitere Fälle, in
denen es bei Anwendung der Grundregel zu einer unbefriedigenden materiellen
Risikozuweisung durch die Verteilung der Beweislast käme, hat die Rechtsprechung
im Wege richterlicher Rechtsfortbildung Regeln zur Beweislastumkehr geschaffen.
Die nach der Grundregel beweisbelastete Partei wird dadurch stark entlastet, weil
302 Vgl. etwa BGH NJW-RR 2001, 1617 ff.
303 Ausführlich hierzu bereits oben Zweiter Teil.§ 2C.II.
304 BGHZ 81, 21 (24); BGHZ 97, 188 (192).
305 Vgl. die Aufzählung ausdrücklicher gesetzlicher Beweislastregeln bei Stein/Jonas-Leipold, 21. Aufl.,
§ 286, Rn. 42 sowie bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 782 f.
§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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ihr schon die anfängliche Darlegungslast und die ggf. durch Bestreiten des Gegners
entstehende Substantiierungslast genommen werden. Da sich durch die Umkehr
der Beweislast lediglich die materiell-rechtliche Verteilung des Beweisrisikos ändert,
jedoch unmittelbar keine eigenständigen prozessualen Pflichten für den Prozeßgegner geschaffen werden, bleibt die Rechtsprechung mit dieser Vorgehensweise
dem Primat des materiellen Rechts treu. Der BGH hat insbesondere für folgende
Fallgruppen eine Abweichung der objektiven Beweislast von der Grundregel entwickelt:
a) Produzentenhaftung
Für den industriellen Produzenten306 besteht neben der speziellen Haftung nach
dem Produkthaftungsgesetz die allgemeine deliktische Haftung nach § 823 Abs. 1
BGB307. Da diese Norm keine Ausnahme von der Grundregel der Beweislastverteilung enthält, trägt der Geschädigte grundsätzlich die Beweislast für alle anspruchsbegründenden Tatsachen. Typischerweise kann der Geschädigte jedoch nur das
Vorliegen eines Produktfehlers und eines daraus entstandenen Schadens nachweisen. Inwieweit der Hersteller vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat bzw. ob der
Fehler auf einer Pflichtverletzung des Herstellers beruht, kann er nicht wissen, weil
er die betriebsinternen Abläufe beim Hersteller nicht kennt. Die Rechtsprechung
hat daher die Beweislast für das Fehlen der anspruchsbegründenden Kausalität
sowie des Verschuldens auf den Hersteller übertragen308.
b) Arzthaftung und grobe Verletzung von Berufspflichten
Im Arzthaftungsrecht ist die allgemeine Regel, daß der Patient Behandlungsfehler,
Schadenskausalität und Arztverschulden beweisen muß, von der Rechtsprechung
im Laufe der Zeit immer stärker modifiziert und die Rechtsstellung des Patienten
durch immer weitergehende Beweiserleichterungen ausgebaut worden309. Im Falle
des Verdachts grober Behandlungsfehler310 durch einen Arzt legt die Rechtsprechung diesem regelmäßig die Beweislast dafür auf, daß die ärztliche Behandlung für
den daraus unmittelbar entstandenen gesundheitlichen Schaden beim Patienten
nicht kausal war311. Die Beweislast für fehlendes eigenes Verschulden trägt der Arzt
seit Einführung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz ohnehin. Zwar betont der BGH, es dürfe nicht nach einer starren
Regel stets eine Beweislastumkehr vorgenommen werden, vielmehr bedürfe es
306 Hierzu zählen nach der Rechtsprechung auch Kleinbetriebe, vgl. BGH NJW 1992, 1039 (1041).
307 Die Anspruchskonkurrenz ergibt sich aus § 15 Abs. 2 ProdHG.
308 Vgl. BGH NJW 1991, 1948 (1951); BGHZ 67, 359 (361 f.); BGHZ 51, 91 (104 ff.).
309 Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 2001, 421 ff.
310 Zur Definition vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 2001, 441 f.
311 BGH NJW 1988, 2948 (2949); BGH NJW 1963, 389 (390); Stein/Jonas-Leipold, 21. Aufl., § 286,
Rn. 128 m.w.N.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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eines flexibel handhabbaren Instrumentariums von "Beweiserleichterungen312, die
bis hin zur Beweislastumkehr reichen können"313. Diese Einschränkung dürfte
jedoch primär der Klarstellung dienen, daß die Beweislastumkehr nicht von vornherein vorausgesetzt werden darf, sondern im Einzelfall auch Beweisschwierigkeiten des Arztes Berücksichtigung finden müssen314. Das Bundesverfassungsgericht
hat in diesem Zusammenhang die Zulässigkeit einer Modifikation der Beweislast
bestätigt, jedoch betont, daß die grundsätzliche Verteilung der Beweislast, wonach
der Patient die anspruchsbegründenden Voraussetzungen zu beweisen habe, im
Einzelfall nicht außer Acht gelassen werden dürfe315. Aus dem Rechtsstaatsprinzip
folge die Verpflichtung zu einer fairen Handhabung des Beweisrechts, insbesondere der Beweislastregeln316. Dennoch nimmt der BGH selbst in Fällen, in denen ein
Behandlungsfehler des Arztes für einen Gesundheitsschaden nicht alleine, sondern
nur mitursächlich war, eine Umkehr der Beweislast an317. Die vollständige Umkehr
der Beweislast in Fällen grober Behandlungsfehler des Arztes ist inzwischen zur
Regel geworden, von der nur abgewichen wird, wenn sie sich im Einzelfall als nicht
mehr sachgerecht vertreten ließe, etwa weil der Zusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Schaden gänzlich unwahrscheinlich ist318.
Die Neigung der Rechtsprechung, zugunsten des Geschädigten Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr zu gewähren, findet sich auch in Fällen sonstiger grober Verletzung von Berufspflichten wieder, wenn die entsprechende
Pflicht gerade Körper oder Gesundheit eines anderen schützen soll und die
Pflichtverletzung geeignet war, einen Schaden herbeizuführen, wie er tatsächlich
eingetreten ist319. Nach diesen Grundsätzen hat der BGH etwa einem Schwimmeister, der seiner Aufsichtspflicht nicht genügte, die Beweislast dafür aufgebürdet,
daß der Schwimmschüler auch bei sorgfältiger Überwachung nicht vor dem Ertrinken hätte gerettet werden können320.
c) Modifikation der Beweislast bei Beweisvereitelung
Eine weitere, für die Praxis äußerst bedeutsame Fallgruppe, für die die Rechtsprechung eine Modifikation der gesetzlichen Beweislast entwickelt hat, ist die sog.
312 In Betracht kommt insbesondere die Anwendung von Erfahrungssätzen, die den Rückschluß auf
den behaupteten Behandlungsfehler zur Überzeugung des Gerichts zulassen, vgl. BVerfGE 52,
131 (150 ff).
313 BGH NJW 2004, 2111 (2012); BGH 1989, 2332 (2332); BGH NJW 1988, 2203 (2204); BGH
NJW 1981, 2513 (2513 f.).
314 Katzenmeier, Arzthaftung, 2001, 469; kritisch zur Neigung der Rechtsprechung, vorschnell eine
Umkehr der Beweislast anzunehmen, Wachsmuth/Schreiber, NJW 1981, 1985 (1987).
315 BVerfG NJW 1979, 1925 (1925 ff.)
316 BVerfG, Urteil v. 13.02.2007, Az: 1 BVR 421/05, Rn. 70 (Vaterschaftstest); BVerfG NJW 1978,
1925 (1925).
317 BGH NJW 1997, 796 (796).
318 So in BGH NJW 1994, 794 (795).
319 Vgl. hierzu auch Katzenmeier, Arzthaftung, 2001, 469; Schlosser, Zivilprozeßrecht I, 2. Aufl.,
Rn. 367; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 786.
320 BGH NJW 1962, 959 (959 f.).
§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Beweisvereitelung durch die nicht beweisbelastete Partei. Hierunter werden Fälle
verstanden, in denen das Verhalten einer Partei dazu führt, daß ihrem Gegner die
Beweisführung erschwert oder unmöglich gemacht wird und in denen es unbillig
wäre, wenn die nicht risikobelastete Partei wegen einer daraus resultierenden Beweisfälligkeit des Beweisführers den Prozeß gewinnen würde. In Anlehnung an die
§§ 427, 444, 446, 453 II, 454 ZPO321 hat die Rechtsprechung auch für diese Fälle
den allgemeinen Grundsatz entwickelt, daß eine schuldhafte322 Beweisvereitelung
durch die nicht beweisbelastete Partei Beweiserleichterungen zur Folge hat, die bis
zur Beweislastumkehr gehen können323. Dabei ist es grundsätzlich unerheblich, ob
die Vereitelungshandlung vor oder während des Prozesses oder durch aktives Handeln (z.B. gezielte Vernichtung eines Beweisgegenstandes) oder Unterlassen einer
gebotenen Handlung (etwa der Sicherung eines Beweisgegenstandes vor Verfall)
geschieht324. Die Formel der Rechtsprechung von den Beweiserleichterungen, die
bis hin zur Beweislastumkehr gehen können, ermöglicht es ihr, flexibel auf das Maß
der Vorwerfbarkeit zu reagieren und nicht etwa fahrlässige und vorsätzliche Beweisvereitelung gleichermaßen mit der scharfen Sanktion der Beweislastumkehr zu
belegen325.
Die praktischen Beispiele dieser Fallgruppe sind vielfältig. Eine Umkehr der
Beweislast nimmt die Rechtsprechung beispielsweise an, wenn die nicht beweisbelastete Partei vor Prozeßbeginn einen Gegenstand vernichtet, obwohl sie dessen
Beweiserheblichkeit als Augenscheinsobjekt in einem zu erwartenden Prozeß erkennen mußte. Dies gilt ebenso, wenn sie sich grundlos326 weigert, allein ihr zugängliche Beweismittel zu benennen oder verwertbar zu machen (z.B. einen nur ihr
bekannten Unfallzeugen)327 oder wenn sie grundlos in ein Auskunftsersuchen an
ihre Bank nicht einwilligt328 oder sonst in vorwerfbarer und mißbilligenswerter
Weise einen Dritten nicht von einem bestehenden Zeugnisverweigerungsrecht
entbindet329.
Für die Behandlung derartiger Fälle favorisiert die Literatur in Abgrenzung zur
Rechtsprechung eine Sanktion im Rahmen der Beweiswürdigung, um den Gegebenheiten des Einzelfalles noch besser Rechnung tragen zu können. Umstritten ist
die Rechtsgrundlage einer Sanktionierung vor allem für die Fälle fahrlässiger Beweisvereitelung. Da es stets der Verletzung einer Mitwirkungspflicht bedürfe, um
das Verhalten des Beweisgegners zu sanktionieren, ist die Einordnung dieser Fälle
321 Für Augenscheinsgegenstände hat der Gesetzgeber im Rahmen des Zivilprozeßreformgesetzes
mit § 371 Abs. 3 ZPO n.F. eine weitere Norm hinzugefügt.
322 Fahrlässigkeit im Hinblick auf die Vereitelung reicht aus, vgl. BGH NJW 1986, 59 (60 f.); BGH
NJW 1994, 1594 (1595); Oberheim, JuS 1997, 61 (62).
323 Vgl. etwa BGH NJW 1998, 79 (81); BGH NJW 1996, 315 (317).
324 BGH NJW 1998, 79 (81).
325 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 784 f.
326 Keine grundlose Mitwirkungsverweigerung liegt vor, wenn die Weigerung Ausfluß einer grundrechtlichen Gewährleistung ist, vgl. zuletzt BVerfG, Urteil v. 13.02.1007, Az: 1 BVR 421/05,
Rn. 14.
327 BGH NJW 1960, 821 (821).
328 BGH NJW 1967 2012 (2012 f.).
329 BGH NJW-RR 1996, 1534, 1534.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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schwierig. Der oft in Bezug genommene § 444 ZPO gilt nur für die vorsätzliche
Entziehung von Beweisurkunden330. Den Motiven nach handelt es sich um eine
"prozessuale Strafvorschrift"331. Die Vorschriften der §§ 427 und 441 III ZPO
sollen dagegen auch die fahrlässige Nichterfüllung der Vorlagepflicht einschlie-
ßen332. Alle drei Vorschriften werden als besonders geregelte Beispiele des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO angesehen333. Die Konzeption
der ZPO spricht daher im Sinne der Literatur eher für die freie Beweiswürdigung
als Sanktion der Beweisvereitelung334.
II. Prozessuale Ansatzpunkte
Ihrer Leitlinie vom Vorrang materiell-rechtlicher Informationsansprüche folgend,
unterstützt die Rechtsprechung den in Informationsnot befindlichen Beweisführer
wie aufgezeigt primär durch großzügige Handhabung materiell-rechtlicher Informationsansprüche oder durch eine Umkehr der Regeln über die Beweislastverteilung.
Dennoch gewährt sie mit gleicher Intention auch Beweiserleichterungen, die im
Prozeßrecht ansetzen und auf einen Rückgriff auf das materielle Recht gänzlich
verzichten. Diese prozessualen Instrumente, mit denen der Beweisführer in die
Lage versetzt werden soll, ein unverschuldetes Informationsdefizit zu überwinden,
stehen in ihrer praktischen Wirksamkeit den materiell-rechtlichen Ansätzen nicht
nach, wie der folgende Überblick zeigen wird.
1. Modifikationen der Substantiierungslast
a) Die sog. sekundäre Behauptungslast
Die nicht beweisbelastete Partei muß im Rahmen ihrer Erklärungslast gem. § 138
Abs. 2 ZPO grundsätzlich nur dann substantiiert zu den Behauptungen ihres Gegners Stellung beziehen, wenn dieser substantiiert vorgetragen hat335. In Ausnahmefällen legt der BGH allerdings dem Beweisgegner eine weitergehende Substantiierungslast auf, wenn die risikobelastete Partei außerhalb des von ihr darzulegenden
Geschehensablaufes steht und die entscheidenden Tatsachen nicht kennt, während
sie der anderen Seite bekannt und ergänzende Angaben für sie zumutbar336 sind337.
Anders als im Normalfall, in dem sich die Vorträge der Partei qualitativ zu entsprechen haben338, muß der Beweisgegner substantiiert bestreiten, obwohl die darle-
330 Peters, ZZP 82 (1969), 200 (211).
331 Hahn, Die gesammten Materialien zur CPO, Band 1.1, 1. Abt., 1880, 329.
332 Peters, ZZP 82 (1969), 200 (211).
333 RGZ 101, 198; Peters, ZZP 82 (1969), 200 (213).
334 So im Ergebnis auch Peters, ZZP 82 (1969), 200 (211).
335 BGH JZ 1985, 183 (184); BGH NJW 1962, 1394 (1395), BGH DB 1973, 1792 (1792).
336 Zur Frage der Zumutbarkeit, vgl. Peters, FS-Schwab, 1990, 399 (401).
337 BGH NJW 1998, 2277 (2279).
338 Vgl. Seutemann, MDR 1997, 615 (618).
§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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gungs- und beweisbelastete Partei ihrerseits - aufgrund ihres Informationsdefizits unsubstantiiert vorgetragen hat. Die Beweislast wird dadurch jedoch nicht verändert. Es obliegt weiterhin dem Anspruchsteller, mit Hilfe des gegnerischen Vortrags seine Behauptungen zu beweisen339. Diese erweiterte Erklärungspflicht nennt
der BGH "sekundäre Behauptungslast"340 oder auch "sekundäre Darlegungslast"341.
Zu beachten ist jedoch, daß dem Prozeßgegner der darlegungs- und beweisbelasteten Partei aus den Grundsätzen der sekundären Behauptungslast lediglich eine
mündliche Substantiierung der zu ihrem Wahrnehmungsbereich gehörenden Tatsachen, niemals aber die Pflicht zur Vorlage einer in ihrem Besitz befindlichen Urkunde abverlangt werden kann342.
Weigert sich der Beweisgegner, seiner sekundären Behauptungslast zu entsprechen so kann der unsubstantiierte Vortrag der beweisbelasteten Partei vom Gericht
als zutreffend unterstellt werden. Als Grundlage für diese Sanktion macht sich die
Rechtsprechung mitunter die Möglichkeit der freien Beweiswürdigung gem. § 286
ZPO zu Nutze343. Zum Teil greift sie zur Begründung dieser Sanktion auch auf
§ 138 Abs. 3 ZPO zurück344 und fingiert die unsubstantiiert dargelegten Behauptungen der risikobelasteten Partei als zugestanden. Seine Grenze findet das Institut
der sekundären Behauptungslast wiederum dort, wo der BGH mangels ausreichend
substantiierten Vortrags der risikobelasteten Partei eine unzulässige Ausforschung
des Beweisgegners annimmt, was indes praktisch selten der Fall ist345. Auch endet
die Zumutbarkeit für substantiiertes Bestreiten dort, wo es mit der Offenlegung
von Betriebsgeheimnissen verbunden wäre346, also höherrangige Interessen des
Beweisgegners betroffen sind.
Als Rechtsgrundlage für die Gewährung dieser Beweiserleichterung greift der
BGH auf § 242 BGB oder auf die allgemeine Prozeßförderungspflicht347 gem.
§ 282 ZPO i.V. mit der Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht nach § 138 Abs. 1
und 2 ZPO348 zurück. Augenfällig ist die annähernde Übereinstimmung der Voraussetzungen, unter denen der BGH eine sekundäre Behauptungslast annimmt, mit
denen des materiell-rechtlichen Auskunftsanspruchs aus Treu und Glauben. Unklar
bleibt, wann der Beweisführer mit welcher Hilfestellung der Gerichte rechnen
kann349. Lorenz350 spricht in Bezug auf die richterrechtlich entwickelte Informationspflicht des Beweisgegners von einer "materiellrechtlichen Pflicht im Gewand
339 MüKo-ZPO-Peters, 2. Aufl., § 138, Rn. 22.
340 Vgl. etwa BGH NJW 1998, 2277 (2279).
341 BGH NJW-RR 2004, 989 (989).
342 So jüngst dezidiert BGH NJW 2007, 2989 (2991).
343 BGH NJW 1960, 821 (821); siehe auch Zöller-Greger, 26. Aufl., Vor § 284, Rn. 34.
344 BGH NJW 1996, 315 (317).
345 Vgl. hierzu unten Zweiter Teil.§ 3B.II.1.b).
346 Vgl. Zöller-Greger, 26. Aufl., vor § 284, Rn. 34b, OLG Naumburg, NJW-RR 2000, 720 (720); OLG
Stuttgart, NJW-RR 1987, 677 (677).
347 BGH NJW 1990, 3151 (3152).
348 So auch die Begründung eines Großteils der Literatur, vgl. MüKo-ZPO-Peters, 2. Aufl., § 138,
Rn. 22; ders. FS-Schwab, 1990, 399 (401).
349 Vgl. zu dieser Problematik auch Kiethe, MDR 2003, 781 (783).
350 Lorenz, ZZP 11 (1998), 35 (58).
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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einer prozessualen Obliegenheit". In zwei jüngeren Entscheidungen hat der BGH
eine Pflicht zum substantiierten Bestreiten unabhängig von der Frage bejaht, ob
ggf. auch ein materiell-rechtlicher Informationsanspruch aus § 242 BGB in Betracht gekommen wäre351 bzw. eine sekundäre Behauptungslast erwogen, ohne den
Beweisführer auf einen evtl. bestehenden materiell-rechtlichen Auskunftsanspruch
zu verweisen352. An dieser Stelle wird die fehlende Bereitschaft des BGH zur dogmatischen Einordnung seiner Hilfestellungen besonders deutlich. Vom Primat des
materiellen Rechts kann jedenfalls kaum mehr die Rede sein, wenn die Gewährung
einer prozessualen Hilfestellung unter nahezu deckungsgleichen Voraussetzungen
eingreift wie ihr materiell-rechtliches Pendant353.
Für die risikobelastete Partei hat das Institut der sekundären Behauptungslast
gegenüber dem materiell-rechtlichen Informationsanspruch aus § 242 BGB zwei
entscheidende Vorteile. Zunächst vermeidet sie einen zeit- und kostenintensiven
separaten Auskunftsprozeß. Vor allem aber bleibt ihr der Nachweis des Bestehens
einer materiell-rechtlichen Sonderbeziehung im Prozeß über den Hauptanspruch
erspart, was sie insbesondere bei der Geltendmachung gesetzlicher Ansprüche vor
unüberwindbare Schwierigkeiten stellen kann354. Nachteilhaft ist die Inanspruchnahme der sekundären Behauptungslast allerdings dann, wenn sich der Beweisgegner im Prozeß wider Erwarten substantiiert und erheblich erklärt. Ist die darlegungsbelastete Partei nun nicht ad hoc in der Lage, ihrerseits substantiiert vorzutragen, hat sich ihre Situation im Ergebnis nicht verbessert.
b) Substantiierungsanforderungen in den sog. Ausforschungsfällen
Das grundsätzliche Verbot eines ausforschenden Beweisantrages355 entschärft der
BGH zugunsten der unverschuldet in Informationsnot geratenen Partei ebenfalls
durch eine Reduzierung ihrer Substantiierungslast.
Der Versuch einer Partei, mit Hilfe einer unbestimmten oder einer zwar bestimmten, aber nur vage vermuteten Tatsachenbehauptung eine Beweisaufnahme
zu erwirken, wird durch die hohen Anforderungen an die Darlegungs- und Substantiierungslast der beweisbelasteten Partei "provoziert"356. Kennt der Beweisführer Tatsachen, die er zur Begründung seines Rechtsschutzziels konkretisiert behaupten müßte, nicht, etwa weil sich das tatsächliche Geschehen außerhalb seiner
Wahrnehmungssphäre abgespielt hat oder er sich selbst an den Vorgang nicht mehr
erinnern kann, bleibt ihm nur die Möglichkeit, eine Beweisaufnahme anzustreben,
die diese ihm unbekannten Tatsachen hervorbringt. Hielte man in dieser Situation
an den hohen Substantiierungsanforderungen fest, zwänge man die risikobelastete
351 Vgl. etwa BGH NJW-RR 2004, 989 (990).
352 BGH NJW-RR 2004, 989 (989).
353 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 94; Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (42); Schlosser, Zivilprozeßrecht I, 2. Aufl., Rn. 431; Waterstraat, ZZP 118 (2005), 459 (464, 477).
354 Vgl. oben Zweiter Teil.§ 2C.IV.
355 Vgl. hierzu oben Zweiter Teil.§ 3A.II.
356 Treffend Arens, ZZP 96 (1983), 1 (4).
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Partei förmlich dazu, ihr unbekannte Konkretisierungen zu erfinden oder sich
positiver Kenntnis von Umständen zu berühmen, wo eigentlich nur vage Vermutungen existieren. Dies liefe jedoch dem Zweck des Substantiierungserfordernisses
zuwider und führte zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Rechtsschutzsperre357 für die risikobelastete Partei.
Für das Erfordernis der Substantiierung werden in der Wissenschaft verschiedene Gründe angeführt358. Im Regelfall beiderseits gleichermaßen informierter
Parteien führe die Darlegungs- und Substantiierungslast zu einer eigenverantwortlichen Beibringung des Streitstoffes durch die Parteien, ohne daß das Gericht sie
dazu zwingen müßte. Die Substantiierungslast soll zudem Gegner und Dritte davor
schützen, ungerechtfertigterweise mit einer mißbräuchlich eingeleiteten Beweisaufnahme belästigt zu werden359. Auch die mißbräuchliche, ohne jeden vernünftigen
und einsehbaren Anlaß betriebene Inanspruchnahme der Gerichte, die zu einem
Verschleiß von wertvollen Kapazitäten in der Rechtspflege führe, werde durch das
Substantiierungserfordernis gebremst. Vor allem aber werde das Gericht durch die
Substantiierung der Tatsachenbehauptungen erst in die Lage versetzt zu beurteilen,
ob das Vorbringen einer Partei für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich ist
und ggf. eine Beweisaufnahme erforderlich macht360. Daß die Schonung der
Rechtspflegeorgane vor mißbräuchlicher Verfahrenseinleitung erreicht werden
kann, indem eine Partei genötigt wird, der Wahrheit zuwider erfundene Tatsachen
als bekannt zu behaupten, nur um ihr Rechtsschutzziel weiter verfolgen zu können,
darf bezweifelt werden. Auch für die Prüfung der Erheblichkeit einer Behauptung
dürfte es zunächst ausreichen, daß die behauptete Tatsache in Verbindung mit
einer Rechtsnorm das geltend gemachte Recht als entstanden erscheinen läßt. Der
BGH hat daher die Anforderungen an die Darlegung und Substantiierung des
Tatsachenvortrags im Falle unverschuldeter Informationsnot einer Partei auf das
aus seiner Sicht unbedingt notwendige Maß reduziert.
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH steht es der Zulässigkeit eines Beweisantrages nicht entgegen, wenn die Partei den vorgetragenen Sachverhalt lediglich als Vermutung behauptet361. Unzulässig wird der Beweisantrag erst dann, wenn
er zum Zwecke der Ausforschung erfolgt. Anzeichen eines solchen ausforschenden
Beweisantrages ist die Aufstellung von willkürlichen Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein", ohne daß greifbare Anhaltspunkte für die tatsächliche Existenz des behaupteten Sachverhalts vorliegen362. Bei der Annahme von
Willkür mahnt der BGH jedoch zur Zurückhaltung363. Sie komme allenfalls beim
Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte für den vermuteten Sachverhalt in
357 Stürner, Die Aufklärungspflicht, 1976, 118.
358 Ausführlich hierzu Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 112 ff.; Brehm, Die Bindung des Richters, 1982, 52 ff; Lange, DRiZ 1985, 247 (249 ff.).
359 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 112 ff.
360 MüKo-ZPO-Peters, 2. Aufl., § 138, Rn. 9.
361 BGH NJW 1995, 2111 (2111 f.); BGH NJW 1995, 1160 (1161).
362 BGH NJW-RR 1999, 361 (361 f.); BGH NJW 1986, 246 (246 f.); BGH NJW 1984, 2888 (2888).
363 BGH MDR 2003, 1365 (1365); BGH NJW 1995 2111 (2112).
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
102
Betracht364. Solange jedoch die Erheblichkeit eines Vorbringens vom Gericht beurteilt werden könne und dem Gegner eine Stellungnahme möglich sei, dürfe eine
Beweisaufnahme zu einem bestritten Vorbringen nicht abgelehnt werden365. Weitergehenden Anforderungen an die Substantiierungslast, wie sie oftmals von den
Instanzgerichten aufgestellt werden366, erteilt der BGH dagegen regelmäßig eine
Absage. Das Gericht habe im Vorfeld einer Beweisaufnahme nicht zu prüfen, ob
das tatsächliche Vorbringen einer Partei glaubhaft oder gar wahrscheinlich sei367.
Da die Partei auch nicht offenlegen muß, welche Behauptungen sie auf sicheres
Wissen oder lediglich auf Vermutungen stützt368, kann sie bei fehlender oder lükkenhafter Sachverhaltskenntnis Spekulationen zum Gegenstand ihrer Behauptungen machen, solange sie dafür noch Anhaltspunkte liefern kann, die nicht ganz
fernliegen.
2. Beweis des ersten Anscheins
Der sog. Anscheinsbeweis (prima facie Beweis) führt zu einer Beweiserleichterung369, nicht aber zu einer Umkehr der Beweislast370. Es handelt sich um eine
Form mittelbarer Beweisführung371. Das in richterlicher Rechtsfortbildung372 entwickelte Institut wird in Fallkonstellationen angewandt, bei denen ein Sachverhalt
feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache
oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten
Erfolges hinweist373.
Die beweisbelastete Partei muß nur solche Tatsachen darlegen, die nach allgemeiner Lebenserfahrung oder aufgrund eines Erfahrungssatzes auf eine bestimmte
Ursache schließen lassen. Steht für das Gericht sowohl der Erfahrungssatz als auch
der unter diesen Erfahrungssatz zu subsumierende Sachverhalt fest, so kann es den
Schluß auf das Vorliegen einer streitigen Behauptung ziehen374. Da sich das Beweismaß nicht ermäßigt, muß dieser Schluß geeignet sein, die volle Überzeugung
des Gerichts herbeizuführen375. Es obliegt dann dem Gegner, die (vorläufig) gewonnene Überzeugung wieder zu erschüttern, indem er das Gericht von der ernsthaften Möglichkeit eines im Einzelfall atypischen Geschehensablaufs überzeugt.
364 BGH NJW 1992, 1967 (1967 f.); BGH NJW 1991, 2707 (2709).
365 BGH MDR 2003, 1365 (1365).
366 Vgl. Kiethe, MDR 2003, 1325 (1325, 1328).
367 BGH NJW-RR 1991 888 (891); BGH NJW 1972, 249 (249).
368 Vgl. MüKo-ZPO-Peters, 2. Aufl., § 138, Rn. 9.
369 BGH NJW 1998, 79 (80).
370 Jauernig, Zivilprozessrecht, 28. Aufl., S. 210.
371 Stein/Jonas-Leipold, 21. Aufl., § 286, Rn. 87; MüKo-ZPO-Prütting, 2. Aufl., § 286, Rn. 48.
372 Zurückgehend auf RG, JW 1900, 665; BGHZ 2, 1 (5); Zur Entwicklung ausführlich Kollhosser,
Anscheinsbeweis, 1963, 26 ff.
373 Vgl. BGH NJW 2006, 300, 301; BGH NJW 2005, 2395, 2398; BGH NJW 1987, 2876 (2877).
374 BGH NJW 1998, 79 (81).
375 BGH NJW 1998, 79 (81); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 770.
§ 3 Der Standpunkt der Rechtsprechung zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
103
Gelingt ihm dies, muß der Beweisführer - entsprechend der bei ihm verbliebenen
Beweislast - den unmittelbaren Beweis für die behauptete Tatsache erbringen.
Praktische Bedeutung erlangt der Anscheinsbeweis beim Nachweis eines Kausalzusammenhangs376 oder des Verschuldens377 im Rahmen der Geltendmachung
gesetzlicher oder vertraglicher Schadensersatzansprüche, da Verkehrsanschauung
und Lebenserfahrung für beide Tatbestandsmerkmale erhebliche Bedeutung haben378. Für den in Informationsnot befindlichen Beweisführer hat die Anwendung
des Anscheinsbeweises im Ergebnis eine Absenkung der Anforderungen an seine
Darlegungs- und Substantiierungslast zur Folge. Er kann sich, ohne genaue Kenntnis etwa eines haftungsbegründenden Kausalzusammenhangs mit einer "Irgendwie"-Behauptung379 behelfen, solange ein entsprechender Erfahrungssatz den
Schluß auf die aufgestellte Behauptung zu rechtfertigen vermag und geeignet ist, die
volle richterliche Überzeugung von der Wahrheit der behaupteten Tatsache herbeizuführen. Allerdings darf auch diese Art der richterlichen Überzeugungsbildung
nach der Rechtsprechung nicht dazu dienen, Lücken der Beweisführung durch
bloße, "aus der Luft gegriffene Vermutungen" auszufüllen380. In der Praxis wird
freilich eine solche Vermutungsbasis schon nicht geeignet sein, das Gericht in
Verbindung mit einem Erfahrungssatz zu überzeugen.
III. Stellungnahme
Die Rechtsprechung ist trotz ihres Festhaltens am Primat materiell-rechtlicher
Informationsansprüche in einer Vielzahl von Fällen bereit, der risikobelasteten
Partei über ihre unverschuldete Informationsnot hinwegzuhelfen. Dem selbst propagierten Vorrang des materiellen Rechts trägt sie dadurch Rechnung, daß sie in
erster Linie versucht, bestehenden Informationsansprüchen des materiellen Rechts
weiten Raum für eine Anwendung zu geben. Darüber hinaus gewährt sie einen auf
Treu und Glauben gestützten Anspruch für Fälle, in denen das materielle Recht
keine speziellen Ansprüche vorsieht, denen jedoch eine ähnliche Interessenlage
zugrunde liegt wie dort, wo das Gesetz entsprechende Ansprüche einräumt. Hielte
die Rechtsprechung kategorisch an ihrem Grundsatz fest, die Gewährung und
Schaffung von Informationsansprüchen sei Aufgabe des materiellen Rechts, müßte
sie an dieser Stelle ihre Bemühungen einstellen. Die hohen Anforderungen, die das
Prozeßrecht an die Parteien in Bezug auf die Beibringung des streitrelevanten Tatsachenmaterials stellt und die starre Güterzuordnung des materiellen Rechts stehen
hier in einem Konflikt, der stets zugunsten der nicht risikobelasteten Partei gelöst
werden müßte, sobald das materielle Recht keinen Anspruch auf Information vorsieht. Dennoch versucht die Rechtsprechung diesen Konflikt häufig zugunsten der
risikobelasteten Partei zu lösen, die andernfalls nicht in der Lage wäre, ihr berech-
376 Vgl. BGH NJW 1989, 1533 (1534).
377 Vgl. BGH NJW-RR 1989, 670 (671).
378 Stein/Jonas-Leipold, 21. Aufl., § 286, Rn. 95.
379 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 770.
380 BGH NJW 62, 31 (31).
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
104
tigtes Rechtsschutzziel zu erreichen. Ohne das Bestehen originär prozessualer
Informationsansprüche anzuerkennen, zwingt sie die nicht risikobelastete Partei
mittelbar zur Mitwirkung, indem sie die prozessualen Anforderungen an den Beweisführer in Bezug auf die Darlegung und den Beweis von Tatsachenbehauptungen herabsetzt. De facto entsteht so eine einzelfallbezogene Mitwirkungspflicht der
nicht risikobelasteten Partei, die ihre Wirksamkeit allein aus dem Prozeßrecht bezieht.
Natürliche Grenzen dieser Mitwirkungspflicht bilden in erster Linie die Kategorie des Rechtsmißbrauchs sowie das Überschreiten der Zumutbarkeitsschwelle.
Wer die Mitwirkung des Prozeßgegners in Anspruch nehmen will, um erstmals
Anhaltspunkte für das Bestehen eines behaupteten Anspruches zu gewinnen, darf
nicht darauf hoffen, daß die Anforderungen des Prozeßrechts zu seinen Gunsten
gesenkt werden. Voraussetzung bleibt wenigstens eine solide Vermutungsbasis der
darlegungsbelasteten Partei, die sie in die Lage versetzt, einen schlüssigen, wenn
auch nicht im einzelnen substantiierten Vortrag abzugeben. Auch wo anerkennenswerte Interessen des Beweisgegners an der Verweigerung der Mitwirkung
bestehen, die mindestens genauso gewichtig erscheinen wie das Interesse des Beweisführers an Information, bleiben der beweisbelasteten Partei prozessuale Hilfestellungen verwehrt. Beides ist grundsätzlich jedoch kein "Fehler" der Rechtsprechung. Die Bewahrung der bestehenden Rechtsgüterzuordnung im Interesse des
Rechtsfriedens mag in Deutschland vergleichsweise stark ausgeprägt sein und die
Schwelle des für den Beweisgegner nicht mehr Zumutbaren in Einzelfällen als
erstaunlich niedrig erscheinen lassen. Dieses Phänomen muß jedoch als bewußte
rechtspolitische Grundentscheidung, die sich in der Ausgestaltung des materiellen
Rechts manifestiert, hingenommen werden. Wer sich eine Verschiebung in der
Gewichtung der widerstreitenden Interessen wünscht, sollte die Verantwortung bei
der Legislative und nicht bei den Gerichten suchen.
Problematisch erscheint dagegen, daß die Rechtsprechung die Voraussetzungen,
unter denen sie eine Absenkung der prozessualen Anforderungen an den Beweisführer vornimmt, im vorhinein so abstrakt wie möglich bestimmen muß, um den
Eindruck willkürlicher Entscheidungsfindung zu vermeiden und den Erfolg bei der
Durchsetzung privater Rechte nicht vollends unprognostizierbar werden zu lassen.
Mit der Bildung von Fallgruppen und formelhafter Voraussetzungen für das Eingreifen prozessualer Hilfestellungen haben die Gerichte allerdings ihr derzeit Möglichstes getan. Starren Regeln für die Umkehr der Beweislast in bestimmten Fällen,
etwa beim Nachweis ärztlicher Behandlungsfehler, hat das Bundesverfassungsgericht381 eine Absage erteilt, indem es darauf bestanden hat, die grundsätzliche Bedeutung der Beweislastentscheidungen des materiellen Rechts zu respektieren. Die
mitunter als unbefriedigend kritisierte382 dogmatische Verarbeitung ihrer Lösungsansätze sollte der Rechtsprechung daher nicht vorschnell zum Vorwurf gemacht
werden, zumal dogmatische Verarbeitung primär Aufgabe der Wissenschaft ist und
für die Gerichte nur von untergeordneter Bedeutung sein kann. Das Beharren der
381 BVerfG NJW 1979, 1925 (1925 f.).
382 Vgl. hierzu sogleich unten Zweiter Teil.§ 4A.
§ 4 Die Auffassungen im Schrifttum zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
105
Rechtsprechung auf weitestgehender Flexibilität beim Einsatz ihrer prozessualen
Hilfestellungen legt zwar den Verdacht nahe, daß eine Festlegung auf genau umschriebene Voraussetzungen bewußt vermieden werden soll; es muß allerdings
berücksichtigt werden, daß Wissenschaft und Rechtsprechung an dieser Stelle nur
vermeintlich übereinstimmende Ziele verfolgen. Während die Wissenschaft nach
dogmatisch fundierter Lösung trachtet, liegt das Aufstellen starrer Regeln naturgemäß nicht im Interesse der Gerichte, die im Einzelfall gerechte Entscheidungen zu
treffen haben. Solange das geschriebene Zivilrecht in Deutschland daher am Primat
des materiellen Rechts festhält und selbst dort die Informationsbeschaffung zurückhaltend regelt, gebührt der Rechtsprechung Anerkennung für den Spagat zwischen der Berücksichtigung gesetzgeberischer Grundentscheidungen und der
Schaffung von Gerechtigkeit im Einzelfall.
§ 4 Die Auffassungen im Schrifttum zur Informationsbeschaffung im
Zivilprozeß
A. Kritik am Lösungsansatz der Rechtsprechung
In der Literatur werden die Bemühungen der Rechtsprechung, die Mitwirkungspflichten der Parteien bei der Sachverhaltsaufklärung über die gesetzlichen Ansprüche des materiellen Rechts hinaus zu erweitern, nahezu einhellig begrüßt. Mitunter
heftige Kritik erfährt die Rechtsprechung jedoch im Hinblick auf die angewandte
Methode. Die Ansätze zur Überwindung unverschuldeter Informationsnot werden
vielfach als "Flickwerk"383 betrachtet, das inzwischen zu einem "undurchdringlichen Wildwuchs verschiedenartiger Pflanzen, die sich ständig neu kreuzen und
quer durchdringen"384, geführt habe. Die Rechtsprechung "bastle unbeholfen am
Einzelfall"385, ohne eine allgemeine und tragfähige systematische Lösung zu entwickeln. Sie wolle letztlich ein "kaum in Regeln faßbares richterliches Fallrecht"
erhalten386, dem es an "dogmatischer Kontur fehle"387. Die Kernpunkte der Kritik
lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Voraussetzung dafür, daß die Passivität der nicht beweisbelasteten Partei im
Rahmen der Sachverhaltsaufklärung im Prozeß nachteilig gewürdigt werden könne,
sei das Bestehen eines entsprechenden Handlungsgebots388. Wenn die Rechtsordnung aber keine Pflicht zu aktiver Unterstützung des Prozeßgegners anerkenne,
dann könne dessen Untätigkeit auch nicht sanktioniert werden. Die von den Gerichten praktizierten Sanktionen, etwa in den Fällen der Beweisvereitelung, seien
daher dogmatisch kaum begründbar. Wegen der fehlenden Anerkennung einer
383 Schlosser, JZ 1991, 599 (603); Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (60).
384 Schlosser, JZ 1991, 599 (599).
385 Schlosser, Zivilprozeßrecht I, 2. Aufl., Rn. 428.
386 Stürner, ZZP 104 (1991), 208 (210).
387 Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (59).
388 Peters, FS-Schwab, 1990, 399 (403 f., 407); Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976,
85 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.