§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
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Vernehmung der Prozeßparteien, wobei ein drohender Vermögensnachteil ausdrücklich ausgenommen ist. Die Prozeßparteien können darüber hinaus gem. § 305
ÖZPO die gerichtlich angeordnete Vorlage von Urkunden und Augenscheinsgegenständen, auf die sie nicht selbst Bezug genommen haben und auf deren Einsicht
der Gegner keinen Anspruch hat, auch dann verweigern, wenn die Vorlage mit der
Offenbarung einer Familienangelegenheit verbunden wäre, zu einer Ehrenpflichtverletzung führen würde oder andere gleichwertige Gründe vorliegen696. Dritten
kommen diese in § 305 ÖZPO genannten Weigerungsrechte nicht zugute, da sie
zur Vorlage anderer Urkunden im Sinne dieser Vorschrift ohnehin nicht verpflichtet sind.
E. Zusammenfassung und Stellungnahme
Der Blick auf das Beweisrecht der genannten Rechtsordnungen läßt ein deutliches
Gefälle in der Ausprägung der Informationsfreundlichkeit erkennen. An der Spitze
steht wenig überraschend der U.S.-amerikanische Prozeß, der im Rahmen des
pretrial discovery-Verfahrens die weitestgehenden Informations- und Editionspflichten gegenüber Parteien und Dritten bereit hält und den Parteien kaum eine Möglichkeit läßt, Beweismittel, über die sie selbst verfügen, zurückzuhalten, um damit
den Prozeßausgang zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Während in Europa außerdem von vornherein rechtsgebundene Sachverhaltsaufklärung vorherrscht, ermöglicht das amerikanische pretrial Verfahren Sachverhaltserforschung völlig losgelöst
von den im trial zu behandelnden Rechtsfragen697.
Auch der englische Zivilprozeß orientiert sich durch die Pflicht zum unaufgeforderten Offenbaren von Beweismitteln stärker als die ZPO am Prozeßzweck der
Wahrheitsermittlung. Die allgemeine Vorlagepflicht für Urkunden ermöglicht den
Parteien wesentlich weitergehende Möglichkeiten der Beweisführung als hierzulande üblich. Selbst die Prozeßgesetze Frankreichs und Österreichs gewähren in Bezug
auf Urkunden mehr Zugriffsrechte für die Parteien als die ZPO. Grundsätzlich
müssen die Parteien in beiden Ländern auf Antrag des Prozeßgegners Urkunden
unabhängig vom Bestehen materiell-rechtlicher Einsichtsansprüche und ungeachtet
der Beweislast herausgeben. Auch Dritte sind von der Pflicht zur Vorlage von
Dokumenten grundsätzlich nicht befreit. Das Schutzniveau zugunsten des Vorlageschuldners ist dabei in Österreich noch etwas höher als in Frankreich, wo die Anerkennung von Zurückhaltungsinteressen in weiten Bereichen dem Ermessen des
Gerichts überlassen ist.
Die Prozeßgesetze angelsächsischer Tradition legen die Aufklärung des Sachverhaltes überwiegend in die Hände der Parteien und statuieren hierfür umfassende
Aufklärungspflichten, während die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen
Frankreichs und Österreichs wie die deutsche ZPO eher auf gerichtliche Aufklärung setzen. Daß Letzteres im Interesse der Wahrheitsfindung durchaus effektiv
696 Kritisch zum Umfang dieser Weigerungsrechte Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135 (141).
697 Stürner, FS-Stiefel, 1987, 763 (766).
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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sein kann, belegt das Beispiel Frankreichs, wo weitreichende Vorlagepflichten der
Parteien und Dritter sowohl durch parteibetriebene Beweisaufnahme als auch
durch richterliche Beweisinitiative entstehen können. Die Vorlage selbst findet dort
stets vor dem Richter statt, was im Einzelfall eine individuelle Abwägung der entgegenstehenden Interessen der Parteien gewährleistet. Durch die richterliche Erforschungspflicht verwirklicht der österreichische Zivilprozeß das geringste Maß an
Parteienverantwortlichkeit und stellt im hier angestellten Vergleich den größten
Gegensatz zu den Prozeßordnungen der USA und Englands dar. Selbst in Österreich herrscht jedoch kein reiner Inquisitionsprozeß, was angesichts eines fehlenden Ermittlungsapparats der Gerichte auch gar nicht praktikabel wäre. Wie in
Deutschland sind es auch dort die Parteien, die in erster Linie die Verantwortung
für die Beibringung und den Beweis der streitentscheidenden Tatsachen tragen.
Richterliche Beweisinitiativen haben insoweit nur "komplementären Charakter"698,
berechtigen und verpflichten den österreichischen Richter aber weitergehend als
den deutschen. Im Hinblick auf die Gewichtung der Arbeitsteilung zwischen Parteien und Gericht läßt sich außerdem feststellen, daß die meisten europäischen
Rechtsordnungen die richterliche Aktivität in den letzten Jahrzehnten gestärkt
haben699. Der deutsche Gesetzgeber befindet sich mit der Erweiterung der Vorlagepflichten durch Stärkung der richterlichen Prozeßleitungsbefugnis insoweit also
in "guter Gesellschaft".
Nur in England und Frankreich existiert bisher die Möglichkeit, die nicht beweisbelastete Partei mit Zwangsmitteln zur Mitwirkung bei der Beweisführung zu
bewegen. In den übrigen europäischen Rechtsordnungen700 bringt eine Weigerung
lediglich prozessuale Nachteile mit sich. Die in der gerichtlichen Praxis herrschende
Zurückhaltung bei der Sanktionierung verweigerter Mitwirkung gegenüber Parteien
zeigt jedoch, daß die Androhung prozessualer Nachteile nicht gering geschätzt
werden muß. Gerade dort, wo es für die Parteien um besonders viel geht, können
sie geneigt sein, um den Preis der Inkaufnahme von Ordnungsstrafen gebotene
Mitwirkung zu verweigern. Der infolge negativer Würdigung drohende Prozeßverlust scheint daher als Sanktionsmittel gegenüber den Parteien durchaus sachgerecht
und zeitgemäß.
Wie weitgehend ein Prozeßrecht Parteien und Dritte zur Vorlage von Beweismitteln verpflichtet, bestimmt sich - trotz des Bestehens entsprechender Pflichten großenteils danach, welche Weigerungsrechte dem Verpflichteten eingeräumt werden. Auch in dieser Frage bleibt der amerikanische Prozeß seiner strikt auf Wahrheitsermittlung ausgerichteten Linie treu. Weigerungsrechte sind dort die Ausnahme und ihre Inanspruchnahme schützt zudem nicht immer vor negativer Würdigung durch das Gericht. Auch in England und Frankreich geht man beim Schutz
des Vorlageverpflichteten nicht so weit wie hierzulande. Der englische Prozeß
bietet dafür die Möglichkeit, die Parteien von Teilen der Beweisaufnahme auszu-
698 Stürner, FS-Stoll, 2001, 691 (698).
699 Stadler, FS-Beys, 2003, 1625 (1636).
700 Allgemein für die hier nicht angesprochenen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen Stürner,
FS-Stoll, 2001, 691 (700 f.).
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schließen, was insbesondere in Deutschland und Österreich bisher nicht praktiziert
wird. Das hierzulande übliche hohe Schutzniveau zugunsten der nicht risikobelasteten Partei zeigt sich auch bei der Beurteilung der Frage, wann eine unzulässige
Ausforschung einer Prozeßpartei oder eines Dritten anzunehmen ist. Während in
England nur die sog. Beweisfischzüge verpönt sind und selbst in Österreich Beweisanträge "auf gut Glück" nicht zurückgewiesen werden, ist das Maß erforderlicher Substantiierung in Deutschland vergleichsweise hoch.
Der Versuch, die Prozeßrechte der hier erwähnten Länder für die Interpretation
des eigenen Rechts nutzbar zu machen, muß stets die grundsätzlichen Unterschiede
der jeweiligen Rechtsordnungen im Auge behalten. Vor diesem Hintergrund kann
bereits an dieser Stelle festgestellt werden, daß die Erweiterung der deutschen Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände mit discovery im Sinne des
amerikanischen Zivilprozesses ebenso wenig zu tun hat wie mit einer gegenseitigen
Pflicht zur ungefragten Offenbarung von Beweismitteln nach dem Vorbild des
englischen Rechts. Die §§ 142, 144 ZPO n.F. statuieren in kontinentaleuropäischer
Tradition Vorlagepflichten gegenüber dem Gericht und keine gegenseitigen Parteipflichten. Ein anderes, schon mit der Gesetzessystematik schwer vereinbares Verständnis dieser Normen würde wegen der damit verbunden Abkehr von der bisher
in Deutschland und Kontinentaleuropa herrschenden Rechtstradition einen erkennbaren Änderungswillen des Gesetzgebers voraussetzen. Die angestrebte Angleichung an die Prozeßordnungen der europäischen Nachbarstaaten ist deshalb in
erste Linie in der erweiterten Möglichkeit der Inanspruchnahme Dritter zu sehen.
Inwieweit mit der Reform auch die Prozeßparteien in größerem Umfang als zuvor
Urkunden und Augenscheinsgegenstände vorzulegen haben und durch die Reform
2001 auch insofern eine Annäherung an benachbarte Rechtsordnungen stattgefunden hat, soll im nun folgenden dritten Teil dieser Arbeit untersucht werden.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.