Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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allgemeinen Aufklärungspflicht sei der Ausgang eines Rechtsstreits für die Parteien
zudem kaum mehr prognostizierbar389. Das vielfältige Instrumentarium, dem sich
die Rechtsprechung in Gestalt von Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr bediene, führe in Zusammenhang mit den zahlreichen Ansprüchen auf
Informationsverschaffung im materiellen Recht zu einer unübersichtlichen und
komplexen dogmatischen Gemengelage390, die widersprüchliche und unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht nachvollziehbare gerichtliche Entscheidungen hervorbringe.
Der Grundsatz vom Primat materiell-rechtlicher Informationsansprüche sei
nicht mehr zeitgemäß. Eine Reihe von Fallgestaltungen, in denen ausbleibende
Mitwirkung trotz Fehlens einer entsprechenden Pflicht bereits heute sanktioniert
werde, könne auch in Zukunft über die Schaffung neuer materiell-rechtlicher
Pflichten nicht erfaßt werden. So seien materiell-rechtliche Pflichten, die darauf
abzielten, Zeugen zu benennen oder von ihrer Verschwiegenheitspflicht zu entbinden, sich körperlich untersuchen zu lassen oder Beweismittel zu erhalten, kaum
vorstellbar, weil es sich hierbei um rein prozessuale Sachverhalte handle 391. Mit den
Mitteln der sekundären Behauptungslast sowie über die Grundsätze der Beweisvereitelung habe die Rechtsprechung de facto bereits eine prozessuale Aufklärungspflicht der nicht beweisbelasteten Partei geschaffen, ohne eine solche aber grundsätzlich anzuerkennen392.
B. Die Lehre von der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der
Parteien
Die Frage nach der Reichweite sowie der richtigen Verortung von Mitwirkungspflichten der nicht risikobelasteten Partei im Prozeß beschäftigt die Prozeßwissenschaft bereits seit Jahrzehnten. Den im wissenschaftlichen Schrifttum bis heute
nachhaltigsten Lösungsvorschlag lieferte Mitte der Siebziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts Rolf Stürner mit seiner Habilitationsschrift393. Anknüpfend an die
Erwägungen von Fritz v. Hippel394 und Egbert Peters395 hat er den vielbeachteten
Versuch unternommen, eine bereits de lege lata bestehende, vom materiellen Recht
unabhängige allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht der nicht darlegungs- und
beweisbelasteten Partei im Zivilprozeß auf Basis eines Analogieschlusses zu begründen. Danach ist die nicht beweisbelastete Partei in der Regel zur Mitwirkung
bei der Aufklärung des Sachverhaltes verpflichtet, falls keine besonderen Gegeninteressen ihre Passivität rechtfertigen396.
389 Peters, FS-Schwab, 1990, 399 (406).
390 Wagner, ZEuP 2001, 441 (467).
391 Stürner, ZZP 98 (1985), 237 (245).
392 Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (58); Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 299; ähnlich
Peters, FS-Schwab, 1990, 399 (406).
393 Stürner, Die Aufklärungspflicht, 1976.
394 Vgl. v. Hippel, Wahrheitspflicht, 1939.
395 Peters, Ausforschungsbeweis im Zivilprozeß, 1966; ders., ZZP 82 (1969), 200 ff.
396 Stürner, ZZP 104 (1991), 208 (212).
§ 4 Die Auffassungen im Schrifttum zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Bis heute blieb dieser Lehre in Rechtsprechung397 und einem Großteil des wissenschaftlichen Schrifttums398 die Gefolgschaft verwehrt. Dennoch rechtfertigen
zwei Gesichtspunkte an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit der Position Stürners. Zum einen hat sich die Zahl derer, die dem Gedanken einer allgemeinen und
umfassenden prozessualen Aufklärungspflicht zumindest aufgeschlossen gegenüberstehen, in den vergangenen Jahren merklich erhöht399. Zum anderen stellt sich
im Hinblick auf die Reform 2001 die Frage, inwieweit der Gesetzgeber sich diesem
Konzept möglicherweise genähert hat. Letzteres ist für die Bestimmung von Inhalt
und Reichweite der modifizierten Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände von besonderem Interesse.
I. Die Herleitung der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht
Stürner geht davon aus, daß der Justizgewährungsanspruch, hergeleitet aus Art. 2
Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, einen primär auf Wahrheitsfindung
ausgerichteten Zivilprozeß garantiert400. Zweck des Zivilprozesses sei Individualrechtsschutz durch Wahrheitsfindung401. Da beiden Parteien ein Anspruch auf
Rechtsdurchsetzung zukomme, müsse ein Verfahren geschaffen werden, in dem
der wahre Sachverhalt aufgeklärt werde und in dem grundsätzlich alle verfügbaren
Aufklärungsmittel herangezogen werden können402. Auf eine Blockade von Wahrheit liefe es daher hinaus, wenn man die grundsätzliche Pflicht zu einem Verhalten
leugnete, das der Wahrheitsfindung am besten dient, obwohl besondere Gegeninteressen nicht dargetan sind403. Die wenigen Vorschriften der ZPO, die eine Mitwirkung der nicht beweisbelasteten Partei bei der Sachverhaltsaufklärung vorsehen
(§§ 138, 423, 445 ff., 372a, 654 ff. ZPO), zieht Stürner deshalb für einen Analogieschluß heran. Er geht im Hinblick auf eine allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht von einer Gesetzeslücke aus, die durch weite und aufklärungsfreundliche
Auslegung dieser bestehenden Normen zu schließen sei. Von der Planwidrigkeit
397 Dezidiert BGH NJW 1990, 3135 (3135 f.) sowie erst jüngst BGH NJW 2007, 155, 156.
398 Arens, ZZP 96 (1983), 1 ff.; Stein/Jonas-Leipold, 22. Aufl., § 138, Rn. 26 f.; Gottwald, ZZP 92
(1979), 366 ff.; Lüke, JuS 1986, 2 ff; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, 137 ff;
Vorwerk, MDR 1996, 870 ff.; Winkler v. Mohrenfels, Abgeleitete Informationsleistungspflichten,
1986, 21 ff.; Thomas/Putzo-Reichold, 28. Aufl., § 138, Rn. 12; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 120
(2007), 518 (519).
399 Vgl. etwa Henckel, ZZP 92, (1979), 100 ff.; Schlosser, Zivilprozeßrecht I, 2. Aufl, Rn. 426 ff.; ders.
JZ 1991, 599 ff.; AK ZPO-Schmidt, § 138, Rn. 5, 17 ff.; Katzenmeier, JZ 2002, 533 (538 ff.); Waterstraat, ZZP 118 (2005), 459 (472 ff.); Wagner, ZEuP 2001, 441 (470 f.); Musielak-Stadler, 5. Aufl.,
§ 138, Rn. 11; Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 93 ff., 265 f.; Lorenz, ZZP 111 (1998),
35 (43 ff.); MüKo-ZPO-Peters, 2. Aufl., § 138, Rn. 22; ders., FS-Schwab, 1990, 399 ff.; Paulus, ZZP
104 (1991), 397 (409).
400 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 31 ff.
401 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 48 ff. (56).
402 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 42 ff.
403 Stürner, ZZP 104 (1991), 208 (216).
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dieser Regelungslücke sei zwar nicht beim historischen Gesetzgeber404, wohl aber
beim gegenwärtigen auszugehen. Die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgewährleistung fordere die volle Wahrheitserforschung unter Einbeziehung des Prozeßgegners405. Es sei dabei nicht Aufgabe des Richters, den Parteien im Rahmen seiner
Prozeßleitungsbefugnisse bestimmte Aufklärungsbeiträge zuzuweisen; vielmehr
müßten Voraussetzungen, Inhalt und Grenzen der prozessualen Aufklärungspflicht
unabhängig von der richterlichen Aktivität festgelegt und die Parteien untereinander zu entsprechender Aufklärung verpflichtet werden. Richterliche Beweisinitiativen könnten die Parteienaktivität allenfalls fördern und im Sinne einer Beschleunigung vorwegnehmen406.
II. Voraussetzungen und Inhalt der Aufklärungspflicht
Stürner möchte die Substantiierungslast auf eine Last zum (lediglich) plausiblen
Tatsachenvortrag herabsetzen. Den Hauptzweck der den Parteien auferlegten Substantiierungslast sieht er im Schutz des Gegners und der Rechtspflegeorgane vor
rechtsmißbräuchlicher Verfahrenseinleitung. Dieser Gefahr könne durch ein Festhalten am Substantiierungserfordernis in Gestalt einer Plausibilitätskontrolle ausreichend effektiv begegnet werden. Die Plausibilität des Vortrags ergibt sich für Stürner entweder aus schlüssigem substantiiertem Vortrag oder, bei typischer Sachverhaltsunkenntnis, aus Anhaltspunkten, welche die aufgestellte Rechtsbehauptung
als möglich erscheinen lassen407. Typische Unkenntnis sei in der Regel bei solchen
tatsächlichen Vorgängen anzunehmen, die sich im Geschäftsbereich des Prozeßgegners abspielen oder im fremden Persönlichkeitsbereich liegen408. Ist es der darlegungsbelasteten Partei einmal gelungen, ihr Rechtsschutzziel plausibel darzulegen,
soll der Gegner verpflichtet sein, alle denkbaren und zumutbaren Aufklärungsbeiträge zu leisten. Neben der reinen Auskunft in Gestalt einer Wissenserklärung soll
ohne weiteres auch die Vorlage von Urkunden und sonstigen Gegenständen über
die gesetzlich geregelten Fälle der §§ 422, 423 ZPO hinaus, die Duldung des Augenscheins sowie die Auskunft über Existenz und Verfügbarkeit von sonstigen
Beweismitteln geschuldet werden409. Bleibt unklar, ob der Gegner überhaupt Möglichkeiten zur Aufklärung und Mitwirkung hat, müsse über eine evtl. Pflichtverletzung ähnlich der in §§ 426, 427 ZPO vorgesehenen Weise Beweis erhoben werden410.
Als einheitliche Sanktion für die vorwerfbare Verweigerung geschuldeter Mitwirkung schlägt Stürner in Anlehnung an die §§ 138 Abs. 3, 427 S. 2, 444, 446 ZPO
404 Die in dieser Beziehung äußerst zurückhaltende Urfassung der CPO von 1877 bezeichnet Stürner
als historische Momentaufnahme, die heute nicht mehr überbewertet werden dürfe, ZZP 98
(1985), 237 (244).
405 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 46 f.
406 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 62 ff.
407 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 123 ff.
408 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 119 ff.
409 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 134 ff.
410 Stürner, ZZP 98 (1985), 237 (253).
§ 4 Die Auffassungen im Schrifttum zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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die Fiktion der Wahrheit des unsubstantiierten Tatsachenvortrags der risikobelasteten Partei vor411, soweit dies freier richterlicher Überzeugung nicht widerspricht412.
Diese einheitliche Rechtsfolge führe zu einer besseren Berechenbarkeit der gerichtlichen Entscheidung als die vielfältigen Sanktionsmöglichkeiten (Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr), denen sich die Rechtsprechung regelmäßig
bediene.
III. Grenzen und Weigerungsrechte
Lediglich bei Betroffenheit besonders hochrangiger Rechtsgüter auf Seiten des
Verpflichteten soll die Mitwirkungspflicht ihre Grenze finden413. Weigerungsrechte
sind nur in sehr beschränktem Maße vorgesehen. Am weitesten geht Stürner hierbei beim Schutz der aufklärungspflichtigen Partei vor Verletzungen ihrer Unternehmensgeheimnisse414. Hier sei der nicht beweisbelasteten Partei eine uneingeschränkte Aufklärung nicht zuzumuten. Nur wenn der Beweisführer in eine Art
"Geheimverfahren" einwillige, das ihn von der Kenntnisnahme der vom Gegner
mitgeteilten Tatsachen ausschließe, sei der geforderte Aufklärungsbeitrag zumutbar415. Die Betroffenheit des Persönlichkeitsrechts der aufklärungspflichtigen Partei
soll die Weigerung dagegen nur dann rechtfertigen, wenn es um den unantastbaren
inneren Lebensbereich gehe416. Die Offenbarung ehrenrühriger Tatsachen oder gar
die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung können die aufklärungspflichtige Partei
grundsätzlich nicht von ihrer Mitwirkungspflicht befreien417.
IV. Vorprozessuale Wirkungen
Wenn die konkrete Gefahr eines künftigen Prozesses und die Bedeutung des Beweismittels für einen solchen Prozeß der künftigen Partei erkennbar ist, soll eine
entsprechende Pflicht, Beweismittel zu erhalten, sogar bereits vor dem Prozeß
bestehen, womit von der Lehre insbesondere die Fälle vorprozessualer Beweisvereitelung erfaßt werden sollen418.
411 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 242 ff.
412 Stürner, ZZP 98 (1985), 237 (253).
413 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 208 ff.
414 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 208 ff.
415 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 223 ff.
416 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 193 ff.
417 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 174 ff.
418 Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien, 1976, 152 ff.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
110
V. Kritik der Literatur
Im wissenschaftlichen Schrifttum wurde die Lehre von der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht zunächst überwiegend und zum Teil heftig419 kritisiert. Sie
passe nicht in das System des geltenden Zivilprozeßrechts420 und führe zu einer mit
der Beibringungsmaxime nicht zu vereinbarenden Stärkung der Richtermacht421.
Problematisch sei zudem, daß das Gericht die Einhaltung des Plausibilitätserfordernisses sowie die Vorwerfbarkeit der Pflichtverletzung des Beweisgegners genau
zu prüfen habe, um zur Sanktion der Wahrheitsfiktion gelangen zu können. Dies
sei umständlich, überlasse zu vieles richterlicher Würdigung und ermögliche keine
kalkulierbare Prozeßführung422. Schließlich werde die starre einheitliche Sanktion
der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht gerecht423 und führe faktisch zu
einer Umkehr der Beweislast.
Kritik wurde auch am von Stürner vorausgesetzten Wahrheitszweck des Zivilprozesses sowie an der dogmatischen Herleitung der allgemeinen prozessualen
Aufklärungspflicht geübt. Die Wahrheit sei nur ein Zwischenziel des Prozesses,
weil es nicht allein darauf ankomme, ob dem Urteil tatsächlich der wahre Sachverhalt zugrunde gelegt werde. Mindestens genauso wichtig sei es, daß die Wahrheit
verfahrensgemäß ermittelt werde424. Das Ziel der Wahrheit dürfe nicht verabsolutiert werden, sie sei zwar erwünschtes, nicht aber verbürgtes Ziel des Zivilprozesses425. Überdies sei die Analogiebasis zu schmal426, insbesondere die Vorschriften
der §§ 372a und 654 ZPO könnten als evidente Sonderregeln des Prozeßrechts
nicht für eine Analogie fruchtbar gemacht werden.
Letztlich, so manche Kritiker der Lehre, fehle es auch an einem praktischen Bedürfnis für die Anerkennung einer solchen Pflicht. Die meisten Fälle, die Stürner
beispielhaft heranziehe, ließen sich unter Heranziehung materiell-rechtlicher Auskunftsansprüche befriedigend lösen, insbesondere mit Hilfe des von der Rechtsprechung geschaffenen Auskunftsanspruches aus Treu und Glauben427. Darüber hinaus habe die Rechtsprechung mit dem von ihr entwickelten Institut der sekundären
Behauptungslast die Möglichkeit geschaffen, durch das materielle Recht entstehende Unbilligkeiten zu vermeiden428.
419 Dezidiert Arens, ZZP 96 (1983), 1 ff.
420 Arens, ZZP 96 (1983), 1 (18).
421 Arens, ZZP 96 (1983), 1 (18 ff.).
422 Arens, ZZP 96 (1983), 1 (16 f.).
423 Arens, ZZP 96 (1983), 1 (24).
424 Brehm, Die Bindung des Richters, 1982, 27; Ahrens, ZZP 96 (1983), 1 (12); a.A. Lorenz, ZZP 111
(1998), 35 (36).
425 Stein/Jonas-Schuhmann, 21. Aufl., Einl., Rn. 21.
426 Schlosser, Zivilprozeßrecht I, Rn. 428; jüngst Prütting, AnwBl. 2008, 153 (157).
427 Arens, ZZP 96 (1983), 1 (21 f.).
428 Gottwald, ZZP 92 (1979), 364 (368).
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VI. Stellungnahme
Die Lehre Stürners läßt sich mit den Worten Wolfram Henckels429 als Versuch verstehen, die Wirklichkeit des Prozesses auch insoweit in das von Stürner entwickelte
System des Prozeßrechts zu integrieren, als dieses System überkommenen dogmatischen Prämissen widerspricht. Die unter methodischen Gesichtspunkten nicht
ganz zu Unrecht kritisierte Rechtsprechung, die die risikobelastete Partei im Falle
unverschuldeter Informationsnot mit Hilfe von Beweiserleichterungen bis hin zur
Beweislastumkehr unterstützt, würde obsolet. Die allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht ließe zudem eine nicht unerhebliche Verfahrensbeschleunigung erwarten, weil die Durchsetzung von Informationsansprüchen in separaten, dem Rechtsstreit über die Hauptforderung vorgeschalteten Prozessen entfiele. Non-liquet-
Entscheidungen wären seltener an der Tagesordnung als bisher und die breitere
Aufklärungsbasis im Prozeß könnte eine höhere Akzeptanz erstinstanzlicher Entscheidungen herbeiführen, die gleichzeitig mit einer Reduzierung der chronischen
Überlastung der Rechtsmittelgerichte einherginge.
Der Versuch ist jedoch - was die Intention der Anerkennung einer allgemeinen
prozessualen Aufklärungspflicht de lege lata betrifft - bis zur Reform im Jahr 2001
als gescheitert anzusehen. Den vorläufigen "Dolchstoß" erhielt die Lehre mit einer
Entscheidung des BGH430 aus dem Jahre 1990, in der sich das Gericht mit der
Lehre Stürners auseinanderzusetzen hatte. Ob eine Partei Ansprüche gegen die
andere auf Erteilung von Auskünften, Rechnungslegung, Herausgabe von Unterlagen usw. hat, so der BGH, sei eine Frage des materiellen Rechts. Eine allgemeine
Aufklärungspflicht kenne das materielle Recht jedoch nicht und es sei nicht Aufgabe des Prozeßrechts, eine solche einzuführen431. In der prozessualen Rechtswirklichkeit - sofern man diese durch die gerichtliche Praxis bestimmt sah - blieb der
allgemeinen Aufklärungspflicht nach dem Modell Stürners die Gefolgschaft stets
versagt. Ob sie auf dem langen "Marsch durch die juristischen Institutionen"432
inzwischen in der Realität der Gesetzgebung angekommen ist, wird noch zu klären
sein. Das Verdienst der Lehre ist für die Entwicklung des deutschen Zivilprozeßrechts jedenfalls nicht hoch genug einzuschätzen. In der Wissenschaft haben sich
ihre Anhänger in jüngerer Zeit gemehrt433. Auch wenn ein Großteil der befürwortenden Literaturstimmen sich heute weniger intensiv mit der dogmatischen Herleitung Stürners befaßt und kaum noch ihre Geltung de lege lata propagiert, so wird
inzwischen doch zunehmend ihre Implementierung durch den Gesetzgeber gefordert434.
429 Henckel, ZZP 92 (1979), 100 (104).
430 BGH NJW 1990, 3151 ff., erst jüngst wieder ausdrücklich BGH NJW 2007, 155, 156.
431 BGH NJW 1990, 3151 (3151).
432 Stürner, ZZP 104 (1991), 208 (208).
433 Vgl. etwa Waterstraat, ZZP 118 (2005), 459 ff.; Katzenmeier, JZ 2002, 533 ff.; Lorenz, ZZP 111
(1998), 35 ff.; Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 93 ff.; Greger, JZ 1997, 1077 (1080).
434 Insbesondere Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 1 (A 15 ff.); Lorenz, ZZP 111 (1998),
35 ff.; Greger, JZ 1997, 1077 (1080).
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
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Die Einführung prozessualer Pflichten, die die Parteien gegenseitig zur Mitwirkung bei der Informationsbeschaffung und Beweisführung verpflichten oder gar
die Implementierung einer allgemeinen prozessualen Editionspflicht für Urkunden
stellte vor dem Hintergrund des bisher geltenden Prozeßrechts jedenfalls einen
Paradigmenwechsel dar. Dem oft als gesetzliche Leitidee der ZPO erkannten Beibringungsgrundsatz stünde die Einführung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht nach dem Modell Stürners jedenfalls nicht im Wege435. Wie bereits
dargelegt, beschreibt der Beibringungsgrundsatz das Verhältnis der prozessualen
Verantwortlichkeiten zwischen den Parteien auf der einen und dem Gericht auf der
anderen Seite. Die allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht der Prozeßparteien
würde aber nicht ein Mehr an richterlicher Amtsermittlung mit sich bringen, sondern lediglich die Aufklärungsbeiträge zwischen den Parteien neu verteilten und
ggf. erweitern. An dieser Stelle ist Stürner beizupflichten, wenn er meint, die Kritiker
einer prozessualen Aufklärungspflicht verwechselten Ursache und Wirkung436. In
der Tat würde die allgemeine prozessuale Aufklärungspflicht gerade nicht die Stärkung, sondern gar eine Verringerung der Richterverantwortlichkeit für die Sachverhaltsaufklärung mit sich bringen, weil die Parteien untereinander und weniger dem
Gericht gegenüber zur Aufklärung verpflichtet wären.
C. Vorschläge zur Reform der Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten
Obwohl im Schrifttum die Begründung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht im Wege der Rechtsfortbildung de lege lata weitgehend abgelehnt
wird, findet eine mehr oder weniger weitreichende Einführung prozessualer Aufklärungspflichten durch den Gesetzgeber großenteils Befürwortung. Der prominenteste Vorstoß in diese Richtung kam in jüngerer Zeit von Gottwald. Auf dem 61.
Deutschen Juristentag 1996 in Karlsruhe legte er für die Abteilung Verfahrensrecht
ein Gutachten vor, das sich mit der Vereinfachung, Vereinheitlichung und Beschränkung von Rechtsmitteln im Interesse eines effektiveren Rechtsschutzes
befaßt. Ausgehend von dieser Reformintention schlägt er vor, Bedeutung und
Effizienz des erstinstanzlichen Verfahrens durch die Einführung einer allgemeinen
prozessualen Aufklärungs- und Editionspflicht zu erhöhen437. Gottwald ließ sich
bei seinen Überlegungen vom englischen Recht inspirieren438, das eine allgemeine
Editionspflicht vorsieht und für Verstöße ähnliche Sanktionen bereit hält, wie sie
die Rechtsprechung hierzulande bereits heute in den Fällen der Beweisvereitlung
verhängt.
435 Befürworter sehen in der prozessualen Aufklärungspflicht sogar eine "Stärkung der Verhandlungsmaxime", Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (62) oder wenigstens ein notwendiges Korrelat Schlosser, JZ 1991, 599 (607).
436 Stürner, ZZP 98 (1985), 237 (254 f.).
437 Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 1 (A 15 ff.).
438 Gottwald, Gutachten A zum 61. DJT, 1996, A 16 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.