§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
139
schen Parteien und Dritten bei der Mitwirkung am Prozeß widerspiegeln659. Dritten
kommen insoweit weitergehende Weigerungsrechte zu als den Parteien. Letztere
können die Mitwirkung insbesondere dann verweigern, wenn sie mit der strafbewehrten Verletzung eines absolut geschützten Berufsgeheimnisses einhergehen
würde660. Geheimhaltungsinteressen anderer Berufgruppen finden dagegen nur als
empêchement légitime im Falle verweigerter Mitwirkung Dritter Berücksichtigung.
Auch der Verlust eines Dokuments aufgrund höherer Gewalt (force majeure) kann
Parteien und Dritte von ihrer Vorlagepflicht sanktionslos befreien661. Die Berücksichtigung weiterer berechtigter Interessen an der Verweigerung gebotener Mitwirkung liegt aufgrund fehlender gesetzlicher Regelung weitgehend im Ermessen des
Gerichts, das Aufklärungs- und Geheimhaltungsinteresse im Einzelfall abwägt662.
So kommen nach der französischen Rechtsprechung im Einzelfall die Gefahr strafrechtlicher Selbstbelastung ebenso wie die drohende Verletzung eines Betriebs-,
Geschäfts- oder sonstigen Privatgeheimnisses sowohl für Parteien wie auch für
Dritte als Weigerungsgrund in Betracht. Insgesamt soll in der Rechtsprechung eine
stärkere Tendenz zum Vorrang der Wahrheitsermittlung zu erkennen sein, als dies
in Deutschland der Fall ist663.
D. Österreich
Der österreichische Zivilprozeß ist nach wie vor stark von den sozialreformerischen Gedanken Franz Kleins geprägt664 und verwirklicht traditionell weitgehende
Aufklärungsbefugnisse des Gerichts665. Obwohl die österreichische Zivilprozeßordnung (ÖZPO)666 in bewußter Abgrenzung zur ZPO entstand667 und bis heute
in höherem Maße vom Sozialstaatsgedanken geprägt ist, weist sie unter den kontinentaleuropäischen Prozeßordnungen die größten Ähnlichkeiten mit dem deutschen Prozeßrecht auf. Dies sowie die Tatsache, daß die ÖZPO im Rahmen der
Novellierung der ZPO nicht selten als Vorbild diente668, lassen den Blick auf die
Gestaltung des Beweisrechts in der Nachbarrechtsordnung als besonders lohnend
erscheinen, um Hilfen für die Interpretation des deutschen Rechts zu gewinnen.
Das Augenmerk soll hierbei besonders auf den Unterschieden beider Prozeßordnungen liegen.
659 Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135 (140), Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 157 f.
660 Geschützt sind nach französischem Recht insoweit Ärzte, Rechtsanwälte und Priester.
661 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 161.
662 Vgl. Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135 (140 f.); Wagner, ZEuP 2001, 441 (477).
663 Lang, Die Aufklärungspflicht, 1999, 163.
664 Zur jüngsten Reform des österreichischen Zivilprozesses aus dem Jahr 2002, die mit der Verschärfung der Prozeßförderungspflicht der Parteien sowie der richterlichen Pflicht zur Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Parteien zu einer weiteren Stärkung der Richtermacht geführt hat, vgl. Klicka, ZZP Int 7 (2002), 179 ff.
665 Stürner, FS-Stoll, 2001, 691 (696).
666 In Kraft getreten am 01.08.1895.
667 Vgl. Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 35.
668 Vgl. oben Zweiter Teil.§ 2A.III.4.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
140
Am deutlichsten wird die Unterscheidung zum deutschen Recht am österreichischen Verständnis der Beibringungsmaxime. Zwar sind es auch in Österreich die
Parteien, die primär den Streitstoff in den Prozeß einzuführen haben669 und durch
ihre Tatsachenbehauptungen den Gegenstand des Beweisverfahrens bestimmen.
Im Interesse vollständiger und wahrheitsgemäßer Aufklärung des streitrelevanten
Sachverhaltes sind die Verantwortlichkeiten zwischen Parteien und Gericht allerdings gleichmäßiger verteilt als in Deutschland. Das Gericht ist im Rahmen seiner
materiellen Prozeßleitung ausdrücklich670 zur Wahrheitserforschung verpflichtet671.
Es hat die Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht der Parteien672 dadurch zur Geltung zu bringen, daß es zunächst durch Anleitung darauf hinwirkt, daß diese alles
zur Aufklärung des Sachverhalts Notwendige primär aus eigener Initiative heraus
unternehmen, insbesondere wahrheitsgemäß die notwendigen Behauptungen aufstellen und entsprechende Beweise antreten673. Darüber hinaus kann das Gericht
aber gem. § 183 ÖZPO auch sämtliche Beweise einschließlich des Zeugenbeweises
von Amts wegen erheben674, wenn es dadurch nach dem Inhalt der Klage oder der
mündlichen Verhandlung Aufklärung über erhebliche Tatsachen erwartet675.
Amtswegige Beweisinitiativen können sogar über solche Tatsachen ergehen, die
von den Parteien selbst nicht behauptet wurden676, was hierzulande unter dem
Stichwort richterlicher Ausforschung allgemein für unzulässig gehalten wird677. Das
Gericht ist insoweit also nicht auf die von den Parteien behaupteten Tatsachen
beschränkt, sondern kann den gesamten streiterheblichen Sachverhalt auf eigene
Initiative erforschen678. Da die gerichtliche Sachaufklärungsbefugnis durch die
Bindung an ein Geständnis der Parteien gem. §§ 266, 267 ÖZPO bzw. durch die
Außerstreitstellung einer Tatsache beschränkt ist, steht der Zivilprozeß in Österreich zwar grundsätzlich noch unter einer gewissen Herrschaft der Parteien. Wegen
der weitgehenden richterlichen Sachaufklärungs- und Beweisaufnahmepflicht ist er
jedoch im Vergleich zum deutschen Zivilprozeß stark dem Untersuchungsgrundsatz angenähert679 (sog. "abgeschwächter Untersuchungsgrundsatz"). In der prozessualen Praxis scheint das Gewicht aber dennoch auf der Verantwortlichkeit der
669 Vgl. §§ 178, 226, 243 ÖZPO.
670 §§ 182 Abs. 1, 183 ÖZPO.
671 Vgl. Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. Rn. 655.
672 § 178 ÖZPO.
673 Vgl. hierzu die weitreichenden richterlichen Hinweis- und Aufklärungspflichten gem. §§ 182, 432
ÖZPO.
674 Die Anordnung der Urkundenvorlage setzt allerdings einen Antrag der Parteien voraus.
675 Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 659.
676 Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 659.
677 Vgl. etwa Stein/Jonas-Leipold, 21. Aufl., § 142, Rn. 1; Zöller-Greger, 26. Aufl., § 144, Rn. 2; Musielak-
Huber, 5. Aufl., § 448, Rn. 3; BGH NJW 2000, 3488 (3490).
678 Umstritten ist in diesem Zusammenhang lediglich, ob das Gericht seiner Entscheidung auch
solche Ergebnisse einer Beweisaufnahme zugrunde legen darf, die über die Parteibehauptungen
hinausgehen (sog. überschießende Beweisergebnisse), selbst wenn sich die Parteien diese nicht
nachträglich zu eigen gemacht haben. Zum Streitstand vgl. Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl.,
Rn. 661, 899.
679 So Stürner, FS-Stoll, 2001, 691 (696).
§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
141
Parteien zu liegen, weil die Gerichte von ihren weitgehenden Befugnissen zu amtswegiger Sachverhaltserforschung nur zurückhaltend Gebrauch machen680.
Im Verhältnis der Parteien untereinander bestehen dagegen in Österreich kaum
weitreichendere Mitwirkungspflichten für die Sammlung und Feststellung des
streitrelevanten Tatsachenstoffes als in Deutschland, was angesichts der richterlichen Aufklärungsbefugnisse im Interesse der Wahrheitsermittlung auch nicht erforderlich scheint. Eine unterschiedliche und im Vergleich zum deutschen Prozeßrecht weniger restriktive Handhabung erfahren in Österreich allerdings die sog.
Erkundungsbeweise, also solche, die hierzulande unter dem Begriff "ausforschender Beweisantrag"681 bekannt sind. Nur wenn eine Tatsache gar nicht behauptet
wurde, aber durch Beweisantrag erwiesen werden soll, wird ein unzulässiger Erkundungsbeweis angenommen. Nicht genügend konkretisierte oder "auf gut
Glück" aufgestellte Beweisanträge werden dagegen heute grundsätzlich für zulässig
erachtet, da es andernfalls oft nur vom Formulierungsgeschick einer Partei abhinge,
ob ein beantragter Beweis als unzulässig anzusehen wäre682. Die auch aus dem
deutschen Recht bekannten allgemeinen Voraussetzungen einer parteibetriebenen
Beweisaufnahme, etwa die genaue Bezeichnung des Beweisthemas und des Beweismittels683 sollen daher nicht einer Ausforschung des Prozeßgegners entgegenwirken, sondern vielmehr dem Gericht ermöglichen, die für die Beweisaufnahme
erforderlichen Maßnahmen treffen zu können684.
Für die Sachverhaltsfeststellung sieht die ÖZPO dieselben Beweismittel vor wie
die ZPO685. Trotz der ähnlichen Gesetzessystematik hält das österreichische Prozeßrecht allerdings beim Urkundenbeweis weitergehende Vorlagepflichten bereit,
während es gleichzeitig beim Beweis durch Augenschein hinter den Regelungen der
ZPO n.F. zurückbleibt. Die Vorlagepflichten des Prozeßgegners im Rahmen des
parteibetriebenen Urkundenbeweises sind in den §§ 303 f. ÖZPO geregelt. Ähnlich
wie in Deutschland knüpft die Vorlagepflicht zunächst an eine bürgerlich-rechtlich
Verpflichtung bzw. an eine Bezugnahme auf die Urkunde im Prozeß an686. Für
Urkunden, die vom Prozeßgegner nicht in Bezug genommen wurden und solche,
auf deren Einsicht kein materiell-rechtlicher Anspruch besteht, enthält § 305
ÖZPO eine dem deutschen Prozeßrecht unbekannte sog. "bedingte Vorlagepflicht"687. Der Prozeßgegner muß danach auch solche Urkunden vorlegen, auf
deren Einsicht der Beweisführer keinen Anspruch hat, wenn die in dieser Vor-
680 Vgl. Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 665.
681 Vgl. oben Zweiter Teil.§ 3B.II.1.b).
682 Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 898.
683 § 226 Abs. 1 ÖZPO.
684 Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 904.
685 Umstritten ist die Frage, ob die fünf in der ÖZPO geregelten Beweismittel im Hinblick auf die
umfassende richterliche Sachverhaltserforschungspflicht als abschließend aufzufassen sind oder
ob darüber hinaus der Beweis auch mit anderen als den im Gesetz geregelten Beweismitteln geführt werden kann. Zum Streitstand vgl. Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 925.
686 Ausdrücklich und anders als die §§ 420 ff. ZPO regelt § 304 ÖZPO, daß die Beschränkungen für
beide Parteien gelten, also auch für den Beweisführer, der die Urkunde selbst besitzt. Vgl. zu dieser Problematik aus deutscher Sicht Dilcher, AcP 158, 476 ff.
687 Fasching, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Rn. 959.
Zweiter Teil. Analyse der Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung im Zivilprozeß
142
schrift genannten Weigerungsgründe688 nicht eingreifen. Prozeßfremde Dritte sind
zur Vorlage von Urkunden dagegen gem. § 308 ÖZPO nur dann verpflichtet, wenn
dem Beweisführer ein materiell-rechtlicher Einsichtsanspruch zusteht. Zur Vorlage
von Augenscheinsgegenständen sind die Parteien untereinander gem. § 369 ÖZPO
entsprechend den Regelungen über den Urkundenbeweis verpflichtet. Dritte können mangels entsprechender gesetzlicher Regelung aus prozessualen Gründen nicht
zur Mitwirkung am Augenscheinsbeweis gezwungen werden689. Will die risikobelastete Partei den Beweis mittels Inaugenscheinnahme eines Gegenstandes führen,
der sich im Besitz eines Dritten befindet, muß sie dessen Herausgabe in einem
separaten Prozeß bewirken690.
Im Hinblick auf die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen für verweigerte Mitwirkung bestehen keine nennenswerten Unterschiede zur Rechtslage in Deutschland. Auch die ÖZPO schließt die Anwendung von Zwang gegen eine nicht aussage- oder vorlegungsgewillte Partei aus691 und stellt es in das Ermessen des Gerichts,
etwa die unbegründete Aussageverweigerung einer Partei oder die verweigerte
Vorlage einer Urkunde bzw. eines sonstigen Gegenstandes frei zu würdigen, vgl.
§§ 381, 307 Abs. 2, 369 ÖZPO. Die unberechtigte Verweigerung der Mitwirkung
Dritter wird beim Zeugenbeweis gem. §§ 333, 220 ÖZPO mit Ordnungsstrafen
sanktioniert. Verweigert der Dritte grundlos die Vorlage einer Urkunde, so kann die
Herausgabe allerdings - anders als in Deutschland - gem. §§ 308 ÖZPO i.V.m.
§ 346, 354 EO692 zwangsweise erwirkt werden.
Die im österreichischen Zivilprozeßrecht vorgesehenen Weigerungsrechte zugunsten von Parteien und Dritten weisen gegenüber der ZPO ein höheres Schutzniveau auf693 und zeichnen sich durch eine systematisch gelungene gesetzliche
Regelung aus. Prozeßfremde Dritte sind gem. §§ 321 ÖZPO im Rahmen ihrer
Zeugnispflicht694 sowohl vor der Gefahr eigener strafrechtlicher Verfolgung sowie
der ihrer nahen Angehörigen als auch vor der Offenbarung solcher Tatsachen, die
ihnen zur Unehre gereichen oder die ein staatlich anerkanntes Berufsgeheimnis
verletzten würden, geschützt695. Auch die Gefahr eines mit der Aussage einhergehenden unmittelbaren Vermögensnachteils oder der Offenbarung eines Kunstoder Geschäftsgeheimnisses berechtigt einen Dritten zur Aussageverweigerung.
§ 380 ÖZPO erstreckt die Geltung der Zeugnisverweigerungsrechte auch auf die
688 Vgl. hierzu sogleich unten.
689 Dies ergibt sich aus § 370 ÖZPO, der nur auf die §§ 303-307 ÖZPO, nicht aber auf die für
Dritte geltenden §§ 308-309 ÖZPO verweist.
690 An dieser Stelle bleibt die ÖZPO mit ihren Vorlagepflichten hinter der reformierten ZPO
zurück, die inzwischen gem. § 144 ZPO n.F. auch eine Pflicht zu Vorlage von Augenscheinsgegenständen gegenüber Dritten kennt.
691 So ausdrücklich § 380 Abs. 3 ÖZPO.
692 Österreichische Exekutionsordnung.
693 Kritisch zum hohen Schutzniveau Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135 (141); Wagner, ZEuP
2001, 441 (495).
694 Sachverständige sind gem. § 353 Abs. 2 ÖZPO aus denselben Gründen berechtigt, ihre Mitwirkung zu verweigern wie ein Zeuge.
695 Vgl. § 321 Nr. 1 ÖZPO (Zeugnisverweigerungsrecht), § 353 (Verweis für Sachverständige auf die
Weigerungsrechte des Zeugen).
§ 6 Der Blick auf das Zivilprozeßrecht anderer Rechtsordnungen
143
Vernehmung der Prozeßparteien, wobei ein drohender Vermögensnachteil ausdrücklich ausgenommen ist. Die Prozeßparteien können darüber hinaus gem. § 305
ÖZPO die gerichtlich angeordnete Vorlage von Urkunden und Augenscheinsgegenständen, auf die sie nicht selbst Bezug genommen haben und auf deren Einsicht
der Gegner keinen Anspruch hat, auch dann verweigern, wenn die Vorlage mit der
Offenbarung einer Familienangelegenheit verbunden wäre, zu einer Ehrenpflichtverletzung führen würde oder andere gleichwertige Gründe vorliegen696. Dritten
kommen diese in § 305 ÖZPO genannten Weigerungsrechte nicht zugute, da sie
zur Vorlage anderer Urkunden im Sinne dieser Vorschrift ohnehin nicht verpflichtet sind.
E. Zusammenfassung und Stellungnahme
Der Blick auf das Beweisrecht der genannten Rechtsordnungen läßt ein deutliches
Gefälle in der Ausprägung der Informationsfreundlichkeit erkennen. An der Spitze
steht wenig überraschend der U.S.-amerikanische Prozeß, der im Rahmen des
pretrial discovery-Verfahrens die weitestgehenden Informations- und Editionspflichten gegenüber Parteien und Dritten bereit hält und den Parteien kaum eine Möglichkeit läßt, Beweismittel, über die sie selbst verfügen, zurückzuhalten, um damit
den Prozeßausgang zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Während in Europa außerdem von vornherein rechtsgebundene Sachverhaltsaufklärung vorherrscht, ermöglicht das amerikanische pretrial Verfahren Sachverhaltserforschung völlig losgelöst
von den im trial zu behandelnden Rechtsfragen697.
Auch der englische Zivilprozeß orientiert sich durch die Pflicht zum unaufgeforderten Offenbaren von Beweismitteln stärker als die ZPO am Prozeßzweck der
Wahrheitsermittlung. Die allgemeine Vorlagepflicht für Urkunden ermöglicht den
Parteien wesentlich weitergehende Möglichkeiten der Beweisführung als hierzulande üblich. Selbst die Prozeßgesetze Frankreichs und Österreichs gewähren in Bezug
auf Urkunden mehr Zugriffsrechte für die Parteien als die ZPO. Grundsätzlich
müssen die Parteien in beiden Ländern auf Antrag des Prozeßgegners Urkunden
unabhängig vom Bestehen materiell-rechtlicher Einsichtsansprüche und ungeachtet
der Beweislast herausgeben. Auch Dritte sind von der Pflicht zur Vorlage von
Dokumenten grundsätzlich nicht befreit. Das Schutzniveau zugunsten des Vorlageschuldners ist dabei in Österreich noch etwas höher als in Frankreich, wo die Anerkennung von Zurückhaltungsinteressen in weiten Bereichen dem Ermessen des
Gerichts überlassen ist.
Die Prozeßgesetze angelsächsischer Tradition legen die Aufklärung des Sachverhaltes überwiegend in die Hände der Parteien und statuieren hierfür umfassende
Aufklärungspflichten, während die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen
Frankreichs und Österreichs wie die deutsche ZPO eher auf gerichtliche Aufklärung setzen. Daß Letzteres im Interesse der Wahrheitsfindung durchaus effektiv
696 Kritisch zum Umfang dieser Weigerungsrechte Schlosser, FS-Sonneberger, 2004, 135 (141).
697 Stürner, FS-Stiefel, 1987, 763 (766).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.