Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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B. Besonderheiten bei der Beweisführung mit einem elektronischen
Dokument
I. Der Begriff des elektronischen Dokuments
Mit dem FormVAnpG hat der Gesetzgeber im Jahr 2001 die zuvor umstrittene
Frage, ob elektronische Dokumente dem Recht des Augenscheins- oder demjenigen des Urkundenbeweises unterliegen, klar entschieden, indem er sie u.a. in den
seinerzeit neu eingeführten § 371 S. 2 ZPO-FormVAnpG beweisrechtlich den
Augenscheinsobjekten zugeordnet hat. Unter elektronischen Dokumenten werden
gemeinhin digital gespeicherte Daten auf einem Datenträger verstanden, wobei unabhängig vom Inhalt der Datei - neben digital gespeicherten Schriftstücken1146
auch Grafik-, Audio- und Videodateien unter den Begriff zu subsumieren sind1147.
Entscheidendes Merkmal eines elektronischen Dokuments in Abgrenzung zu einer
Urkunde ist es mithin, daß ein bestimmter gedanklicher Inhalt nicht auf einem
Schriftträger verkörpert ist und somit nicht unmittelbar, sondern nur mit Hilfe
elektronischer Hilfsmittel lesbar gemacht werden kann.1148.
II. Die Verfügungsgewalt über die Daten
Der parteibetriebene Beweisantritt mit einem elektronischen Dokument erfolgt
gem. § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO n.F. durch Vorlegung oder Übermittlung der Datei.
Dabei ist für den Beweisantritt wie üblich danach zu unterscheiden, wer die zum
Beweis benötigte Datei für die Beweisführung zur Verfügung zu stellen hat, weil
§ 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. insoweit nicht zwischen herkömmlichen Augenscheinsgegenständen und elektronischen Dokumenten unterscheidet. Anders als im Falle
von Urkunden und herkömmlichen Augenscheinsgegenständen ist für elektronische Dokumente allerdings nicht auf den Besitz, sondern auf die tatsächliche Verfügungsgewalt1149 über die Datei abzustellen. Besitz an Daten ist mangels körperlicher Gegenständlichkeit (§ 90 BGB) nicht denkbar; das Abstellen auf den gegenständlichen Datenträger, an dem Besitz gehalten werden kann, ist dagegen nicht
zweckmäßig, weil dieser häufig nicht im Besitz des Verfügungsberechtigten steht,
etwa wenn die Daten auf dem Server eines Providers liegen1150.
1146 Musielak-Huber, 5. Aufl., § 371, Rn. 11 sieht den Begriff des elektronischen Dokuments offenbar
auf Dateien begrenzt, die Schriftstücke enthalten.
1147 Zöller-Greger, 26. Aufl., § 371, Rn. 1; Berger, NJW 2005, 1016 (1017).
1148 Musielak-Huber, 5. Aufl., § 371, Rn. 11.
1149 Hierunter kann im Einzelfall auch die Verfügungsgewalt durch Paßwörter fallen, vgl. Berger, NJW
2005, 1016 (1020).
1150 Auf diese Problematik hat Berger, NJW 2005, 1016 (1017) aufmerksam gemacht.
§ 4 Der neugestaltete Augenscheinsbeweis gem. § 371 ZPO n.F.
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III. Die Voraussetzungen des Beweisantritts mit einem elektronischen
Dokument
1. Der Beweisführer verfügt über die Daten
Verfügt der Beweisführer selbst über das elektronische Dokument, wird der Beweis
gem. § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO n.F. durch Vorlegung oder Übermittlung der Datei
angetreten, wobei die Vorlegung der Datei in Gestalt der Vorlegung des Datenträgers erfolgt1151. Die schlichte Benennung der Datei reicht also, anders als beim
Beweis mit einem herkömmlichen Augenscheinsgegenstand, nicht aus.
2. Der Beweisgegner verfügt über die Daten
Befindet sich das elektronische Dokument in der Verfügungsgewalt des Beweisgegners, so wird nach dem Wortlaut des § 371 Abs. 2 Satz 1 ZPO n.F. der Beweis
wiederum dadurch angetreten, daß der Beweisführer zusätzlich zu den Erfordernissen nach § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO n.F. beim Gericht entweder eine Fristsetzung
beantragt und während der Frist selbst für die Herbeischaffung des Dokuments
sorgt oder einen Antrag auf Erlaß einer gerichtlichen Vorlageanordnung gem. 144
ZPO n.F. stellt.
Für den Fall der Beweisführung mit einem elektronischen Dokument sind allerdings im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Verweisung in § 371 Abs. 2 S. 2 ZPO
n.F. keine Einschränkungen zu machen. Vielmehr ist in dieser Konstellation auch
der Beweisantritt gem. § 371 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 ZPO n.F. nur dann möglich, wenn
dem Beweisführer gegenüber dem Prozeßgegner im Hinblick auf das elektronische
Dokument ein Herausgabe- oder Vorlegungsanspruch nach materiellem Recht
zukommt1152. Auch insoweit erscheint es nämlich angebracht, der Intention des
Gesetzgebers zur Geltung zu verhelfen. Elektronische Gegenstände sollen zwar
einerseits im Hinblick auf die Beweiskraftregeln der §§ 415 ff. ZPO nicht als Urkunden, sondern als Augenscheinsgegenstände qualifiziert werden, was durch ihre
Erwähnung in § 371 Abs. 1 S. 2 ZPO n.F. zum Ausdruck kommt. Anderseits sollten die elektronischen Dokumente aber in Bezug auf die Mitwirkungspflichten des
Beweisgegners den Urkunden gleichgestellt werden, weil sie in ihrem praktischen
Wert als Beweismittel der Urkunde am nahesten stehen1153. Der Gesetzgeber wollte
hinsichtlich der Editionspflichten also zwischen Augenscheinsgegenständen herkömmlicher Art und elektronischen Dokumenten unterscheiden1154. Nur diesem
1151 So zutreffend Stein/Jonas-Berger, 22. Aufl., § 371, Rn. 10, 27.
1152 So scheinbar auch Berger, NJW 2005, 1016 (1017, 1019); Schwab/Rosenberg/Gottwald, Zivilprozess,
16. Aufl., S. 809.
1153 Vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf des FormVAnpG, BT-Drs. 14/4987, S. 23.
1154 Diesen Umstand übersieht insbesondere Stein/Jonas-Berger, 22. Aufl., § 371, Rn. 25, der zwar auf
die Besonderheiten der Beweisführung mit einem elektronischen Dokument eingeht, jedoch für
die Konstellation, daß sich die Datei in der Verfügungsgewalt des Prozeßgegners befindet, den
Verweis auf die §§ 422, 423 ZPO übergeht.
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ursprünglichen Unterscheidungswillen des Gesetzgebers zum FormVAnpG ist die
unglücklich ausgestaltete Verweisung in § 371 Abs. 2 S. 2 ZPO zu verdanken. Der
parteibetriebene Antritt des Beweises mit Hilfe eines elektronischen Dokuments,
das sich im Besitz des Beweisgegners befindet, ist deshalb nur möglich wenn der
Beweisführer nach materiellem Recht dessen Herausgabe verlangen kann (§ 422
ZPO) oder der Beweisgegner sich selbst zum Zwecke der Beweisführung darauf
berufen hat (§ 423 ZPO)1155.
3. Ein prozeßfremder Dritter verfügt über die Daten
Befindet sich das elektronische Dokument in der Verfügungsgewalt eines Dritten,
stehen dem Beweisführer wiederum die beiden alternativen Vorgehensmöglichkeiten des § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. zur Verfügung. Die zweite Alternative des
Beweisantritts entspricht jedoch inhaltlich derjenigen des § 428 Alt. 2 ZPO n.F. für
den Urkundenbeweis, so daß es eines Rückgriffs auf die Vorschriften der §§ 422 ff.
ZPO in dieser Konstellation nicht bedarf, um der Intention des Gesetzgebers
gerecht zu werden. Die Beweisführung mit einem elektronischen Dokument setzt
also - ebenso wie diejenige mit einer Urkunde oder mit einem herkömmlichen
Augenscheinsgegenstand - keine materiell-rechtlichen Ansprüche des Beweisführers im Hinblick auf den Beweisgegenstand voraus, wenn sich dieser im Besitz
eines Dritten befindet.
C. Das Verhältnis der Möglichkeiten des Beweisantritts nach § 371 Abs. 2
S. 1 ZPO n.F. für den Fall des Drittbesitzes
In der Literatur wird mitunter die Auffassung vertreten, die Möglichkeit des Beweisantritts über den Antrag auf Erlaß einer gerichtlichen Vorlageanordnung gegenüber einem Dritten gem. § 371 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 ZPO n.F. komme nur demjenigen zugute, der keine materiell-rechtlichen Ansprüche hinsichtlich des Gegenstandes gegenüber dem Dritten geltend machen könne1156. Stünden dem
Beweisführer entsprechende Ansprüche zu, bliebe er auf den Beweisantritt nach
§ 371 Abs. 2 S. Alt. 1 ZPO n.F. verwiesen. Als Begründung hierfür wird angeführt,
daß dem Dritten der Weg in einen ordentlichen Zivilprozeß mit allen Rechtsmitteln
und Verfahrensgarantien erhalten bleiben müsse. Darüber hinaus verbliebe für den
Beweisantritt gem. § 371 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 ZPO n.F. praktisch kein Anwendungsbereich, wenn der Beweisgegenstand stets über eine gerichtliche Vorlageanordnung
in den Prozeß eingeführt werden könnte.
Dieses Verständnis des § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO n.F. überzeugt aus mehrerlei
Gründen nicht. Bereits dem Wortlaut nach stehen die beiden Alternativen für den
Beweisantritt nebeneinander, ohne daß sich aus der Vorschrift selbst ein Rangver-
1155 In diesem Sinne auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., S. 809.
1156 Stein/Jonas-Berger, 22. Aufl., § 371, Rn. 15; wie hier dagegen MüKo-ZPO-Zimmermann, 3. Aufl.,
§ 372, Rn. 16; MüKo-ZPO-Damrau, Aktualisierungsband 2002, § 371, Rn. 13, 20.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.