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1. Kapitel: Einführung
A. Zwei Grundmodelle der Behindertenpolitik
Behinderung ist allgegenwärtig. Trotz zahlreicher medizinischer und therapeutischer
Fortschritte kann sie jeden jederzeit treffen. Das Leben mit einer Behinderung ist
also menschlicher Alltag, zugleich aber auch eine Betroffene wie Angehörige prägende Sondererfahrung. Wie sollen sich nun Politik und Recht gegenüber dieser
Lebenssituation verhalten? Um dem individuellen Geltungsanspruch eines Menschen mit Behinderung gerecht zu werden, muss das Recht einerseits auf eine Gestaltung der Umwelt hinwirken, damit Behinderung alltäglich lebbar, im Idealfall
gar zur Normalität wird. Andererseits müssen die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung im Auge behalten und erfüllt werden.
Dieses Spannungsverhältnis hat zwei idealtypische Reaktionsmuster hervorgebracht. Einerseits einen leistungsbasiert-sozialrechtlichen Ansatz (in der englischsprachigen Literatur als Social Welfare Model bekannt) und andererseits einen
gleichheitsbasiert-bürgerrechtlichen Ansatz (in der englischsprachigen Literatur als
Civil Rights Model bekannt)5, die vorab kurz erläutert werden sollen, im Übrigen
aber die gesamte Untersuchung durchziehen. Ferner soll der Wechsel des politischen
Fokus vom ersten zum zweiten Ansatz beleuchtet werden.
I. Leistungsbasiert-sozialrechtlicher Ansatz
Diese Herangehensweise an den Lebenssachverhalt Behinderung ist älter und traditionsreicher als der sogleich zu thematisierende gleichheitsbasiert-bürgerrechtliche
Ansatz. Sie fußt auf einem Verständnis von Behinderung als persönlichem Defizit,
dem mittels sozialer Leistungen und besonderer Schutzrechte begegnet werden
muss. Dazu gehören spezielle Erziehungs- und Schulangebote, Rehabilitationsleistungen, steuerliche Vorteile sowie die in Deutschland bekannte Beschäftigungsquote
für schwerbehinderte Menschen und weitere arbeitsrechtliche Schutzvorschriften für
diesen Personenkreis. Der leistungsbasiert-sozialrechtliche Ansatz nimmt vor allem
den Staat in die Pflicht, wobei sowohl in den USA als auch in Deutschland die Tradition der freien Wohlfahrtspflege durch gesellschaftliche und religiöse Institutionen
5 Waddington/Diller, in: Breslin/Yee: Disability Rights Law and Policy, 2002, unter I.A.
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bei der Bereitstellung entsprechender Leistungen teilweise fortwirkt, aber hier nicht
weiter besprochen werden soll6.
II. Gleichheitsbasiert-bürgerrechtlicher Ansatz
Dieser historisch deutlich jüngere Ansatz versteht sich als soziale Bewegung, der es
um die gleiche Partizipation von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft
geht7. Sie speist sich aus einer Sichtweise auf Behinderung als einem möglichen
menschlichen Normalzustand8. Dementsprechend sind spezielle Bürgerrechte wichtigstes normatives Regulierungsinstrument dieser Bewegung. Die mit dem Merkmal
Behinderung einhergehenden Nachteile sollen primär auf rechtlichen Konstruktionen, Barrieren in der gestalteten Umwelt sowie gesellschaftlichen Stereotypen beruhen. Das daraus resultierende Gleichheitsdefizit soll mittels Antidiskriminierungsrechts behoben werden, welches nicht nur den Staat, sondern durch seine Wirkung
auf den bürgerlichen Rechtsverkehr überdies die gesamte Gesellschaft in die Pflicht
nimmt.
III. Paradigmenwechsel der Behindertenpolitik
Moderne Politik zugunsten von Menschen mit Behinderung wird sich zwischen
diesen beiden Ansätzen bewegen müssen. Die entscheidenden Impulse – jedenfalls
für die deutsche Entwicklung – gehen zur Zeit vom gleichheitsbasiertbürgerrechtlichen Ansatz aus, was gemeinhin als „Paradigmenwechsel der Behindertenpolitik“ bezeichnet wird9. Das große Vorbild für diesen Wechsel, speziell für
die Entwicklung eines Antidiskriminierungsrechts für Menschen mit Behinderung
kommt aus den Vereinigten Staaten von Amerika10. Mit Erlass des Americans with
Disabilities Act (ADA)11 im Jahr 1990 hat die in den USA seit den 1970er Jahren
zunehmend professionell organisierte Behindertenbewegung einen vorläufigen
Schlusspunkt erlangt12. Der ADA ist das erste Gesetz überhaupt, das die Diskriminierung wegen einer Behinderung sowohl durch den Staat als auch im gesamten
6 Dazu etwa Katz, in: ders./Sachße, Social Welfare, 1996, S. 97, 103 ff.; Welti, Behinderung,
2005, S. 371 ff.
7 Umfassend aus internationaler Perspektive Charlton, Nothing About Us Without Us, 1998;
Driedger, Last Civil Rights Movement, 1989.
8 Vgl. Charlton, Nothing About Us Without Us, 1998, S. 166 f.; Degener, KJ 2000, 425, 426.
9 Thüsing, in: MüKo, 5. Aufl. 2007, § 1 Rn. 78; Pitschas, in: ders./v. Maydell/Schulte, Teilhabe
behinderter Menschen, 2002, S. 3; Stähler, NZA 2002, 777 ff.; Berlit, RdJB 1996, 145, 147.
10 Zur Vorbildwirkung etwa Jürgens, ZRP 1993, 128 ff.; Jürgens, ZfSH/SGB 1995, 353, 354;
Sachs, RdJB 1996, 154, 156.
11 Public Law 101-336 v. 26.7.1990.
12 Dazu Weicker, 64 Temp. L. Rev. (1991), 387 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.