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III. Behinderungsbegriff im deutschen Recht
Anders als das U.S.-amerikanische Bundesrecht geht das deutsche Recht – auch um
den Paradigmenwechsel der Behindertenpolitik voranzubringen – neuerdings von
einem einheitlichen Behinderungsbegriff aus162. Allerdings ist dieses Vorgehen eher
idealtypisch. Es wird zu zeigen sein, dass im sozialrechtlichen Bereich allein schädigungsorientierte Differenzierungen vorgenommen werden. Mit einer Anwendung
des einheitlichen Behinderungsbegriffs im Antidiskriminierungsrecht bestehen bislang keine nennenswerten Erfahrungen. Zu untersuchen ist vor allem, wie sich die
europarechtlichen Vorgaben der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auswirken und welche Präzisierungen für ein antidiskriminierungsrechtlich brauchbares Behinderungsverständnis noch vorzunehmen sind.
1. Einheitlicher Behinderungsbegriff
Das deutsche Bundesrecht definiert Behinderung folgendermaßen:
„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ 163.
Diese Definition ist sowohl Teil des Sozialrechts in § 2 I 1 SGB IX als auch des
Behindertengleichstellungsgesetzes in § 3 BGG. Ausweislich der Gesetzesbegründung zum SGB IX wollte der Gesetzgeber mit dieser teilhabeorientierten Begriffsbestimmung das in der ICF angelegte Partizipationsmodell besonders hervorheben164. Daher geht die Literatur praktisch einhellig davon aus, dass dieser Behinderungsbegriff auch für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu Grunde
zu legen ist, dessen Ziel ja schließlich die verbesserte Teilhabe von Menschen mit
Behinderung mit Mitteln des zivilrechtlichen Antidiskriminierungsrechts ist165.
Der neue Behinderungsbegriff geht zwar nicht soweit, im Sinne des relationalen
Verständnisses die Kausalität zwischen Schädigung, Aktivitätsbeeinträchtigung und
Partizipationsbeeinträchtigung aufzulösen. Allerdings betont er das Element der
162 Darstellung der zahlreichen unterschiedlichen Begriffe, die vor der Vereinheitlichung galten
bei Reichenbach, Anspruch behinderter Schülerinnen und Schüler, 2001, S. 113 ff.
163 Abweichende landesrechtliche Behinderungsbegriffe finden sich in Berlin (§ 4 Gesetz über
die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung des Landes Berlin) und in
Sachsen-Anhalt (§ 2 I Gesetz für Chancengleichheit und gegen Diskriminierung behinderter
Menschen im Land Sachsen-Anhalt). Beide Definitionen sind wie auch der bundesrechtliche
Behinderungsbegriff gleichstellungsrechtlich ausgerichtet und betonen die Rolle der Kontextfaktoren für die Behinderung.
164 BT-Drs. 14/5074 v. 16.01.2001, S. 98.
165 Z.B. Däubler, in: ders./Bertzbach, AGG, 2007, § 1 Rn. 75; Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2007, Rn. 204 f.; Annuß, BB 2006, 1629, 1631; Schneider-Sievers, in:
Kohte/Dörner/Anzinger, FS Wissmann, 2005, S. 588, 590.
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Partizipationsbeeinträchtigung überdeutlich. Die anderen beiden Elemente, nämlich
Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung, kommen sprachlich hingegen weniger
klar zum Ausdruck. Möglicherweise ist dies einer „Überkorrektur“ des alten Behinderungsverständnisses aus dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) geschuldet,
wonach Behinderung die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung war, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder
seelischen Zustand beruhte166. Während dieses Verständnis ausschließlich von den
Elementen Schädigung, in der Diktion des SchwbG regelwidriger Zustand, und
Aktivitätsbeeinträchtigung, in der Diktion des SchwbG Funktionsbeeinträchtigung,
geprägt war, finden sich diese Elemente im neuen Behinderungsbegriff nicht ausdrücklich wieder. Man wird das Erfordernis der Abweichung der körperlichen Funktion, geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit vom für das Lebensalter typischen Zustand sowohl als Schädigung als auch als Aktivitätsbeeinträchtigung deuten
müssen167. Angesichts der Tatsache, dass Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung diejenigen Elemente des Tatbestandes sind, an die Rechtsfolgen sinnvoll anknüpfen können, ist eine weitere bereichsspezifische Präzisierung jedenfalls unerlässlich.
2. Schädigungszentrierte Eingrenzungen im Sozialrecht mittels des Grades der
Behinderung (GdB)
Bereits in der zentralen Definitionsnorm des § 2 SGB IX wird deutlich, dass es verschiedene Intensitäten von Behinderung gibt, die nach der Einheit „Grad der Behinderung“ (GdB) skaliert werden. Eine Schwerbehinderung liegt ab einem GdB von
50 vor168, eine Gleichstellung ist ab einem GdB von 30 möglich, sofern dies nötig
ist, um einen Arbeitsplatz zu beschaffen oder zu erhalten169. Der einheitliche Behinderungsbegriff ist für das Sozialrecht also tatsächlich vielfältig ausdifferenziert, was
angesichts der Tatsache, dass das deutsche Recht für schwerbehinderte Menschen
zahlreiche Leistungen und Sonderrechte bereithält170, nicht weiter verwunderlich ist.
Die in Zehnerschritte unterteilte Skalierung des Grades der Behinderung geht zurück auf die Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach dem
Bundesversorgungsgesetz (BVG)171, welches die Kriegsopferversorgung regelt.
Nach dem neuen Behinderungsbegriff des SGB IX soll der GdB die Auswirkungen
166 § 3 I SchwbG a.F.
167 Vgl. Neumann, NVwZ 2003, 897, 897 f.
168 § 2 II SGB IX.
169 § 2 III SGB IX.
170 Z.B. ein besonderes Kündigungsschutzrecht, §§ 85 ff. SGB IX und – bei bestimmten Funktionsstörungen – ein Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr, §§ 145 ff. SGB IX. Auch die Quotenregelung knüpft allein an die Schwerbehinderteneigenschaft an, dazu genauer unten S. 137.
171 § 30 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges.
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auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft angeben172, was auf einen maßgebliche Einfluss von Kontextfaktoren bei der Behinderungsbestimmung hindeutet. Tatsächlich wird der GdB aber entsprechend dem allein auf die unmittelbaren Folgen
einer Gesundheitsstörung bzw. Schädigung zugeschnittenen MdE ermittelt173. Kontextfaktoren wie etwa eine barrierefreie Umwelt spielen bei der sozialrechtlichen
Feststellung des GdB also keine Rolle. Der GdB/MdE ist lediglich ein typisierender
Gradmesser für das Ausmaß der gesellschaftlichen Beeinträchtigungen, die ein
Mensch mit einer Behinderung erfährt.
Die Feststellung des Grades der Behinderung erfolgt durch die Verwaltung auf
der Grundlage eines versorgungsärztlichen Gutachtens, welches sich an die vom
Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen „Anhaltspunkte für die
ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ halten muss174. Dort sind eine große Anzahl medizinisch möglicher Gesundheitsstörungen und der daraus resultierende GdB nach betroffenen Körperregionen tabellarisch verzeichnet175, so dass der GdB letztlich nach einem Schädigungsverzeichnis schematisch festgestellt wird.
Trotz der teilhabebetonten Behinderungsdefinition im SGB IX ist der Behinderungsbegriff im deutschen Sozialleistungsrecht schädigungsorientiert. Im Schwerbehindertenrecht knüpfen die Rechtsfolgen über den GdB ausschließlich an eine bestimmtes Maß der Schädigung an.
3. Modifikationen des einheitlichen Behinderungsbegriffs für das
Antidiskriminierungsrecht
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) definiert den Begriff Behinderung
nicht eigens, sondern setzt ihn voraus. Mangels anderer Anhaltspunkte muss Ausgangspunkt der einheitliche Behinderungsbegriff des § 2 I SGB IX und § 3 BGG
sein. Zu untersuchen ist jedoch, ob und wie die Rechtsprechung des EuGH in der
Sache Chacón Navas Einfluss auf das antidiskriminierungsrechtliche Behinderungs-
172 BMAS, Anhaltspunkte, Stand 2005, Teil A, Ziff. 17.
173 § 69 I 5 SGB IX i.V.m. § 30 I BVG; einziger Unterschied ist, dass der GdB unabhängig von
der Schädigungsursache final ermittelt wird, während beim MdE wegen der Reichweite des
Versorgungsrechts die Schädigungsursache eine zentrale Rolle spielt, also nur solche Behinderungen rechtlich relevant sind, die aus bestimmten Schädigungsfolgen resultieren (kausale
Betrachtung), BMAS, Anhaltspunkte, Stand 2005, Teil A, Ziff. 18.
174 Die Rechtsnatur der Anhaltspunkte ist unklar. Das Bundessozialgericht hält sie für ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung des GdB; ihre Beachtlichkeit im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ergibt sich daraus, dass eine dem
allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung nur gewährleistet ist, wenn die
verschiedenen Behinderungen nach gleichen Maßstäben beurteilt werden – zuletzt BSGE 91,
205, 208 f.; zuvor etwa BSGE 75, 176, 177; 72, 285, 286 f.
175 BMAS, Anhaltspunkte, Stand 2005, Teil A, Ziff. 26.2 bis Ziff. 26.18.
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verständnis genommen hat. Ferner muss danach gefragt werden, welche Elemente
des einheitlichen Behinderungsbegriffs im Rahmen der Auslegung besonders herausgestellt werden müssen, um den spezifischen Anforderungen des Antidiskriminierungsrechts gerecht zu werden.
a) Auswirkung der Rechtsprechung des EuGH im Urteil Chacón Navas176
Grundlage dieses Vorabentscheidungsverfahrens war eine spanische Kündigungsschutzklage. Der Klägerin war nach mehr als siebenmonatiger Arbeitsunfähigkeit
wegen einer Erkrankung von ihrem Arbeitgeber gekündigt worden. Sie focht die
Kündigung an. Das spanische Gericht wandte sich an den Europäischen Gerichtshof
mit der Frage, ob eine Kündigung wegen Krankheit vom Schutzbereich des Merkmals Behinderung in der Richtlinie 2000/78/EG umfasst sei. Zur Beantwortung der
Vorlagefrage musste der EuGH den Begriff Behinderung definieren.
Der Europäische Gerichtshof hat Behinderung so verstanden, dass sie eine Einschränkung darstellt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bildet177. Dabei hat der Europäische Gerichtshof betont, dass
das gemeinschaftsrechtliche Behinderungsverständnis „autonom und einheitlich“
sei178. Dies kann nur so zu verstehen sein, dass die Definition des Europäischen
Gerichtshofs einen Rahmen setzt, außerhalb dessen sich die nationalen Gesetzgeber
und Gerichte nicht bewegen dürfen179.
Fraglich ist, ob die neue deutsche Behinderungsdefinition in SGB IX und BGG
diesen europäischen Vorgaben, die für das auf der Rahmenrichtlinie beruhende
AGG maßgeblich sind180, entspricht. Die deutsche Definition unterscheidet sich vor
allem in zwei Punkten: Zum ersten verlangt § 2 I SGB IX eine Abweichung vom
Regelzustand für eine Dauer von wenigstens sechs Monaten. Zum zweiten wird die
Regelabweichung umschrieben als Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand.
Der erste Punkt ist angesichts des europarechtlichen Begriffsrahmens relativ unproblematisch, da der Europäische Gerichtshof in Chacón Navas fordert, dass die
Einschränkung wahrscheinlich von langer Dauer sein muss181. Das Dauerkriterium
des deutschen Behinderungsbegriffs ist also für das europarechtlich geprägte AGG
prognostisch zu verstehen182. Die Behinderung muss nicht bereits sechs Monate
bestehen, sondern es muss lediglich zu erwarten sein, dass sie wenigstens sechs
176 EuGH, Urt. v. 11.7.2006, C-13/05, ABl. C 224 v. 16.9.2006, S. 9 = EuZW 2006, 472.
177 EuZW 2006, 472, 473 (Rz. 43).
178 EuZW 2006, 472, 473 (Rz. 42).
179 Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed v. 16.3.2006, C-13/05, Rz. 67 u. 68; Domröse,
NZA 2006, 1320, 1321.
180 Junker/Aldea, EuZW 2007, 13, 17.
181 EuZW 2006, 472, 473 (Rz. 45).
182 Schiek, in: dies., AGG, 2007, § 1 Rn. 41; vgl. auch Husmann, NZA-Beil. 2008, 94, 96.
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Monate bestehen wird. Jedenfalls ist ein Erfordernis der Dauer auch für das AGG
unerlässlich, da sonst die Abgrenzung zwischen den Kriterien Behinderung und
Krankheit, das nicht in den Schutzbereich des AGG fällt, nicht immer möglich wäre.
Der zweite Punkt hingegen bereitet mehr Schwierigkeiten. Das Erfordernis der
Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand ist dem Behinderungsbegriff in anderen europäischen Antidiskriminierungsgesetzen fremd183. Bedenken
werden dahingehend geäußert, dass dieses Erfordernis den Kreis der vom Antidiskriminierungsrecht geschützten Personen über Gebühr einengen könnte, da alterstypische Schädigungen nicht mehr als Behinderung anzusehen seien, obwohl sie die
Teilhabe beeinträchtigten184. Allerdings schlagen diese Bedenken nicht durch, wenn
die deutsche Definition restriktiv verstanden wird. Das Erfordernis der Abweichung
von dem für das Lebensalter typischen Zustand darf demnach nur als Abgrenzung
zum ebenfalls im AGG enthaltenen Kriterium Alter verstanden werden. Medizinisch
nachweisbare Schädigungen, auch wenn sie ab einem bestimmten Lebensalter gehäuft auftreten, bleiben jedoch weiterhin relevant im Sinne des antidiskriminierungsrechtlichen Behinderungsbegriffs. Zu nennen sind beispielweise Blindheit durch
grünen Star oder Demenz wegen Alzheimer.
Damit spricht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache
Chacón Navas grundsätzlich nicht dagegen, den neuen einheitlichen Behinderungsbegriff auch für das AGG zu Grunde zu legen. Mögliche Differenzen können durch
eine europarechtskonforme Auslegung des Erfordernisses der sechsmonatigen Dauer
und des Erfordernisses der Abweichung von dem für das Lebensalter typischen
Zustand vermieden werden.
b) Weitere Anforderungen an einen antidiskriminierungsrechtlichen Behinderungsbegriff
Antidiskriminierungsrecht zugunsten von Menschen mit Behinderung möchte eine
Änderung der sozialen Umwelt bewirken, damit sie sich nicht mehr benachteiligend
gegenüber dieser Personengruppe verhält. Damit beeinflusst diese Rechtsmaterie
durch die Anordnung entsprechender Rechtsfolgen direkt die Kontextfaktoren im
Sinne des relationalen dreigliedrigen Behinderungsverständnisses der ICF185. Dann
ist es aber für eine trennscharfe Abgrenzung sinnvoll, auf Tatbestandsebene möglichst ohne Kontextfaktoren auszukommen und die Rechtsfolgen lediglich an die
Elemente Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung zu knüpfen. Am Beispiel der
USA wurde gezeigt, dass sonst eine Aufweichung des Behinderungsbegriffs derge-
183 Schiek, in: dies., AGG, 2007, § 1 Rn. 42.
184 Rust, in: dies./Falke, AGG, 2007, § 1 Rn. 79; Schiek, in: dies., AGG, 2007, § 1 Rn. 42; vgl.
auch Welti, ZESAR 2007, 47, 48.
185 Dazu oben S. 50 ff.
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stalt droht, dass unliebsame „Trittbrettfahrer“ den Schutz antidiskriminierungsrechtlicher Normen für sich in Anspruch zu nehmen versuchen186.
Der einheitliche deutsche Behinderungsbegriff ist somit gerade wegen seiner Betonung der Partizipationseinschränkung nur bedingt für das Antidiskriminierungsrecht geeignet. Das ist insofern paradox, als dass dieser Begriff mit Blick auf den
Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeführt worden ist und sich dieser
Paradigmenwechsel – wie in der Einleitung gezeigt – idealtypisch im Antidiskriminierungsrecht niederschlagen soll. Die Betonung der Teilhabeeinschränkung im
deutschen Behinderungsbegriff kann also für das AGG nur so verstanden werden,
dass der Regelungszweck, der ja gerade in der Aufhebung der Teilhabebeschränkungen liegt, auf Tatbestandsebene noch mal zum Ausdruck kommt. Das im AGG
angeordnete Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung muss sich hingegen
ausschließlich auf die Elemente der Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung
beziehen, die aber leider sprachlich nur sehr unklar in der Definition des § 2 I
SGB IX und § 3 BGG zum Ausdruck kommen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass sich das Bundesarbeitsgericht bislang nur mit Fällen der Benachteiligung wegen einer Behinderung befasst hat, in denen die Behinderung anhand des
GdB statusrechtlich von der Verwaltung festgestellt worden war187. Damit bestand
bislang noch kein Anlass, den antidiskriminierungsrechtlichen Behinderungsbegriff
in der höchstrichterlichen Rechtssprechung mit eigenen Konturen zu versehen.
Die weitere Anforderung an das Begriffsverständnis im AGG wird also sein, das
Element der Aktivitätsbeeinträchtigung herauszuarbeiten. Dieses ist im vom Europäischen Gerichtshof vertretenen Behinderungsverständnis übrigens auch eindeutig
enthalten188. Wie dies angesichts der jetzigen Formulierung in § 2 I SGB IX und § 3
BGG allerdings geschehen soll, ist unklar. Entweder liest man dieses Element
gleichsam vorgelagert in die erwähnte Beeinträchtigung der Teilhabe hinein. Oder
man deutet den vorangehenden Passus (...wenn ihre körperliche Funktion, geistige
Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs
Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen ...) als Erfordernis der Schädigung und der Aktivitätsbeeinträchtigung gleichzeitig.
4. Zusammenfassung
Die angestrebte Einheitlichkeit und teilhabeorientierte Ausrichtung des deutschen
Behinderungsverständnisses muss bloßes Programm bleiben. Ein Behinderungsbegriff, an den sich subjektive Rechte knüpfen sollen, muss vor allem auf die Elemente
Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung Wert legen. Der neue deutsche Behinderungsbegriff ist jedoch gerade bei diesen Elementen sprachlich schwammig. Im
Sozialrecht bleibt er durch die Ausrichtung auf den Grad der Behinderung (GdB)
186 Dazu oben S. 58.
187 Dazu näher unten S. 121 ff.
188 Vgl. zur Dreigliedrigkeit des Behinderungsbegriffs des EuGH Welti, ZESAR 2007, 47.
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weiterhin in erster Linie schädigungsorientiert. Für das Antidiskriminierungsrecht
müsste die auf der Schädigung beruhende Aktivitätsbeeinträchtigung besser herausgearbeitet werden.
C. Schlussbetrachtung: bereichsspezifische Behinderungsbegriffe in den USA gegen
Einheitsdefinition in Deutschland
Ein dreigliedriger relationaler Behinderungsbegriff kann zwar den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik programmatisch abbilden, führt für eine rechtliche
Verfolgung des Paradigmenwechsels speziell mit Hilfe von Antidiskriminierungsgesetzen jedoch nicht weiter. Das U.S.-amerikanische Recht zeigt, dass ein Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung am besten ausschließlich an die Elemente
Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung anknüpft. Das Element der Partizipationsbeeinträchtigung kann auf Tatbestandsebene nur den allgemeinen Normzweck
verdeutlichen. Die vom deutschen Gesetzgeber angestrebte Rezeption des Paradigmenwechsels der Behindertenpolitik durch einen einheitlichen, teilhabeorientierten
Behinderungsbegriff für alle Rechtsgebiete hat lediglich Programmcharakter. Für
das Sozialrecht bleibt es ohnehin bei einer schädigungsorientierten Betrachtungsweise. Für das Antidiskriminierungsrecht kann der einheitliche deutsche Behinderungsbegriff zwar gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden, die entscheidenden Elemente der Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung kommen in ihm jedoch sprachlich nur unvollkommen zum Ausdruck. Die Rezeption des
Paradigmenwechsels der Behindertenpolitik durch den neuen einheitlichen Behinderungsbegriff hat für die Fortentwicklung des Antidiskriminierungsrechts speziell für
Menschen mit Behinderung keinen Fortschritt gebracht.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.