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2. Kapitel: Was ist Behinderung?
A. Allgemeines Begriffsverständnis
Das Wort Behinderung wird im deutschen Sprachraum erst seit relativer kurzer Zeit,
nämlich seit dem Ende des 1. Weltkrieges, dazu gebraucht, um die Situation von
Menschen mit einer Funktionsstörung medizinischen Ursprungs zu bezeichnen.
Zunächst waren die Begriffe „Behinderter“ und „Krüppel“ synonym – Behinderung
meinte also ausschließlich eine körperliche Schädigung111. Später differenzierte sich
der Terminus Behinderung aus, um die diversen möglichen Schädigungsebenen
bzw. die spezifische Funktionsstörung näher zu benennen. So ist heute von körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen, im pädagogischen Kontext auch von
Lernbehinderungen die Rede.
Die Auffassung darüber, welche Faktoren das Phänomen Behinderung (englisch
disability) maßgeblich verursachen, beeinflusst die genaue begriffliche Konturierung. Die Debatte ist mittlerweile vollständig internationalisiert, so dass die folgenden Ausführungen sowohl für den deutschen als auch den U.S.-amerikanischen
Sprachgebrauch gelten. Zunächst sollen die zwei möglichen Extrempositionen kurz
geschildert werden, um dann das heute vorherrschende kombinierte Modell vorzustellen.
I. Medizinisches contra soziales Behinderungsmodell
Das medizinische Modell versteht das Phänomen Behinderung als alleinige Folge
von biologisch gearteten Defiziten. Damit wird das Individuum zum hauptsächlichen Problemträger – entsprechend müssen Problemlösungsstrategien auch beim
Menschen mit Behinderung selber ansetzen112. Hingegen versteht das soziale Modell
in seiner radikalen Ausprägung das Phänomen Behinderung als politisch-soziales
Konstrukt. Menschen mit Behinderung sind demnach in erster Linie eine politische
Minderheit, was diesem Modell im englischen Sprachkreis auch den Namen minority group model verschafft hat. Problemträger ist die behindernde, also von Barrieren
111 Welti, Behinderung, 2005, S. 55 f.
112 Waddington, Disability, 1995, S. 33 f.; Crossley, 74 Notre Dame L. Rev. (1999), 621, 649 ff.;
Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz, 2002, S. 167 ff.; vgl. auch für die Sonderpädagogik Reichenbach, Anspruch behinderter Schülerinnen und Schüler, 2001, S. 125 f.
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geprägte, Umwelt, auf die das Individuum trifft. Lösungsstrategien müssen bei einer
Veränderung der Umweltbedingungen ansetzen113.
Keines der beiden Modelle taugt als befriedigende Erklärung des Lebenssachverhaltes Behinderung. Das medizinische Modell beschreibt zwar eine notwendige,
aber eben keine hinreichende Bedingung, die für die Annahme einer Behinderung
vorliegen muss114. Notwendig ist ein medizinisch-biologisches Defizit deshalb, um
die Besonderheit der Behinderung gegenüber anderen persönlichen Merkmalen wie
Geschlecht oder Hautfarbe zum Ausdruck zu bringen. Allerdings wirken sich nicht
alle medizinisch-biologischen Defizite in einem Maße aus, dass von einer Behinderung gesprochen werden muss. Vielmehr spielen Aspekte wie Kultur sowie die Organisation von Gesellschaft und Arbeitswelt eine entscheidende Rolle. So würden
bestimmte Lernbehinderungen, namentlich Lese- und Rechtschreibschwächen, in
einer nichtalphabetisierten Gesellschaft und Arbeitswelt keine Rolle spielen115. Auch
das „Hören von Stimmen“ muss nicht unbedingt als psychische Behinderung gelten,
sondern kann in einem entsprechenden kulturell-religiösen Umfeld eine besondere
spirituelle Gabe sein.
Das soziale Modell in seiner Reinform ist vor allem als politisch motivierte Gegenbewegung zu einer medizinisch-defizitären Sicht auf Behinderung entstanden116.
Ganz offensichtlich wirkt eine rein defizitorientierte Betrachtungsweise für die Betroffenen als Stigmatisierung, zumal wenn sie entscheidende Umweltfaktoren ausblendet. Ferner leistet ein rein medizinisch-biologisches Defizitmodell politischen
Bestrebungen nach Klassifizierung und Aussonderung bestimmter Menschengruppen Vorschub, was insbesondere während des dritten Reiches in Deutschland die
bekannten schrecklichen Folgen hatte, sich aber bereits in den evolutionär inspirierten, sozialdarwinistischen Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts niederschlug117. Angesichts dieses Befundes war es natürlich naheliegend, die gesellschaftlichen Faktoren, die bei der Manifestation von Behinderungen eine Rolle spielen,
besonders intensiv herauszustellen, um einerseits politisch unerwünschte Folgen zu
vermeiden und andererseits eine verstärkt auf subjektiven Rechten basierende Politik zur Verbesserung der sozialen Bedingungen für Menschen mit Behinderung
entwickeln zu können. Dennoch kann das soziale Model keinen Alleinerklärungsanspruch geltend machen, weil es die medizinischen Probleme, die Menschen mit
bestimmten Behinderungen überwiegend betreffen, nicht thematisiert. Überdies
113 Waddington, Disability, 1995, S. 34; Buch, Grundrecht der Behinderten, 2001, S. 42 ff.;
Scotch, 21 Berkeley J. Emp. & Lab. L. (2000), 213, 214 ff.; Crossley, 74 Notre Dame L. Rev.
(1999), 621, 653 ff.
114 Besonders klar Leder, Diskriminierungsverbot, 2006, S. 119.
115 S. auch Reichenbach, SGb 2002, 485, 487.
116 Für die USA vgl. Scotch, 21 Berkeley J. Emp. & Lab. L. (2000), 213, 214 ff.; aus deutscher
Sicht Straßmair, Der besondere Gleichheitssatz, 2002, S. 169 f.
117 Aus U.S.-amerikanischer Sicht etwa Baynton, Forbidden Signs, 1996, S. 37 ff. mit einer
Darstellung, wie evolutionäres Denken die Behandlung von gehörlosen Menschen und Gebärdensprache in den USA Ende des 19. Jahrhunderts beeinflusste; allgemein Hofstadter,
Social Darwinism, 1944.
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kann es deren Hilfsbedürftigkeit im Sinne eines Angewiesenseins auf andere Menschen bei täglichen Verrichtungen trotz einer weitgehend barrierefrei gestalteten
Umwelt nicht befriedigend erklären.
II. Kombiniertes Behinderungsmodell
Da sowohl das medizinische als auch das soziale Modell wichtige Faktoren des
Phänomens Behinderung herausarbeiten, liegt es auf der Hand, beide Modelle miteinander zu kombinieren. Zum ersten kann so eine umfassende Erklärung von Behinderung erreicht werden. Zum zweiten muss man sich nicht aufgrund des Begriffsverständnisses auf ein bestimmtes Reaktionskonzept gegenüber dem Lebenssachverhalt Behinderung festlegen, sondern bleibt offen für vielfältige Strategien.
Anhand der international standardisierten Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) soll das heute gängige kombinierte Modell von Behinderung aufgezeigt
werden. Dann wird dieses Modell in der Begrifflichkeit vorgestellt, die in der
Rechts- und Sozialwissenschaft heute üblich ist.
1. Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Einen besonders aktuellen, international bedeutsamen Niederschlag hat die Erkenntnis, dass Behinderung (disability) ein komplexes, multifaktorielles Geschehen in
und um einen Menschen ist, in der International Classification of Functioning, Disability and Health (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF) gefunden. Diese Klassifikation ist im Mai 2001 von der
54. Vollversammlung der WHO verabschiedet worden118 und liegt seit 2005 in ihrer
endgültigen deutschen Übersetzung vor119. Die ICF ist ein praxisnahes Instrument,
das in einheitlicher und standardisierter Form einen Rahmen zur Beschreibung von
Gesundheitszuständen und mit Gesundheit zusammenhängenden Zuständen zur
Verfügung stellt120.
Die ICF verlässt das eher defizitorientierte Krankheitsfolgenmodell, welches die
WHO noch im vorangegangenen Klassifikationssystem International Classification
of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) von 1980 vertreten hatte121.
Danach war Behinderung eine Kausalkette von Schädigung (impairment), Funktionsbeeinträchtigung (disability) und sozialer Beeinträchtigung (handicap), wobei
die medizinisch-biologische Schädigung an erster Stelle stand und die funktionale
118 Resolution WHA 54.21.
119 Deutschsprachige Veröffentlichung durch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), Köln, Stand Oktober 2005 (http://www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icf/endfassung/icf_endfassung-2005-10-01.pdf).
120 ICF (deutsche Fassung), 1., S. 9.
121 Resolution WHA 29.35.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.