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II. Definitionen von Behinderung im U.S.-amerikanischen Bundesrecht
Am Bundesrecht der Vereinigten Staaten von Amerika lassen sich sowohl die Anforderungen an einen rechtlich operablen Behinderungsbegriff als auch die Gefahren
abbilden, die entstehen, wenn der Behinderungsbegriff selber Elemente der Partizipationsbeeinträchtigung enthält. Es wird zu zeigen sein, dass die Mechanismen, mit
deren Hilfe der Kreis der Rechtsträger eingegrenzt wird, im Antidiskriminierungsrecht andere sind als im sozialen Leistungsrecht.
1. Behinderungsbegriff im Antidiskriminierungsrecht
Das U.S.-amerikanische Behinderungsverständnis im Antidiskriminierungsrecht ist
zweigliedrig und basiert allein auf den Komponenten Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung. Grundlegend ist folgende Begrifflichkeit: „The term ‘disability’
means a physical or mental impairment that substantially limits one or more major
life activities“. Diese Definition entstammt dem Rehabilitation Act of 1973, wo sie
für die gleichstellungsrechtlichen Vorschriften gilt141, und wurde im Jahr 1990 vom
Americans with Disabilities Act (ADA) beinahe wortgleich übernommen142.
Der gesetzliche Behinderungsbegriff im U.S.-Bundesrecht erfüllt damit die in
subjektiv-rechtlicher Hinsicht entscheidende Zuordnungsfunktion auf sprachlich
prägnante und knappe Weise. Die Schädigung (impairment) muss Ursache der Aktivitätsbeeinträchtigung (limits one or more ... life activities) sein. Eine Eingrenzung
findet allein bei der Aktivitätsbeeinträchtigung statt, die major, also bedeutend,
wesentlich oder sehr wichtig, sein muss. Dieser zweigliedrige Begriff ist im Grundsatz geeignet, das Element der Partizipationsbeeinträchtigung auf Tatbestandsseite
auszublenden. Allerdings ist dafür Voraussetzung, dass die bedeutende Lebensaktivität (major life activity) nach Möglichkeit frei von Kontextfaktoren verstanden
wird. Denn wenn Kontextfaktoren, insbesondere Einflüsse der sozialen Umwelt, in
den Behinderungsbegriff Eingang finden, droht der beschriebene Zirkelschluss.
Allerdings ist die Ausblendung von Kontextfaktoren nicht ganz einfach, wie
sogleich zu sehen sein wird.
141 29 U.S.C. § 705(9)(B).
142 Lediglich die personale Anknüpfung wird näher spezifiziert: „The term ‘disability’ means,
with respect to an individual, a physical or mental impairment that substantially limits one or
more major life activities of such individual“, 42 U.S.C. § 12102(2)(A).
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a) Präzisierung der major life activities auf Verordnungsebene
Die Equal Employment Opportunity Commission (EEOC) präzisiert in ihren regulations zu Title I des ADA die bedeutenden Lebensaktivitäten wie folgt: „Major Life
Activities means functions such as caring for oneself, performing manual tasks,
walking, seeing, hearing, speaking, breathing, learning, and working“143.
Grundsätzlich beschränkt sich die Aktivitätsbeeinträchtigung also auf unmittelbar
der eigenen Person anhaftenden, elementaren Fähigkeiten wie Sehen, Gehen, Hören,
Sprechen etc. Demgegenüber stellt die Aktivität Arbeiten (working) einen Fremdkörper dar. Gemeint ist damit Erwerbsarbeit, also eine in hohem Maße sozial gestaltete Aktivität, die zahlreiche Kontextfaktoren enthält. Zwar schränkt die EEOC in
ihren regulations die Einreihung von Arbeit in die wichtigen Lebensvorgänge dadurch wieder ein, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Fähigkeit zu arbeiten
nur dann angenommen werden kann, wenn eine ganze Klasse oder breitgefächerte
Reihe von Jobs wegen der Schädigung nicht angetreten werden können, obwohl die
durchschnittliche Person mit einer vergleichbaren Qualifikation solche Jobs ausführen kann144. Dennoch führt diese Aufladung des Merkmals major life activity mit
Kontextfaktoren zu erheblichen Folgeproblemen, die das Gesamtkonzept des an sich
griffigen Behinderungsverständnisses aufweichen. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung soll die Schwierigkeiten verdeutlichen.
b) Rezeption in der Rechtsprechung am Beispiel Sutton v. United Airlines145
Im Juni 1999 entschied der Supreme Court über die Klage zweier Schwestern, denen
die Anstellung als Frachtpilotin von der Fluggesellschaft United Airlines verweigert
worden war, weil sie ohne optische Korrektur die Anforderungen der Fluggesellschaft an das Sehvermögen ihrer Piloten nicht erfüllten. Die Klägerinnen sahen sich
wegen einer Behinderung benachteiligt und beschritten den Rechtsweg. Sie begründeten das Vorliegen einer Behinderung damit, dass ihre Sehschädigung zu einer
erheblichen Beeinträchtigung des Lebensvorgangs Arbeit führte. Kernfrage des
Prozesses war, ob die mögliche Korrektur der Sehschädigung durch das Tragen von
Brille bzw. Kontaktlinsen eine Rolle bei der Beurteilung der Behinderung spielen
durfte oder ob die Korrektur außer Betracht bleiben musste.
Die Mehrheit des Supreme Court entschied dafür, Korrekturmöglichkeiten (mitigating measures) für den Zusammenhang zwischen Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung eine Rolle spielen zu lassen. Es komme auf die individuelle und gegenwärtige Auswirkung der Schädigung auf eine zentrale Lebensaktivität an. Sofern
143 29 C.F.R. § 1630.2(i).
144 29 C.F.R. § 1630.2(j)(3).
145 527 U.S. 471 (1999). Die Sutton-Rechtsprechung ist in zwei weiteren Entscheidungen bestätigt worden: Murphy v. United Parcel Service, 527 U.S. 515 (1999) und Albertson’s Inc. v.
Kirkingburg, 527 U.S. 555 (1999).
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es wegen der Korrektur keinerlei oder doch keine erhebliche Auswirkung gäbe, liege
keine Behinderung im Sinne des Gesetzes vor146. Dieses Argument wird damit untermauert, dass ansonsten der Kreis der vom ADA geschützten Personen zahlenmä-
ßig ausufern würde, was vom Gesetzgeber nicht intendiert gewesen sei147. Im Übrigen müsse es einen Bereich geben, innerhalb dessen ein Arbeitgeber seine Präferenzen frei durchsetzen dürfe148.
Das Mehrheitsvotum des Supreme Court ist für diese Entscheidung scharf kritisiert worden149: Korrekturmaßnahmen dürften keinen Einfluss auf die Frage haben,
ob eine Schädigung zu einer erheblichen Aktivitätsbeeinträchtigung führe. Dies
erweitere den Kreis der vom ADA geschützten Personen zwar, ließe die Arbeitgeber
aber keinesfalls schutzlos zurück. Solange sie darlegen könnten, dass eine bestimmte
Anforderung wesentlich für die Erfüllung einer Stelle sei, könnten sie auf das Vorliegen auch gewisser körperlicher Fähigkeiten bestehen.
Die so ausführlich diskutierte Frage nach dem Einfluss von mitigating measures
betrifft jedoch nur einen Teil des Problems. Der Kern der Schwierigkeiten liegt
darin, dass die zur Behinderung führende Aktivitätsbeeinträchtigung anhand der
Aktivität „Arbeit“ begründet wird. Diese Strategie führt in den bereits geschilderten
Zirkelschluss, das Vorliegen einer Behinderung damit zu begründen, dass die Anforderungen des Arbeitgebers an einen Job sich im konkreten Fall als behindernd,
nämlich als ausschließend, erweisen. Darauf rekurrierten auch die Klägerinnen in
Sutton, indem sie der Beklagten vorhielten, von Vorurteilen und Stereotypen (myth
and stereotype) geprägte Anforderungen an das Sehvermögen der Pilotenaspiranten
zu stellen150. Das Geschmäcklerische an dieser Strategie ist, dass Personen, die mit
keinerlei Beeinträchtigungen in ihrer täglichen Lebensführung zu kämpfen haben,
sich zum Zwecke der persönlichen Chancenoptimierung am Arbeitsmarkt als behindert deklarieren können151. Genau diesem Umstand wollte die Mehrheit des
Supreme Court auch vorbeugen, was vor allem Ginsburg in ihrer concurring opinion
bemerkenswert klar formuliert152. Das Mehrheitsvotum lässt immerhin anklingen,
dass die Rezeption von sozialen Kontextfaktoren beim Behinderungsbegriff, die bei
Anerkennung von Arbeit als beeinträchtigter Aktivität unvermeidlich ist, zu konzeptionellen Schwierigkeiten führt153.
146 527 U.S. 471, 482 ff.
147 527 U.S. 471, 484 ff.
148 527 U.S. 471, 490. – Zur weitgehenden Einschränkung dieser Durchsetzung von Arbeitgeberpräferenzen gegenüber Arbeitnehmern mit Behinderung unten S. 103 ff.
149 Allen voran die Richter Stevens und Breyer im Minderheitsvotum, 527 U.S. 471, 495 ff. u.
513 ff.; aus den zahlreichen Aufsätzen etwa Diller, 21 Berkeley J. Emp. & Lab. L. (2000),
19 ff.; Henderson, 52 Fla. L. Rev. (2000), 849 ff.; Holmes, 52 Me. L. Rev. (2000), 425 ff.
150 527 U.S. 471, 490.
151 In diese Richtung aus den zahlreichen Aufsätzen etwa Dunn, 43 Wm. & Mary L. Rev. (2000),
1265 ff., bes. 1268 und 1295; Testerman, 77 Den. U. L. Rev. (2000), 165 ff., bes. 195.
152 527 U.S. 471, 494 f.
153 In den Worten des Supreme Court: „some conceptual difficulty“, 527 U.S. 471, 492.
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Möglicherweise wäre die Entscheidung Sutton weniger umstritten gewesen, wenn
als erheblich beeinträchtigte Lebensaktivität nicht Arbeit, sondern Sehen zur Debatte
gestanden hätte154. Fragen des Einflusses von Korrekturmöglichkeiten hätten dann
beim Tatbestandsmerkmal „Erheblichkeit der Aktivitätseinschränkung“ (substantial
limitation of a major life activity) wertend einbezogen werden können, ohne mit
dem möglicherweise diskriminierenden Anforderungsprofil der zu besetzenden
Stelle vermischt zu werden. Obwohl der Supreme Court im Ergebnis eine völlige
Auflösung des Behinderungsbegriffs und seiner Zuordnungsfunktion vermeiden
konnte, muss wieder mit dogmatischen Schwierigkeiten gerechnet werden, solange
Arbeit zu den beeinträchtigten Aktivitäten gehört. Immerhin empfiehlt die EEOC als
Verordnungsgeberin eine subsidiäre Lesart dieser Aktivität, die nur zum Tragen
kommen soll, wenn kein anderer wichtiger Lebensvorgang beeinträchtigt ist155.
c) Lehren für den Behinderungsbegriff des Antidiskriminierungsrechts
Die Erfahrung aus den USA zeigt, dass ein konsequent zweigliedriges Behinderungsverständnis mit den Elementen Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung für
das Antidiskriminierungsrecht ohne Alternative ist. Das Antidiskriminierungsrecht
zielt auf eine Verhaltensänderung anderer Rechtsteilnehmer und wirkt so direkt auf
Kontextfaktoren ein. Soll Antidiskriminierungsrecht auf eine Akzeptanz bei denjenigen stoßen, die ihr Verhalten danach ausrichten müssen, ist es unerlässlich, dass
der Kreis der durch dieses Recht geschützten Personen klar bestimmt ist. Bei dem
Merkmal Behinderung ist dies nur möglich, wenn die Definition des Tatbestandsmerkmals von Kontextfaktoren freigehalten wird. Zentrales Element eines antidiskriminierungsrechtlichen Behinderungsbegriffes muss die Aktivitätsbeeinträchtigung sein, wobei nur elementare Lebensaktivitäten, die möglichst wenig von Kontextfaktoren beeinflusst werden können, in Frage kommen. Eine Eingrenzung des
durch das Antidiskriminierungsrecht geschützten Personenkreises ist möglich, indem die Aktivitätsbeeinträchtigung eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten muss. Die Schädigung steht im Antidiskriminierungsrecht hingegen im Hintergrund. Man darf annehmen, dass das Verhalten der anderen Rechtsteilnehmer sich
eher an der Manifestation der Schädigung nach außen ausrichtet als an der Schädigung selber. Die Schädigung wird nur in den Fällen interessant, wenn sie mit
irrationalen Zuschreibungen nach dem Motto „gehörlose Menschen können keine
geistig anspruchsvolle Arbeit leisten“ belegt wird. Allerdings ist die Schädigung
insofern unerlässlich, als dass die Aktivitätsbeeinträchtigung gerade aus ihr folgen
muss, damit eine Behinderung im Rechtssinne und keine sonstige Beeinträchtigung
vorliegt.
154 Kritischer Unterton in diese Richtung in 527 U.S. 471, 490: „Petitioners do not make the
obvious argument that they are regarded due to their impairments as substantially limited in
the major life activity of seeing.”
155 29 C.F.R. Pt. 1630 App. zu § 1630.2(j).
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2. Behinderungsbegriff im Sozial- und Rehabilitationsrecht
Der Behinderungsbegriff des Sozialrechts muss ebenfalls eine eindeutige Zuordnungsfunktion erfüllen. Allerdings zwingt dieser Rechtsbereich nicht in erster Linie
andere Rechtsteilnehmer zu einer Änderung ihres Verhaltens, sondern soll für eine
gerechte Verteilung von staatlichen Leistungen an besonders bedürftige Empfänger
sorgen. Der Behinderungsbegriff dient in diesem Kontext also vor allem als Kriterium für eine bedarfsgerechte Vergabe von (knappen) staatlichen Mitteln. Diese unterschiedliche Zielsetzung hat Auswirkungen auf die Behinderungsdefinition.
a) Definition des U.S.-amerikanischen Rehabilitationsrechts
Der für die Vergabe von Leistungen der beruflichen Rehabilitation einschlägige
Behinderungsbegriff des Rehabilitation Act lautet: „The term ‘disability’ means a
physical or mental impairment that constitutes or results in a substantial impediment to employment“156. Gerade angesichts der vorangegangen Ausführungen überrascht diese Definition, weil sie neben der Schädigung (impairment) nicht die Aktivitätsbeeinträchtigung, sondern allein die Partizipationsbeeinträchtigung an der
Erwerbsarbeit (impediment to employment) herausstellt. Diese scheinbare Unstimmigkeit lässt sich mit dem Zweck der Definition erklären. Mit Hilfe dieses Behinderungsbegriffs soll sichergestellt werden, dass die beruflichen Rehabilitationsleistungen auch tatsächlich zweckgerichtet vergeben werden. Denn nur wenn überhaupt
eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Berufsleben besteht, machen derartige Leistungen Sinn. Das Erfordernis der Partizipationsbeeinträchtigung betont somit den
Normzweck und hat allenfalls eine Eingrenzungsfunktion. Nur wenn eine Beeinträchtigung der Partizipation tatsächlich vorliegt, hat eine Person mit einer Schädigung auch eine Behinderung im Sinne des beruflichen Rehabilitationsrechts und
damit Anspruch auf Leistungen.
b) Schädigungszentrierte Eingrenzung mittels des Listing of Impairments
Hauptsächlicher Anknüpfpunkt für die Vergabe von Sozialleistungen ist jedoch
nicht die Partizipationsbeeinträchtigung, sondern die für sie ursächliche Schädigung
(impairment). Also muss die notwendige Eingrenzung des berechtigten Personenkreises mit Hilfe dieses Merkmals erfolgen. Hierfür verweist der Rehabilitation Act
auf das Sozialversicherungs- und Sozialhilferecht für Menschen mit Behinderung157.
156 29 U.S.C. § 705(9)(A); entsprechende Definition von Person mit Behinderung in 29 U.S.C. §
720 (20)(A).
157 29 U.S.C. § 722(a)(3) verweist auf Title II (Social Security Disability Insurance – SSDI) und
Title XVI (Supplemental Security Income – SSI) des Social Security Act. Dazu ausführlich
unten S. 186 f. u. 188 f.
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Dort werden schon im Gesetzestext deutlich erhöhte Anforderungen an die Schädigung gestellt, insbesondere muss sie seit mindestens 12 Monaten bestehen158. Praktisch noch wichtiger bei Beurteilung der Frage, ob eine Behinderung zu einer Erwerbsunfähigkeit geführt hat, ist jedoch das sogenannte Listing of Impairments159.
Diese Liste benennt positiv diejenigen Schädigungen, bei denen eine Erwerbsunfähigkeit überhaupt angenommen werden darf, indem sie Leitlinien zur Bewertung
von Gesundheitsstörungen gibt und nach betroffenen Körperregionen geordnet die
möglichen Schädigungen einzeln aufzählt160.
Angesichts dieser Regelungstechnik wird nochmals deutlich, dass der sozial- und
rehabilitationsrechtliche Behinderungsbegriff in den USA praktisch ausschließlich
schädigungsorientiert ist. Die Partizipationsbeeinträchtigung wird letztlich typisierend aus Art und Schwere der Schädigung ermittelt. Grund für die Gewährung von
staatlichen Leistungen ist eine Schädigung bestimmten Ausmaßes.
3. Zusammenfassung
Der Behinderungsbegriff im U.S.-amerikanischen Recht ist immer zweigliedrig und
basiert stets auf dem Vorliegen einer Schädigung (impairment). Im Antidiskriminierungsrecht kommt als zweites Element die aus der Schädigung resultierende Aktivitätsbeeinträchtigung (substantially limits a major life activity) hinzu. Benachteiligungen der Umwelt dürfen weder an das eine noch an das andere Element anknüpfen. Fließen in die beeinträchtigte Aktivität umweltbedingte Kontextfaktoren ein –
finden also Elemente der Partizipationsstörung Eingang in die Behinderungsdefinition – führt das in diesem Rechtsbereich zu weitreichenden Abgrenzungsschwierigkeiten.
Im beruflichen Rehabilitationsrecht enthält der zweigliedrige Behinderungsbegriffs anstelle der Aktivitätsbeeinträchtigung als zweites Glied die Partizipationsbeeinträchtigung (impediment to employment), die aber letztlich nur den Normzweck
wiederholt. Die Leistungsvergabe knüpft faktisch ausschließlich an die Schädigung
an, so dass man auch mit einem rein schädigungsbasierten Behinderungsbegriff
auskäme.
Eine Rezeption des relationalen Verständnisses wird mit Hilfe des rechtlichen
Verständnisses von Behinderung nicht angestrebt. Der Verwirklichung des Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik, dessen Impulse ja maßgeblich von der
antidiskriminierungsrechtlichen Entwicklung in den USA ausgingen161, war dies
offenbar nicht abträglich.
158 42 U.S.C. § 416(i), § 423(d) und § 1382c(a)(3): Alternativ sind auch solche Schädigungen
anerkannt, die zum Tod führen.
159 20 C.F.R. Pt. 404, Subpt. P, App. 1.
160 Cebula/Landry, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 10.8.5.
161 Ausführlich dazu unten S. 90 ff.
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III. Behinderungsbegriff im deutschen Recht
Anders als das U.S.-amerikanische Bundesrecht geht das deutsche Recht – auch um
den Paradigmenwechsel der Behindertenpolitik voranzubringen – neuerdings von
einem einheitlichen Behinderungsbegriff aus162. Allerdings ist dieses Vorgehen eher
idealtypisch. Es wird zu zeigen sein, dass im sozialrechtlichen Bereich allein schädigungsorientierte Differenzierungen vorgenommen werden. Mit einer Anwendung
des einheitlichen Behinderungsbegriffs im Antidiskriminierungsrecht bestehen bislang keine nennenswerten Erfahrungen. Zu untersuchen ist vor allem, wie sich die
europarechtlichen Vorgaben der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auswirken und welche Präzisierungen für ein antidiskriminierungsrechtlich brauchbares Behinderungsverständnis noch vorzunehmen sind.
1. Einheitlicher Behinderungsbegriff
Das deutsche Bundesrecht definiert Behinderung folgendermaßen:
„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ 163.
Diese Definition ist sowohl Teil des Sozialrechts in § 2 I 1 SGB IX als auch des
Behindertengleichstellungsgesetzes in § 3 BGG. Ausweislich der Gesetzesbegründung zum SGB IX wollte der Gesetzgeber mit dieser teilhabeorientierten Begriffsbestimmung das in der ICF angelegte Partizipationsmodell besonders hervorheben164. Daher geht die Literatur praktisch einhellig davon aus, dass dieser Behinderungsbegriff auch für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu Grunde
zu legen ist, dessen Ziel ja schließlich die verbesserte Teilhabe von Menschen mit
Behinderung mit Mitteln des zivilrechtlichen Antidiskriminierungsrechts ist165.
Der neue Behinderungsbegriff geht zwar nicht soweit, im Sinne des relationalen
Verständnisses die Kausalität zwischen Schädigung, Aktivitätsbeeinträchtigung und
Partizipationsbeeinträchtigung aufzulösen. Allerdings betont er das Element der
162 Darstellung der zahlreichen unterschiedlichen Begriffe, die vor der Vereinheitlichung galten
bei Reichenbach, Anspruch behinderter Schülerinnen und Schüler, 2001, S. 113 ff.
163 Abweichende landesrechtliche Behinderungsbegriffe finden sich in Berlin (§ 4 Gesetz über
die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung des Landes Berlin) und in
Sachsen-Anhalt (§ 2 I Gesetz für Chancengleichheit und gegen Diskriminierung behinderter
Menschen im Land Sachsen-Anhalt). Beide Definitionen sind wie auch der bundesrechtliche
Behinderungsbegriff gleichstellungsrechtlich ausgerichtet und betonen die Rolle der Kontextfaktoren für die Behinderung.
164 BT-Drs. 14/5074 v. 16.01.2001, S. 98.
165 Z.B. Däubler, in: ders./Bertzbach, AGG, 2007, § 1 Rn. 75; Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2007, Rn. 204 f.; Annuß, BB 2006, 1629, 1631; Schneider-Sievers, in:
Kohte/Dörner/Anzinger, FS Wissmann, 2005, S. 588, 590.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.