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III. Berufliche Rehabilitation im Recht der USA
Es ist nicht möglich, die rechtlichen Grundlagen der Leistungen zur beruflichen
Rehabilitation als zu einem einheitlichen „Recht auf Rehabilitation“ verbundene
Ansprüche darzustellen. Hauptursache hierfür ist das fragmentierte Sozialsystem der
Vereinigten Staaten, das im Übrigen nur lückenhaft Leistungen bereithält. Daher
werden die drei Hauptträger beruflicher Rehabilitation, die Voraussetzungen des
Leistungsbezugs sowie die Leistungsgrenzen separat erörtert. Soweit für das Verständnis erforderlich, wird eine allgemeine Beschreibung von Aufgabe und Funktionsweise des jeweiligen Leistungsprogramms im Gesamtsystem der USA vorangestellt.
1. Vocational Rehabilitation Services
Die Vocational Rehabilitation Services sind die wichtigsten staatlichen Anlaufstellen, um Leistungen zur beruflichen Rehabilitation in den USA zu erhalten. Die Leistungsgewährung erfolgt einheitlich auf Grundlage von Titel I des Rehabilitation Act
of 1973, dessen zentrale Antidiskriminierungsregelung bereits thematisiert worden
ist667. Obwohl dieses Gesetz potentiell ein umfassendes, modernes Recht auf berufliche Rehabilitation gewährt, wird zu zeigen sein, dass dieses Recht tatsächlich nur
von sehr begrenzten Teilen der amerikanischen Bevölkerung realisiert werden kann.
a) Hintergrund
Besonders drei Aspekte sind von Interesse: erstens der historische Hintergrund,
zweitens die Gesetzgebungs- und drittens die Verwaltungskompetenz für den Rehabilitation Act.
aa) Geschichte
Bundesweite staatliche Leistungen zur beruflichen Rehabilitation wurden 1918 mit
dem Smith-Sears Act668 und 1920 mit dem Smith-Fess Act669 erstmalig in den USA
eingeführt. Den Anstoß dazu gab die Heimkehr der Veteranen des ersten Weltkrieges. Schon bald wurde die berufliche Rehabilitation jedoch unabhängig von der
Behinderungsursache auf alle Menschen mit Körperbehinderung ausgedehnt670. Das
667 Oben S. 91 ff.
668 Public Law 65-178 v. 27.6.1918.
669 Public Law 66-236.
670 Scotch, in: Longmore/Umansky, Disability History, 2001, S. 375, 381.
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damals entstandene, 1935 bundesweit implementierte System der beruflichen Rehabilitation besteht in seinen Grundzügen bis heute fort und ist zur Zeit in Title I des
Rehabilitation Act of 1973671 geregelt. Charakteristisch für dieses System ist eine
Mischfinanzierung durch Bund und Gliedstaaten, die Auswirkung sowohl auf die
Gesetzgebungs- als auch auf die Verwaltungskompetenz hat.
bb) Gesetzgebungskompetenz
Title I des Rehabilitation Act regelt die Bereitstellung und Verwaltung staatlicher
Leistung für Bedürftige und gehört damit zur Wohlfahrtsgesetzgebung. Dieser
Sachbereich untersteht klassischerweise den Gliedstaaten als sogenannte police
power, die ganz allgemein Regelungen zum Schutze der Sicherheit, Gesundheit,
Moral und Wohlfahrt der Bevölkerung umfasst672. Der Bund kann die Gesetzgebungskompetenz in einem derartigen Sachbereich nur mit Hilfe eines Ausgabengesetzes nach der in Art. I § 8 Cl. 1 der Verfassung enthaltenen spending power an
sich ziehen. Der Supreme Court konstruiert diese Gesetzgebungskompetenz in ständiger Rechtsprechung als Quasi-Vertrag, wobei die Annahme der Bundesmittel mit
einer Einschränkung der ansonsten bei den Gliedstaaten liegenden Sachkompetenz
im fraglichen Bereich verbunden ist673. Diese dem deutschen Verfassungsrecht
fremde „Usurpation“ von Sachkompetenzen durch den Bund auf dem Umweg einer
Ausgabenkompetenz erscheint deshalb gerechtfertigt, weil es den Einzelstaaten
theoretisch zumindest offen steht, auf das Angebot der Bundesmittel zu verzichten
und damit die Gesetzgebungskompetenz in vollem Umfang zu behalten674. Generell
ist für die Verfassungsmäßigkeit von Förderprogrammen auf Grundlage der spending clause erforderlich, dass ein Gemeinwohlzweck verfolgt wird und dass die
Förderbedingungen hinreichend bestimmt festgelegt sind, damit die Einzelstaaten
eine informierte Entscheidung über ihre Teilnahme treffen können. Ferner sollen die
Förderbedingungen in einer nachvollziehbaren Beziehung zum Förderzweck stehen675.
671 Public Law 93-112 v. 26.9.1973.
672 So die noch immer maßgebliche Definition in Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 53 (1905).
673 Nur Pennhurst State School v. Halderman, 451 U.S. 1, 17 (1981); Barnes v. Gorman,
536 U.S. 181, 186 (2002). – Aus der neueren, zunehmend kritischen Aufsatzliteratur etwa
Note, 107 Harv. L. Rev. (1994), 1419, 1427; Luken, 70 U. Cin. L. Rev. (2002), 693, 696.
674 Praktisch hingegen kann von einem solchen Wahlrecht der Gliedstaaten nicht ausgegangen
werden – die spending clause ist das zentrale Instrument, mit dessen Hilfe der Bund als sozialpolitischer Akteur aktiv werden kann, näher S. 237.
675 Allgemein South Dakota v. Dole, 483 U.S. 203, 207 f. (1987); bestätigt etwa durch New York
v. U.S., 505 U.S. 144, 171 f. (1992): (1) Die Ausübung der spending power muss Gemeinwohlinteressen dienen, wobei dem Kongress ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt, (2)
die Förderbedingungen müssen hinreichend bestimmt festgelegt sein, damit die Einzelstaaten
eine informierte Entscheidung über ihre Teilnahme treffen können, (3) die Förderbedingungen sollen in einer nachvollziehbaren Beziehung zum Förderzweck stehen, und (4) das Gesetz
muss im Übrigen verfassungsgemäß sein.
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Title I des Rehabilitation Act of 1973 entspricht diesem Profil eines auf die spending clause gestützten Förderprogrammes. Allgemeines Ziel des Gesetzes ist die
Verbesserung der Berufschancen, wirtschaftlichen Unabhängigkeit und gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen676. Konkretes Ziel von Title I des
Rehabilitation Act ist die Unterstützung der Einzelstaaten beim Aufbau eines Förderprogramms der beruflichen Rehabilitation Behinderter sowie eines entsprechenden Verwaltungsapparats677. Ferner sind die Bereitstellung von Fördergeldern im
Haushaltsplan des Bundes678 sowie der Verteilungsschlüssel der Gelder auf die einzelnen Staaten und weitere Einzelheiten des Finanztransfers679 geregelt. Schließlich
sind die inhaltlichen Voraussetzungen detailliert genannt, deren Erfüllung der Gliedstaat in seinem Förderantrag (State plan) nachweisen muss, um in den Genuss der
finanziellen Förderung seines beruflichen Rehabilitationsprogramms für Behinderte
zu kommen680. Dazu gehört auch die Bereitstellung eines eigenen Finanzierungsanteils, was zur bereits erwähnten Mischfinanzierung führt. Das Verhältnis zwischen
Bund und Gliedstaaten beziffert das zuständigen Department of Education mit
78,7% (Bund) zu 21,3% (Gliedstaaten)681.
cc) Verwaltungskompetenz
Die Verwaltungskompetenz der Erbringung der Leistungen zur beruflichen Rehabilitation haben die Gliedstaaten inne. Alle Staaten der USA bieten berufliche Rehabilitationsprogramme für Behinderte als Vocational Rehabilitation Services gemäß
Title I des Rehabilitation Act an und erhalten entsprechende finanzielle Unterstützung durch den Bund. Die Zuständigkeit innerhalb der Gliedstaatenverwaltung liegt
bei einer im Förderantrag bezeichneten Behörde, die das Rehabilitationsprogramm
entweder selbst durchführt oder doch als Aufsichtsbehörde über die zuständigen
kommunalen Behörden fungieren muss682. Einige Staaten haben neben einer für die
allgemeine berufliche Rehabilitation Behinderter zuständigen Behörde eine weitere
Behörde eingerichtet, die sich speziell der beruflichen Rehabilitation von Menschen
mit Sehbehinderungen widmet683. Die Rolle des Bundes bei der Verwaltung der
Leistungen zur beruflichen Rehabilitation beschränkt sich auf eine Rechtsaufsicht,
676 29 U.S.C. § 701(b)(1); vgl. auch Consolidated Rail Corp. v. Darrone, 465 U.S. 624, 626
(1984): “The Rehabilitation Act of 1973 establishes a comprehensive federal program aimed
at improving the lot of the handicapped.”
677 29 U.S.C. § 720(a)(2).
678 29 U.S.C. § 720 (b)-(d).
679 29 U.S.C. §§ 730, 731.
680 29 U.S.C. § 721.
681 34 C.F.R. § 361.60(a)(1).
682 29 U.S.C. § 721(a)(2)(A).
683 Diese Möglichkeit sieht 29 U.S.C. § 721(a)(2)(C) ausdrücklich vor. In Massachusetts etwa
gibt es die Massachusetts Rehabilitation Commission (MRC) und die Massachusetts Commission for the Blind (MCB), Griffin/Mello, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 9.1.
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die sicherstellen soll, dass die bereitgestellten Bundesmittel auch den Vorschriften
des Title I Rehabilitation Act entsprechend verwendet werden684. Sachlich steht die
berufliche Rehabilitation der Bildungsverwaltung nahe685. Auf Bundesebene ist die
Rehabilitation Services Administration dementsprechend eine Abteilung des Department of Education686.
b) Leistungsspektrum
Leistungen zur beruflichen Rehabilitation können alle Behinderten erhalten. Dazu
gehören alle diejenigen Menschen, bei denen eine körperliche oder geistige Schädigung zu einer wesentlichen Einschränkung ihrer Teilnahme am Berufsleben führt687.
Hat die zuständige Behörde eine Behinderung im Sinne des Rehabilitation Act festgestellt688, wird vermutet, dass der Antragsteller von Rehabilitationsmaßnahmen für
die Aufnahme, Sicherung, Beibehaltung oder Wiedererlangung einer Berufstätigkeit
profitieren kann689. Es obliegt der Behörde, diese Vermutung zu widerlegen und
damit den Antragsteller aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten auszuschließen690.
Liegen die Voraussetzungen vor, wird die berufliche Rehabilitation auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen ihm und der Behörde (individualized plan for
employment – IPE) durchgeführt691. Diese Vereinbarung enthält Regelungen sowohl
über das Rehabilitationsziel als auch über die Rehabilitationsmittel692; als Grundregel ist festzuhalten, dass die berufliche Eingliederung so integriert wie möglich in
den normalen Arbeitsmarkt stattfinden soll693. Sowohl hinsichtlich der Festlegung
des Rehabilitationsziels, also der angestrebten Berufstätigkeit, als auch bei der Wahl
der Rehabilitationsmittel zur Erreichung des Zieles hat der Anspruchberechtigte
weitreichende Mitsprachemöglichkeiten, die durch die Rehabilitation Act Amend-
684 29 U.S.C. § 702(b).
685 Zur historischen Entwicklung Berkowitz, Disabled Policy, 1987, S. 155 f.
686 29. U.S.C. §§ 702(a) i.V.m. 705(31).
687 29 U.S.C. § 722(a)(1) i.V.m. § 705(20)(A). – Zur Behinderungsdefinition im U.S.-amerikanischen Sozialrecht bereits oben S. 60 f.
688 Bei der Feststellung einer Behinderung darf die Behörde auf sämtliche vorliegenden und
erreichbaren Daten zugreifen, etwa auf solche die der Schule oder Social Security Administration bereits vorliegen sowie auf sonstige Informationen, die der Antragsteller bereitstellt,
29 U.S.C. § 722(a)(4)(A).
689 29 U.S.C. § 722(a)(2)(A). Eine genaue Definition der möglichen Rehabilitationsziele
(employment outcome) findet sich in 29 U.S.C. § 705(11) sowie in den in der amerikanischen
Verwaltungspraxis noch wichtigeren regulations des zuständigen Ministeriums (z.Z. das Department of Education), insbes. 34 C.F.R. § 361.5(b)(16).
690 Zum Verfahren 29 U.S.C. § 722(a)(5)-(6).
691 29 U.S.C. § 722(b).
692 Hierzu und zu weiteren Bestandteilen des IPE siehe 29 U.S.C. § 722(b)(3).
693 Griffin/Mello, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 9.3. mit Verweis auf 34 C.F.R.
§ 361.45.
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ments of 1998694 noch gestärkt worden sind695. Die Liste der möglichen Rehabilitationsmaßnahmen ist lang – zulässig ist nach dieser Vorschrift praktisch alles, was
irgendwie zielführend ist696. Hierzu gehört auch die subsidiäre Übernahme von medizinischen Behandlungskosten697. Diese nach deutschem Verständnis für den Bereich der beruflichen Rehabilitation artfremde Leistung ist damit zu erklären, dass in
den USA nur ein höchst lückenhaftes System staatlicher Leistungen zur Krankenversicherung besteht, was noch genauer zu erläutern ist698. Durch die subsidiäre
Übernahme medizinischer Kosten ist sichergestellt, dass der Erfolg einer beruflichen
Rehabilitation nicht am Ausbleiben einer notwendigen ärztlichen Behandlung scheitert.
c) Leistungsgrenzen
Der nach Title I Rehabilitation Act allen rehabilitationsfähigen Behinderten dem
Grunde nach zustehende Anspruch unterliegt einer fixen Finanzierungsgrenze und
kann daher nur in begrenzten Fällen überhaupt realisiert werden. Dies ist Konsequenz der Wirkungsweise der spending power, wonach der Bund über die Bereitstellung von Haushaltsgeldern Gesetzgebungskompetenzen an sich ziehen kann. Es ist
nämlich nicht notwendig, dass die Gelder in ausreichender Höhe bereitgestellt werden, um die gesetzlich begründeten Aufgaben umfassend zu erfüllen. Vielmehr
unterscheidet das amerikanische Recht zwischen sogenannten open-ended und
close-ended entitlement programs, wobei nur bei ersteren eine Nachschusspflicht
des Bundes besteht, sofern sich herausstellt, dass sonst nicht alle nach dem Gesetz
Anspruchsberechtigten mit Leistungen versorgt werden können699. Bei letzteren
hingegen ist die jährlich bereitgestellte Fördersumme des Bundes von Anfang an
begrenzt.
Die berufliche Rehabilitation nach Title I Rehabilitation Act ist ein close-ended
entitlement program. Die jährlich vom Bund bereitzustellende Fördersumme orientiert sich an der Vorjahressumme700 und ist nach einem bestimmten Schlüssel auf die
Gliedstaaten umzulegen701. Diese müssen dann ihrerseits im bereits erwähnten Verhältnis von 21,3% Prozent (Gliedstaaten) zu 78,7% (Bund) ihren Eigenanteil in
694 Title IV des Workforce Investment Act of 1998, Public Law 105-220 v. 7.8.1998.
695 Griffin/Mello, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 9.3.1.
696 29 U.S.C. § 723.
697 29 U.S.C. § 723(a)(6).
698 Unten S. 187 f. u. 189 f.
699 Silverstein, 85 Iowa L. Rev. (2000), 1691, 1700 ff., bes. 1702.
700 Die Höhe der Gesamtförderung in einem Haushaltsjahr muss mindest die Höhe des Vorjahres
zuzüglich des Prozentsatzes, in dem die Lebenshaltungskosten gestiegen sind, betragen, vgl.
29 U.S.C. § 720(b)-(d); im Haushaltsjahr 2007 waren $2.837.000.000 – also ca. 2,8 Milliarden U.S.-Dollar – vorgesehen, The Budget of Fiscal Year 2007, S. 352, Identifikationsnr.: 91-
0301-0-1-506, 00.01 (http://www.whitehouse.gov/omb/budget/fy2007/pdf/appendix/edu.pdf).
701 29 U.S.C. § 730(a)(1)
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entsprechender Höhe zuschießen. Damit haben die Gliedstaaten ihre Pflicht getan,
um an die Bundesmittel zu gelangen. Es obliegt nun ihnen dafür zu sorgen, die freigesetzten Mittel im Sinne des Title I Rehabilitation Act den Anspruchsberechtigten
zukommen zu lassen und dabei transparente Kriterien aufzustellen, nach denen die
begrenzten Mittel verteilt werden. Der Mechanismus dafür nennt sich order of selection und verlangt den Gliedstaaten folgende Vorgehensweise ab702: Die Kriterien der
Mittelvergabe – aus Sicht der Betroffenen also der Anspruchsrealisierung – müssen
im Voraus bestimmt sein703 und sicherstellen, dass die am schwersten behinderten
Antragsteller bei der Leistungsvergabe Vorrang genießen704.
Im Ergebnis erhält nur eine kleine Teilmenge der dem Wortlaut des Gesetzes
nach Anspruchsberechtigten Leistungen zur beruflichen Rehabilitation. Den Informationen des Catalog of Federal Domestic Assistance (CFDA)705 ist zu entnehmen,
dass im Haushaltsjahr 2005 etwa 984.337 – also rund eine Million – Behinderte
Leistungen nach Title I des Rehabilitation Act erhielten706. Nach den Ergebnissen
des amerikanischen Zensus von 2002707 hatten in der Altersklasse 21 bis 64 Jahre
25.597.000 – also rund 25,6 Millionen – Menschen eine Behinderung. Davon waren
14.313.00 – also rund 14,3 Millionen – erwerbstätig. Damit bleiben rund 11,3 Millionen nichterwerbstätige Menschen im Alter zwischen 21 und 64 Jahren übrig. Auf
alle Menschen mit Behinderungen im Erwerbsalter gerechnet erhalten also nicht
einmal 4% Leistungen der beruflichen Rehabilitation nach Titel I des Rehabilitation
Act. Geht man davon aus, dass die erwerbstätigen Menschen mit Behinderung darauf nicht mehr angewiesen sind und legt nur noch die nichterwerbstätigen zu Grunde, liegt die Quote noch immer bei unter 10%.
Faktisch gewährt Title I Rehabilitation Act damit kein umfassendes Rechts auf
berufliche Rehabilitation, sondern eröffnet nur einer kleinen Gruppe besonders Bedürftiger den Zugang zu Leistungen.
702 Hager, Order of Selection, Cornell 2004, S. 8 ff.
703 29 U.S.C. § 721(a)(5)(A).
704 29 U.S.C. § 721(a)(5)(C) – Der Vorrang Schwerbehinderter ist eine der wichtigsten Neuerungen des Rehabilitation Act of 1973 gegenüber den zuvor gültigen Regelungen der Vocational
Rehabilitation Services. Vor dieser Festschreibung profitierten primär leicht Behinderte von
beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen, weil sich mit ihnen eine günstige Erfolgsquote erzielen ließ. Diese war wiederum notwendig, um im Wettbewerb mit anderen staatlichen Sozialprogrammen um knappe Bundesmittel bestehen zu können. Insofern stellt das Jahr 1973 einen politischen Wendepunkt hinsichtlich der mit der beruflichen Rehabilitation Behinderter
verfolgten Ziele dar, Berkowitz, Disabled Policy, 1987, S. 176; kritisch zur Wirksamkeit der
order of selection hingegen Weber, 46 Buff. L. Rev. (1998), 123, 141.
705 Per Gesetz Public Law 95-220 v. 28.12.1977 besteht die Pflicht, regelmäßig Informationen zu
allen finanziellen Förderprogrammen im CFDA zu veröffentlichen. Durch Gesetz Public Law
98-169 v. 29.11.1983 ist zuständige Stelle die General Services Administration (GSA). Die
Informationen sind auf der Internetseite des CFDA zugänglich, http://www.cfda.gov.
706 CFDA, Programm Nr. 84.126 Rehabilitation Services – Vocational Rehabilitation Grants to
States.
707 Abrufbar unter http://www.census.gov/hhes/www/disability/sipp/disab02/ds02t5.pdf.
178
2. Unfallversicherung (Workers’ Compensation) und berufliche Rehabilitation
Wie in Deutschland führen auch in den USA Berufsunfälle und -krankheiten zu
Ansprüchen auf Leistungen zur beruflichen Rehabilitation, die im Rahmen der Unfallversicherung zu erfüllen sind. Allerdings ist die Unfallversicherung in den USA,
die so genannte Worker’s Compensation, grundsätzlich anders organisiert, was entscheidende Auswirkungen auf die berufliche Rehabilitation durch diesen Versicherungszweig hat.
a) Hintergrund
Der Idee nach handelt es sich bei der Workers’ Compensation um eine klassische
Sozialversicherung708, die – wie die Berufsunfallversicherung unter Bismarck – ins
Leben gerufen wurde, um typische Risiken der körperlichen Arbeit in einer Industriegesellschaft sozial verträglich abzusichern und einen Ausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen in Fragen der Haftung für Berufsunfälle herzustellen709. Besonders zwei Aspekte sind für das Verständnis der U.S.amerikanischen Unfallversicherung und ihrer Stellung im Recht der beruflichen
Rehabilitation wichtig: Erstens ihre versicherungsrechtliche Organisation und zweitens ihre Stellung im föderalen System der USA.
aa) Versicherungsrechtliche Organisation
Vor allem an der Art und Weise, wie die Haftungsbefreiung des Arbeitgebers durch
die Unfallversicherung organisiert ist, wird deutlich, wie wenig dieser Versicherungstyp mit einer klassischen Sozialversicherung nach deutschem Strickmuster
gemein hat. Zum besseren Verständnis soll daher zunächst das deutsche System der
Unfallversicherung skizziert werden, ehe auf den amerikanischen Konterpart eingegangen wird.
In Deutschland ist die Unfallversicherung eine öffentlich-rechtliche Versicherung
in Trägerschaft von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, in der Regel Berufsgenossenschaften710. Mitglieder dieser Berufsgenossenschaften sind die Arbeitgeber
bzw. in der Terminologie des SGB VII die Unternehmer, die allein beitragspflichtig
sind. Die Beschäftigten sind kraft Gesetzes bei der Unfallversicherung beitragsfrei
versichert711. Im Versicherungsfall richten sich die Ansprüche gegen den zuständi-
708 Vgl. Keating, 11-WTR Kan. J.L. & Pub. Pol’y (2002), 279, 299.
709 Zu Deutschland als Vorbild Note, 1 Stan. L. Rev. (1948), 126, 129.
710 Allgemein zur Unfallversicherung Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 389 ff.; Igl/
Welti, Sozialrecht, 8. Aufl. 2007, § 36-42; Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl. 2007, § 10.
711 § 2 I Nr. 1 i.V.m. § 150 SGB VII.
179
gen Träger der Unfallversicherung712; der Unternehmer ist per gesetzlicher Haftungsbeschränkung im Normalfall aus der zivilrechtlichen Haftungsverantwortlichkeit entlassen713.
In den USA hingegen ist die Unfallversicherung als echte Haftpflichtversicherung
der Arbeitgeber ausgestaltet714. Um das Risiko von Haftungsprozessen bei Berufsunfällen zu vermeiden, treten Arbeitgeber dem Workers’ Compensation Program des
jeweiligen Gliedstaates bei, was regelmäßig den Abschluss einer Haftpflichtversicherung für Berufsunfälle und -krankheiten oder zumindest eine offizielle Befreiung
von der Versicherungspflicht voraussetzt715. Der Versicherungsschutz wird in der
Regel bei privaten Anbietern erworben, nur in wenigen Staaten ist es verpflichtend,
die Versicherung bei einer staatlichen Stelle abzuschließen716. Eintritt der Leistungspflicht sowie Leistungsumfang sind gesetzlich genau geregelt; Leistungen
umfassen medizinische Behandlungskosten, berufliche Rehabilitation sowie Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenrenten717. Anspruchsgegner bei Forderungen im
Zusammenhang mit einem Berufsunfall bleibt der Arbeitgeber, ein Direktanspruch
gegen den Versicherer ist nicht vorgesehen. Ansprüche nach Unfallversicherungsrecht sind verschuldensunabhängig, es ist ausreichend, dass die Verletzung im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit geschehen ist718. Die Geltendmachung
von Leistungen aus Unfallversicherungsrecht durch den Arbeitnehmer schließt ein
weiteres Vorgehen gegen den Arbeitgeber etwa aus Common-Law-
Haftungsansprüchen aus719. Auch ohne Versicherungsschutz, etwa bei Insolvenz des
Versicherers, haftet der Arbeitgeber für Ansprüche aus Unfallversicherungsrecht.
Allerdings kann sich der Arbeitnehmer in solchen Fällen auch beim Staat schadlos
halten720.
Die Unfallversicherung in den Vereinigten Staaten ist also ein gutes Beispiel für
eine privat organisierte soziale Sicherung unter staatlicher Gewährleistungsverantwortung.
712 § 26 SGB VII.
713 §§ 104 ff. SGB VII.
714 Näher Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit, 2001, S. 147 ff.
715 Z.B. Kalifornien: Cal. Labor Code § 3700; New York: Workers Compensation Law § 50;
Wisconsin: W.S.A. § 102.31.
716 Z.B. in North Dakota, vgl. N. D. Century Code 65-04-04; West Virginia, W. Va. Code § 23-
2-1.
717 Malloy, 41 Brandeis L.J. (2003), 821, 835 m.Nw.
718 Malloy, a.a.O., S. 834 m.Nw.
719 Malloy, a.a.O., S. 833 m.Nw.
720 Z.B. Kalifornien: Cal. Labor Code § 3716 – bei fehlendem Versicherungsschutz springt der
Uninsured Employers Benefits Trust Fund ein; New York: Workers Compensation Law
§§ 107 ff. – bei Insolvenz des Versicherers springt der Workers’ Compensation Security Fund
ein; Wisconsin: W.S.A. §§102.81 f. – bei fehlendem Versicherungsschutz kann sich der betroffene Arbeitnehmer wegen Leistungen aus Workers’ Compensation an die zuständige Behörde wenden, die ihrerseits natürlich Regress beim Arbeitgeber nehmen kann.
180
bb) Stellung im föderalen System
Bis dato ist die Unfallversicherung praktisch vollständig in der Gesetzgebungskompetenz der Gliedstaaten verblieben; Bundesgesetze gibt es nur, sofern Beschäftigte
des Bundes betroffen sind721 oder für bestimmte, eng umgrenzte Berufsgruppen722.
Die daraus resultierende Vielfalt der gesetzlichen Grundlagen zum Unfallversicherungsrecht hat dieses Rechtsgebiet zu einem der unübersichtlichsten in den Vereinigten Staaten von Amerika werden lassen723. Workers’ Compensation Programs
existieren seit 1948 in allen Einzelstaaten724, waren aber bereits in den Jahren zwischen 1911 und 1919 weit verbreitet725.
Wie die ausdrückliche Erwähnung der Gesetzgebungskompetenz für Workers’
Compensation in diversen Verfassungen der U.S.-amerikanischen Einzelstaaten
zeigt726, handelt es sich hier um einen wichtigen Bestandteil der staatlichen Sozialfürsorge der Vereinigten Staaten. Um die politische Durchsetzbarkeit der Einführung einer allgemeinen Unfallversicherung überhaupt sicherzustellen, wurde nur auf
ein Minimum an staatlicher Gewährleistungsverantwortung für sozialverträgliche
Rahmenbedingungen der industriellen Produktion gesetzt. So war die Teilnahme der
Arbeitgeber an der Unfallversicherung ursprünglich freiwillig ausgestaltet. Da der
Gesetzgeber jedoch im selben Atemzug die für die Arbeitgeberseite günstigen Einwendungen des Common Law gegen Ersatzansprüche bei Berufsunfällen abschaffte,
entschied sich die große Mehrheit der Arbeitgeber für eine Teilnahme727. Die im
Rahmen der Unfallversicherung zu zahlenden Entschädigungen, i.d.R. Rentenleistungen, waren außerdem nicht allzu üppig, so dass die Versicherungskosten überschaubar blieben.
Mittlerweile hat die Dichte der staatlichen Vorgaben zur Ausgestaltung der Unfallversicherung stark zugenommen. So ist der Abschluss einer entsprechenden
Versicherung in praktisch allen Staaten verpflichtend728. Auch das Entschädigungs-
721 Federal Employees’ Compensation Act (FECA) v. 7.9.1916, 5 U.S.C. §§ 8101 ff.
722 Am wichtigsten: Longshore and Harbor Workers’ Compensation Act (LHWCA) v. 4.3.1927.
33 U.S.C. §§ 901 ff. für Berufsunfälle in den schiffbaren Gewässern der USA; Black Lung
Benefits Act (BLBA) v. 30.12.1969 für Minenarbeiter mit Staublunge und ihre Hinterbliebenen.
723 Bernstein, 119 U. Pa. L. Rev. (1971), 992, 995: „The intricacies of workmen’s compensation
law now rival those of property and tax law with which only the most expert or most naïve
feel at ease.”
724 Berkowitz, Disabled Policy, 1987, S. 15.
725 1911 trat in Wisconsin das erste Workers’ Compensation Law in Kraft, Keating, 11-WTR
Kan. J.L. & Pub. Pol’y (2002), 279, 298. Bis 1919 hatten 43 Einzelstaaten entsprechende
Gesetze erlassen, Berkowitz, Disabled Policy, 1987, S. 19.
726 Besonders deutlich Kalifornien: Cal. Const. Art. 14, § 4; vgl. ferner z.B. Oklahoma:
Const. Art. 23 § 7; Pennsylvania, Const. Art. 2, § 8.
727 Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit, 2001, S. 148 Fn. 30; Keating, 11-WTR Kan. J.L.
& Pub. Pol’y (2002), 279, 298.
728 Soweit ersichtlich ist die einzige Ausnahme derzeit Texas: Labor Code § 406.002; vergleichende Informationen und Statistiken zum Stand der Workers’ Compensation Laws in den
181
niveau wurde deutlich angehoben, was vor allem den Vorgaben der 1971 eingesetzten National Commission on State Workmen’s Compensation Law zu verdanken
ist729. Wegen der zunehmend deutlichen Ineffizienz der gliedstaatlichen Regelungen
sowie der massiven sozialen Härten, denen Opfer von Berufsunfällen aufgrund der
geringen Entschädigungen ausgesetzt waren, drohte der Bund damit, die Gesetzgebungskompetenz für die Unfallversicherung an sich zu ziehen730. Der erhebliche
Widerstand der Einzelstaaten führte schließlich zur Einsetzung der erwähnten
Kommission, die einheitliche Leitlinien ausarbeitete. Bei Nichterfüllung der durch
sie gesetzten Vorgaben drohte der Bund mit einem umfassenden Gesetz, was zu
einem deutlichen Bemühen um Vereinheitlichung der Unfallversicherung durch die
Einzelstaaten führte. Gerade bezüglich der beruflichen Rehabilitation als möglicher
Leistung im Rahmen der Unfallversicherung sind seither bedeutende Fortschritte
gemacht worden. Dennoch wird zu zeigen sein, dass bereits die Eigenrationalität der
U.S.-amerikanischen Unfallversicherung eine Einbettung der Leistungen zur beruflichen Rehabilitation in eine umfassend angelegte Sozialpolitik kaum möglich erscheinen lässt.
b) Leistungen der beruflichen Rehabilitation durch die Unfallversicherung
Berufliche Rehabilitation zur Wiederherstellung bzw. Verbesserung der beruflichen
Leistungsfähigkeit ist mittlerweile fester Bestandteil der Unfallversicherung in allen
Staaten. Die allermeisten von ihnen verfügen über entsprechende gesetzliche Vorschriften in ihren Workers’ Compensation Laws731. Allerdings enthalten die Gesetze
nur relativ pauschale Regelungen. Möglich ist eine Vernetzung der beruflichen Rehabilitation nach Unfallversicherungsrecht mit der nach Title I Rehabilitation Act. In
Wisconsin etwa sind Arbeitnehmer verpflichtet, sich um berufliche Rehabilitation
bei den Vocational Rehabilitation Services auf der Grundlage von Title I Rehabilitation Act zu bemühen. Sofern dort wegen begrenzter Kapazitäten keine Leistungen
erbracht werden können, dürfen auch private Anbieter in Anspruch genommen werden, die dann wiederum vom Arbeitgeber bzw. seiner Versicherung vergütet werden732. Damit wird immerhin indirekt auf die ausführlichen Bestimmungen zu Leistungen der beruflichen Rehabilitation in Title I Rehabilitation Act Bezug genom-
Einzelstaaten sind über das Office of Workers’ Compensation Programs (OWCP) des
Department of Labor zu finden (http://www.dol.gov/esa/owcp).
729 Abschlussreport vom 31.7.1972, zu finden unter http://www.workerscompresources.com.
730 Hierzu und zum folgenden die ausführliche Darstellung bei Berkowitz, Disabled Policy, 1987,
S. 34 ff.; s. auch Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit, 2001, S. 149.
731 Soweit ersichtlich ist Pennsylvania der einzige Staat, der bislang überhaupt keine gesetzlichen
Anhaltspunkte zur beruflichen Rehabilitation im Rahmen der Workers’ Compensation hat,
vgl. Title 77 Pennsylvania Statutes – Workers’ Compensation. Zur richterrechtlichen Regelung der beruflichen Rehabilitation in diesem Zusammenhang ausführlich Torrey, 30 Duq. L.
Rev. (1991), 515 ff.
732 Vgl. W.S.A. §§102.61.
182
men. Häufig stehen die berufliche Rehabilitation nach Unfallversicherungsrecht und
die nach Title I des Rehabilitation Act aber eher unverbunden nebeneinander733.
Zum Teil wird die Durchführung einer beruflichen Rehabilitation in den Unfallversicherungsgesetzen nur beiläufig erwähnt, etwa als zwingende Voraussetzung für die
Zahlung weiterer Rentenleistungen734.
Traditionell hat die für die Unfallversicherung zuständige Arbeitsverwaltung
(Department of Labor) des jeweiligen Gliedstaates keine nennenswerte eigene Erfahrung mit der konkreten Durchführung beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen735.
Betroffene werden an die bereits beschriebenen Vocational Rehabilitation Agencies
oder vorzugsweise private Anbieter weiterverwiesen. Die Unfallversicherung sorgt
primär für die Erstattung von Kosten und ist nicht an der Qualitätssicherung der
beruflichen Rehabilitation beteiligt.
c) Systemische Leistungshemmnisse
Der Stellenwert von Leistungen der beruflichen Rehabilitation im System der Unfallversicherung der USA ist gering. Bereits die wenig ausführlichen Regelungen
der beruflichen Rehabilitation in den gesetzlichen Grundlagen der Unfallversicherung zeigen, dass diese Form der Entschädigung nicht zum klassischen Kernbestand
der Workers’ Compensation gehört. Als ursächlich hierfür erweist sich die gliedstaatliche Organisation der Unfallversicherung, was für die Sicherung eines einheitlichen Leistungsniveaus generell ungünstig ist. Weiterhin ist aber auch die Ausgestaltung der Unfallversicherung als private Haftpflichtversicherung des Arbeitgebers
mit staatlich festgelegtem Inhalt dem Stellenwert der beruflichen Rehabilitation in
diesem Versicherungszweig nicht zuträglich. Denn dadurch spielen die privaten
Haftungsinteressen von Arbeitgeber und Versicherung im Leistungsfall eine entscheidende Rolle, was im Folgenden näher ausgeführt wird.
aa) Berufliche Rehabilitation und Risikokalkulation
Die als Prozess mit offenem Ausgang ausgerichtete berufliche Rehabilitation passt
sich nur schwer in die Risikokalkulation von privaten Versicherungen ein. Eine
langfristige, kostenintensive und letztlich ohne Erfolgsgarantie durchgeführte berufliche Rehabilitation bedeutet nämlich ein hohes Kostenrisiko für die privaten Versicherer, die letztlich Träger der gesetzlichen Unfallversicherung in den USA sind.
Aus ihrer Sicht und damit auch aus Sicht der Arbeitgeber, die mit dem Abschluss
733 Z.B. North Dakota, N.D.C.C. § 65-05.1-02: eigenes Rehabilitation Services Bureau der für
die Unfallversicherung zuständigen Arbeitsverwaltung, das mit anderen Rehabilitationsträgern kooperiert.
734 Z.B. Delaware, 19 Del.C. § 2353.
735 Berkowitz, Disabled Policy, 1987, S. 155 ff.
183
entsprechender Versicherungen belastet sind, verdienen also individuelle Abfindungsvereinbarungen den Vorzug, da sie sich in aller Regel auf Einmalzahlungen
oder Rentenleistungen konzentrieren (compromise oder compensation agreements).
Die Möglichkeit solcher Vereinbarungen ist in den Gesetzen vieler Gliedstaaten zur
Unfallversicherung ausdrücklich erwähnt; Einzelheiten sind umstritten, insbesondere beschäftigen sich Gerichte mit der Frage, inwieweit solche Vereinbarungen durch
die grundsätzlichen Wertungen des Gesetzgebers bei der Regelung der Unfallversicherung gebunden sind736. Damit wirkt sich der hohe privatrechtliche Anteil am
System der U.S.-amerikanischen Unfallversicherung schon im Ansatz hinderlich bei
der Gewährung von Leistungen zur beruflichen Rehabilitation aus.
bb) Berufliche Rehabilitation als Schadensersatz
Ferner ist die Durchführung der beruflichen Rehabilitation – wenn es denn überhaupt dazu kommt – durch die Haftungsinteressen des Arbeitgebers entscheidend
geprägt. Wegen der Nähe zu den Rationalitäten des Zivilrechts sind Leistungen der
Workers’ Compensation primär Schadensersatz für den erlittenen Schmerz oder
Ausgleich des durch die Verletzung entstandenen Einkommensverlusts737. Auch die
berufliche Rehabilitation bei Berufsunfällen wird als Schadensersatz des Arbeitgebers in Form von Naturalrestitution aufgefasst und nicht als soziale Leistung der
Gesellschaft zur effizienten Wiedereingliederung in den Beruf. Dementsprechend ist
es das Hauptziel der beruflichen Rehabilitation im Rahmen der Workers’ Compensation, den Arbeitgeber so weit wie möglich von seiner weiteren Entschädigungspflicht zu befreien, indem der Arbeitnehmer zur Aufnahme einer adäquaten Berufstätigkeit (suitable employment) befähigt wird. Die Adäquanz bemisst sich danach,
ob der Verdienst wieder (fast) genauso hoch ist und ähnliche Karrieremöglichkeiten
bestehen, wie vor dem Berufsunfall738. Die Weiterbeschäftigung beim alten Arbeitgeber zu den alten Konditionen stellt vor diesem Hintergrund die erfolgreichste
Form der beruflichen Rehabilitation im System der Workers’ Compensation dar.
Dies belegt eine seit langem bestehende Rechtsprechungslinie über die genauen
Anforderungen, welche die Weiterbeschäftigung beim alten Arbeitgeber erfüllen
muss, um als adäquate Berufstätigkeit zu gelten739.
736 Vgl. Koonce, 73 N.C. L. Rev. (1995), 2529 ff.
737 Zu den möglichen Zwecken von Workers’ Compensation: Berkowitz, Disabled Policy, 1987,
S. 26.
738 Miller, 82 N.C. L. Rev. (2004), 2061, 2067.
739 Aus der Masse entsprechender Urteile s. nur Allen v. Industrial Commission, 87 Ariz. 56, 347
P.2d 710 (1959); People v. Cone Mills Corp., 316 N.C. 426, 434 ff., 342 S.E.2d. 798, 804 ff.
(1986) – es stellt keine suitable employment dar, wenn der Arbeitgeber einen Arbeitsplatz auf
die Fähigkeiten und Bedürfnisse des behinderten Arbeitnehmers zuschneidet, der keine Karrieremöglichkeiten bietet und zudem nicht mit Arbeitsplätzen auf dem sonstigen Arbeitsmarkt
vergleichbar ist (sog. make-work). Zum Ganzen auch Miller, 82 N.C. L. Rev. (2004), 2061,
2067.
184
cc) Zusammenfassung
Insgesamt ist die berufliche Rehabilitation als Teil der Workers’ Compensation also
nicht an sozialpolitischen Gemeinwohlbelangen ausgerichtet, sondern dient in hohem Maße dem Interesse, die Haftung für Berufsunfälle möglichst niedrig zu halten.
Politisches Hauptanliegen der Workers’ Compensation Programs ist es, verletzte
Arbeitnehmer möglichst unbürokratisch medizinisch zu versorgen und ihre wirtschaftliche Existenz finanziell abzusichern740. Die berufliche Rehabilitation der
Verletzten spielt nur eine untergeordnete Rolle. Dies hat vor Kurzem etwa eine
Gesetzgebungsnovelle in Kalifornien deutlich gemacht, wo berufliche Rehabilitationsmaßnahmen bei Arbeitsunfällen seit dem 1.1.2004 nur noch bis zu einer Grenze
von $ 10.000 auf der Grundlage von Workers’ Compensation förderungsfähig
sind741. Berufliche Rehabilitation als sozialrechtliche Wiedereingliederungsleistung
im deutschen Sinne ist mit der gesetzlichen Unfallversicherung in den USA also
nicht zu erlangen. Eine derartige Ausrichtung hat zwar die Rehabilitation nach Title I Rehabilitation Act, die im Prinzip auch bei Berufsunfällen greift, doch kommen
wegen der Unterfinanzierung dieses Rehabilitationszweiges nur wenige Betroffene
auch tatsächlich in den Genuss von Leistungen742.
3. Social Security Administration und berufliche Rehabilitation
Leistungen zur beruflichen Rehabilitation können Betroffene auch von der Social
Security Administration (SSA) erhalten. Allerdings werden solche Leistungen erst
dann bewilligt, nachdem das Vorliegen einer behinderungsbedingten Berufsunfähigkeit vom Antragsteller nachgewiesen worden ist. Im Lichte des Hauptzweckes der
beruflichen Rehabilitation, nämlich die Berufsunfähigkeit der Betroffenen möglichst
zu verhindern, erscheint dieser Befund geradezu widersinnig. Um diesen Zusammenhang genauer zu begreifen und um die Dynamik der beruflichen Rehabilitation
durch die Social Security Administration überhaupt verstehen zu können, muss an
dieser Stelle ein wenig ausführlicher ausgeholt werden: Zunächst werden die Aufgabenfelder der Social Security Administration sowie die speziellen Leistungszweige
für Menschen mit Behinderung und die damit zusammenhängenden medizinischen
Versorgungsprogramme beschrieben. Erst vor diesem Hintergrund können die Zielrichtung des beruflichen Rehabilitationsprogramms der Social Security Administration sowie dessen systemimmanente Hindernisse illustriert werden.
740 Malloy, 41 Brandeis L.J. (2003), 821.
741 Cal. Labor Code § 4658.5. Alle bisherigen Regelungen der beruflichen Rehabilitation bei
Arbeitsunfällen sind widerrufen; die entsprechende Abteilung des Department of Industrial
Relations ist nur noch bis zum 1.1.2009 mit der beruflichen Rehabilitation befasst, vgl.
Cal. Labor Code § 139.5.
742 Oben S. 177.
185
a) Von der Social Security Administration verwaltete Sozialleistungen
Das moderne amerikanische Sozialleistungssystem geht auf den Social Security Act
aus dem Jahr 1935 zurück743. Als Reaktion auf die große wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre trieb Präsident Roosevelt ein als New Deal bekanntes Reformprogramm voran, welches die Ziele recovery
(Wiederherstellung des wirtschaftlichen Wachstums), relief (Hilfsmaßnahmen für
Arbeitslose) und reform (Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die als ursächlich für die Krise angesehen werden konnten) verfolgte. Im
Zuge dieses Umbruchs konnte trotz erheblicher Widerstände erstmalig eine Reihe
von Sozialleistungsgesetzen auf Bundesebene durchgesetzt werden, die auch durch
den Bund verwaltet werden sollten744. Dafür wurde eigens das Social Security Board
ins Leben gerufen, das mittlerweile als Social Security Administration (SSA) einen
umfassenden, im Gesamtgebiet der USA präsenten Verwaltungsapparat unterhält.
Im ursprünglichen Social Security Act of 1935 finden sich Regelungen zu zwei
Sozialversicherungszweigen745: Erstens wurde die finanzielle Förderung der gliedstaatlichen organisierten Arbeitslosenversicherung festgelegt. Zweitens wurde eine
bundeseinheitliche Rentenversicherung begründet, die unter der Bezeichnung Social
Security in den USA firmiert und mit der das staatliche Krankenversicherungsprogramm Medicare verbunden ist746. Zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung
erhebt der Bund eine Lohnsummensteuer bei den Arbeitgebern, die er an die Gliedstaaten bei Einführung eines Arbeitslosenversicherungsprogramms weitergibt, sofern dies den festgesetzten materiellen Kriterien genügt747. Die Finanzierung der
Rentenversicherung geschieht durch paritätische Beitragserhebung bei Arbeitgeber
und Arbeitnehmer748. Mittlerweile ist grundsätzlich jedes Einkommen, auch das aus
selbständiger Arbeit, rentenversicherungspflichtig749. Die Bundeskompetenz für die
Regelungen zu diesen beiden Zweigen der Sozialversicherung ergibt sich aus dem
bereits im Zusammenhang mit den Vocational Rehabilitation Services besprochenen
Art. I § 8 Cl. 1 der Verfassung750, der dem Bund mit der spending power und taxing
power die Befugnis gibt, für Gemeinwohlbelange Geld auszugeben sowie Steuern,
Abgaben und Beiträge bei den Bürgern zu erheben751.
743 Public Law 74-271 v. 14.8.1935.
744 Zum Ganzen näher unten S. 208 ff.
745 Zum folgenden Cohen, 6 Soc.Sec.Rep.Serv. 933, 934.
746 Zum „Flagschiffcharakter“ der Social Security (Rentenversicherung) Graser, Dezentrale
Wohlfahrtsstaatlichkeit, 2001, S. 138; Weir/Orloff/Skocpol, in: dies., Social Policy, 1988,
S. 3, 7.
747 Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit, 2001, S. 144; Murswieck, Sozialpolitik, 1988,
S. 25 f.
748 Murswieck, Sozialpolitik, 1988, S. 39.
749 Zur allmählichen Erweiterung des Kreises der Pflichtversicherten Murswieck, Sozialpolitik,
1988, S. 41 f.
750 Oben S. 173.
751 Näher Charles C. Steward Machine Company v. Davis, 301 U.S. 548 und Helvering v. Davis,
301 U.S. 619.
186
Weiterhin finden sich im Social Security Act of 1935 auch Vorschriften zu Sozialhilfe- und Wohlfahrtsprogrammen, die im Gegensatz zu den Sozialversicherungen
nicht durch an den Erwerbslohn angeknüpfte Abgaben finanziert werden, sondern
mit Steuergeldern ausgestattet sind. Dazu gehörte ursprünglich auch die mittlerweile
im Rehabilitation Act of 1973 geregelte Förderung der Vocational Rehabilitation
Services752.
Viele der durch den Social Security Act of 1935 begründeten Programme bestehen
im Kern noch heute in der damals festgelegten Form. Für Menschen mit Behinderung sind zwei wichtige Programme, die Social Security Disability Insurance
(SSDI) und das Supplemental Security Income (SSI) hinzugekommen, deren grundlegende Zielsetzung und Funktionsweise im folgenden erörtert werden soll. Auch
die Möglichkeit für Behinderte, durch Bezug von SSDI oder SSI staatliche Krankenversicherungsleistungen zu erhalten, wird thematisiert.
aa) Social Security Disability Insurance (SSDI)
Die Social Security Disability Insurance (SSDI) ist das U.S.-amerikanische Gegenstück zur deutschen Erwerbsminderungsrente. Ansprüche auf Rentenleistungen bei
einem verfrühten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wegen einer Behinderung
konnten politisch erst im Jahre 1956 durchgesetzt werden753. Zunächst waren Leistungen nur für Behinderte ab 50 Jahren vorgesehen. Im Jahre 1960 schaffte der
Bundesgesetzgeber diese Altersbegrenzung ab, so dass SSDI jedem offen stand, der
ausreichend lange Beiträge geleistet hatte und wegen einer Behinderung dauerhaft
erwerbsunfähig geworden war754. Als open-ended entitlement program muss SSDI
vom Kongress mit ausreichenden Mitteln ausgestattet werden, um alle Anspruchsberechtigten zu versorgen755. Die ausreichende Finanzierung durch den Bund ist also –
anders als etwa bei den Vocational Rehabilitation Services – gesichert. Verwaltet
wird die SSDI wie auch die normale Altersrente bundesweit einheitlich von der
Social Security Administration (SSA).
Abgesehen davon, dass Ansprüche nur bei einer ausreichend langen Beitragszeit
geltend gemacht werden können756, ist die zur Erwerbsunfähigkeit führende Behinderung in einem komplizierten Verwaltungsverfahren nachzuweisen, dem so genannten five step sequential evaluation process757. Erste Voraussetzung für einen
Antrag auf SSDI ist, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt der Stellung seines Antrags keiner Erwerbsarbeit nachgeht, die zu einem nennenswerten Erwerbseinkom-
752 Cohen, 6 Soc.Sec.Rep.Serv. (1984), 933, 935.
753 Ausführlich Berkowitz, Disabled Policy, 1987, S. 73 ff.
754 Scotch, in: Longmore/Umansky, Disability History, 2001, S. 375, 380.
755 Silverstein, 85 Iowa L. Rev. (2000), 1691, 1700.
756 Dazu 42 U.S.C. § 423.
757 20 C.F.R. § 404.1520.
187
men führt758. Als nächstes prüft die SSA, ob bei dem Antragsteller eine schwere
Schädigung vorliegt, um offensichtlich unbegründete Ansprüche herauszufiltern759.
In einem dritten Schritt stellt die SSA anhand der Listing of Impairments fest, ob die
konkrete Schädigung des Antragstellers einer festgesetzten Schädigung entspricht
oder ihr gleichkommt760. Ist aufgrund dieser drei Prüfschritte eine Behinderung
grundsätzlich bejaht worden, geht es in Schritt 4 und Schritt 5 um die konkreten
Auswirkungen dieser Behinderung. Geprüft wird, inwieweit der Antragsteller auch
berufsunfähig ist. Es soll festgestellt werden, ob konkrete oder abstrakte Verweismöglichkeiten in den früheren oder sonstige Berufe bestehen761. Erst wenn keine
abstrakte Verweismöglichkeit angenommen wird, gilt der Antragsteller im sozialrechtlichen Sinne als behindert und kann entsprechende Ansprüche erfolgreich geltend machen.
Das Fortbestehen der Behinderung und die daraus resultierende Anspruchsberechtigung wird in regelmäßigen Abständen, mindestens jedoch alle 7 Jahre, von der
SSA überprüft (continuing disability review – CDR). Zunächst geht es dabei um
medizinische Gesichtspunkte, also um die Frage, ob sich die Schädigung des Leistungsbeziehers verbessert hat762. Auch ohne dass die SSA eine medizinische Verbesserung feststellt, kann die Anspruchsberechtigung erlöschen. Wichtigster Fall ist die
Aufnahme einer Beschäftigung mit nennenswertem Einkommen durch den Leistungsbezieher763. In einem solchen Fall entfällt gleichsam ex nunc die erste Voraussetzung der SSDI-relevanten Behinderung, so dass es auf die weiteren Voraussetzungen wie das Vorliegen einer Schädigung nicht mehr ankommt. Um Härten –
insbesondere mit Blick auf die Möglichkeiten, im Medicare-Programm zu verbleiben – zu mindern, sieht der Gesetzgeber bestimmte Übergangsperioden vor, in denen trotz Beschäftigungsaufnahme der Bezug von SSDI weiter möglich ist.
bb) Krankenversicherungsleistungen nach Medicare
Der Bezug von Leistungen der SSDI eröffnet den Zugang zu einem anderen ebenfalls von der SSA verwalteten Leistungsprogramm: der Krankenversicherung Medicare. Dieses Programm bietet keinen umfassenden Versicherungsschutz, deckt aber
einige wichtige und kostspielige Kernbereiche der Gesundheitsversorgung ab. Umfasst sind vor allem Krankenhausaufenthalte sowie gegen Zuzahlung ambulante
ärztliche Behandlungen, Labortests und Pflege764. Für medizinische Leistungen wie
758 Substantial gainful activity, dazu 20 C.F.R. §§ 404.1571 ff
759 Cebula/Landry, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 10.8.4; Nesselbush, 54-
AUG R.I. B.J. (2005), 7, 9.
760 20 C.F.R. Pt. 404, Subpt. P, App. 1 – näher oben S. 60 f.
761 Cebula/Landry, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 10.8.6. f.
762 Zum Ganzen Cebula/Landry, a.a.O., § 10.12.3.
763 Cebula/Landry, a.a.O., § 10.12.4(a).
764 Frolik, SL071 ALI-ABA (2006), 303, 321 ff.; Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in
den USA, 1990, S. 151 ff.
188
etwa Arzneien und zahnärztliche Behandlung muss eine private Versicherung abgeschlossen werden765.
Medicare ist in erster Linie Personen ab 65 Jahren zugänglich, die Social Security
erhalten766. Für ältere Menschen mit entsprechend höheren medizinischen Risiken
und Kosten bildet Medicare also die Grundlage ihres Krankenversicherungsschutzes
im Alter, der bei einem weiterhin vollständig privaten System für viele sonst unerschwinglich wäre767. Bezieher von SSDI werden automatisch Mitglied von Medicare nach einer 24-monatigen Wartefrist768. Trotz der beschriebenen Limitation ist die
Mitgliedschaft bei Medicare ein – wenn nicht gar der – entscheidende Vorteil für
Empfänger von SSDI. Gerade für Menschen mit Behinderungen ist es aufgrund
besonderer medizinischer Bedürfnisse zu kostspielig, eine private Krankenversicherung abzuschließen, so dass der staatlich bereitgestellte Schutz bei Medicare von
geradezu existenzieller Bedeutung ist.
cc) Supplemental Security Income (SSI)
Das 1972 vom Kongress verabschiedete, 1974 in Kraft getretene Supplemental
Security Income (SSI)769 hat eine Reihe von gliedstaatlich verwalteten, durch Bundeszuschüsse kofinanzierten Hilfsprogramme zu einem einheitlichen Fürsorgeprogramm zusammengefasst und dessen Verwaltung der Bundesbehörde SSA zugeschlagen770. Als Sozialhilfe ist das SSI im Gegensatz zur Social Security Disability
Insurance (SSDI) rein steuerfinanziert und kommt nur Bedürftigen zu Gute771. Die
monatlichen SSI-Leistungen liegen im Schnitt deutlich unter denen der SSDI772. Die
Anspruchsberechtigung für den Bezug von SSI wird durch denselben 5-Stufen-Test
ermittelt wie beim SSDI-Bezug. Im Ergebnis soll sichergestellt werden, dass nur
solche Behinderte Leistungen empfangen, die wirklich dauerhaft arbeitsunfähig
sind. Im Verhältnis zur SSDI hat das SSI die Funktion eines Auffangbeckens. Alte
und wegen Behinderung Berufsunfähige, die keine oder zu wenige Beiträge in das
Social Security System eingezahlt haben, um eine ausreichend hohe Rente zu bekommen, können mit Hilfe von SSI wenigstens ein existenzsicherndes Minimalein-
765 Bigler/Archer/Regan, 65-OCT N.Y. St. B.J. (1993), 14, 16.
766 42 U.S.C. § 426(a)(1) u. (2)(A); Wharton, 14-MAY Utah B.J. (2001), 25.
767 Bigler/Archer/Regan, 65-OCT N.Y. St. B.J. (1993), 14, 16.
768 42 U.S.C. § 426(b).
769 42 U.S.C. §§ 1381-1383c.
770 Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit, 2001, S. 155 f.; Eichenhofer, Recht der sozialen
Sicherheit in den USA, 1990, S. 156 f. u. 201; Murswieck, Sozialpolitik, 1988, S. 28 f. und
S. 33 zu Entwicklung des SSI und den Vorläuferprogrammen; Scotch, in: Longmore/ Umansky, Disability History, 2001, S. 375, 38.
771 Zur erhöhten Akzeptanz dieser Form der Sozialhilfe aufgrund der Verwaltung durch die SSA
unten S. 241 f.
772 Zum Ganzen Bohr, 40 Soc.Sec.Rep.Serv. (1993), 685 ff.; Cebula/Landry, in: Eichner/Griffin,
Legal Rights, 2002, § 10.5.14 sowie 20 C.F.R. 416.101 ff.
189
kommen erhalten773. Im Grundsatz ist SSI allein aus Bundesmitteln finanziert, Einzelstaaten können jedoch die monatlichen Zahlungen aus ihren Mitteln ergänzen774.
Wie die SSDI ist auch das SSI ein open-ended entitlement program, es besteht also
eine unbegrenzte Nachschusspflicht des Bundes, um alle Anspruchsteller zu befriedigen775.
dd) Krankenversicherungsleistungen nach Medicaid
Eng mit dem Bezug von SSI verknüpft ist die Möglichkeit, Leistungen aus dem
Programm Medicaid zu erhalten. Auch hierbei handelt es sich um ein open-ended
entitlement program, das jedoch nicht allein vom Bund finanziert und durch die
SSA administriert wird, sondern in bestimmter Höhe vom jeweiligen Einzelstaat
kofinanziert und von den Staaten selbständig verwaltet wird776. Aufgrund der angeordneten Mischfinanzierung kann der Bundesgesetzgeber die Voraussetzungen für
den Bezug von Medicaid nicht vollständig regeln, sondern nur einen Rahmen setzen,
an den sich die Länder bei der selbständigen Ausgestaltung von Medicaid halten
müssen. Medicaid wurde vom Bundesgesetzgeber im Jahre 1965 ins Leben gerufen
und zielt darauf, Bedürftige mit grundlegenden medizinischen Leistungen zu versorgen777. Die Einzelstaaten können den bundesgesetzlichen Minimalkatalog an notwendigen medizinischen Leistungen freiwillig um weitere Leistungen ergänzen778.
Aus Sicht der Leistungsempfänger ist Medicaid ein Sachleistungsprogramm, da die
Staaten direkt mit den Leistungsanbietern abrechnen779. Allerdings muss sich der
Einzelne selber darum bemühen, überhaupt einen Arzt zu finden, was Schwierigkeiten bereiten kann, da Medicaid-Patienten nicht als besonders lukrativ gelten780.
SSI-Empfänger gehören in den meisten Staaten zum Kreis derjenigen Bedürftigen, die sich automatisch auch für Medicaid qualifizieren781. Lediglich in 14 Staaten
gelten strengere Regeln für den Empfang von Medicaid782. Wegen der Lückenhaf-
773 Diller, 44 UCLA L. Rev. (1996), 361, 440.
774 Überblick über die Einzelstaaten, in denen eine Zuzahlung zum SSI vorgesehen ist, unter
http://www.socialsecurity.gov/ssi/text-benefits-ussi.htm.
775 Silverstein, 85 Iowa L. Rev. (2000), 1691, 1700.
776 Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den USA, 1990, S. 208; Silverstein, 85 Iowa L.
Rev. (2000), 1691, 1701. Umfassender, wenn auch nicht ganz aktueller Überblick über Medicaid bei Mattern, Absicherung, 1997, S. 62 ff.
777 42 U.S.C: § 1396; Frolik, SL071 ALI-ABA (2006), 303, 312; Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit, 2001, S. 161 ff.
778 Silverstein, 85 Iowa L. Rev. (2000), 1691, 1701 f.
779 Mattern, Absicherung, 1997, S. 86.
780 Mattern, a.a.O., S. 93 f.
781 Cebula/Landry, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 10.2.2 für Massachussetts.
782 Frolik, SL071 ALI-ABA (2006), 303, 313: Connecticut, Hawaii, Illinois, Indiana, Minnesota,
Missouri, Nebraska, New Hampshire, North Carolina, North Dakota, Ohio, Oklahoma, Utah
und Virginia.
190
tigkeit des amerikanischen Krankenversicherungssystems gehört Medicaid für viele
Bezieher von SSI zu den wichtigsten, geradezu existenziellen Vorteilen.
b) Voraussetzungen der beruflichen Rehabilitation
Die Grundausrichtung der beiden großen, von der Social Security Administration
verwalteten Sozialleistungsprogramme zugunsten Behinderter zielt auf eine materielle Absicherung des existenziellen Bedarfs im Falle der Berufsunfähigkeit, auch
und vor allem der medizinischen Kosten. Leistungen zur beruflichen Rehabilitation
im engeren Sinne gehören nicht zu den Kernbestandteilen von SSDI und SSI. Auch
wenn das mit Leistungen der beruflichen Rehabilitation verbundene Ziel der Rückkehr in den Arbeitsmarkt sozialpolitisch wünschenswert und sinnvoll erscheint,
können diese Leistungen nicht „aus dem Stand“ einfach eingeführt werden. Vielmehr muss zunächst den strukturellen Hindernissen entgegenwirkt werden, die das
SSDI- und SSI-Programm der Aufnahme einer Berufstätigkeit in den Weg legen.
Dass sich die Rückkehr in den Arbeitsmarkt so schwierig gestaltet, liegt nicht nur
daran, dass SSDI- und SSI-Empfänger aufgrund der nachzuweisenden Schwere ihrer
Behinderungen und der daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit ohnehin schon
schlechte Voraussetzungen zur (Wieder-)Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit
mitbringen. Auch der aufwändige Nachweis der eigenen Bedürftigkeit wegen permanenter, behinderungsbedingter Erwerbsunfähigkeit wirkt sich psychologisch
demotivierend auf eine Rückkehr zu einer normalen Beschäftigung aus783. Problematisch ist insbesondere, dass ein Verlust von Leistungen der SSDI bzw. SSI wegen
ausreichenden eigenen Einkommens grundsätzlich die Qualifikation für Ansprüche
auf medizinische Grundversorgung durch Medicare bzw. Medicaid entfallen lässt.
Praktisch bedeutet dies den völligen Verlust der medizinischen Grundversorgung,
weil das amerikanische System keine Zwangsmitgliedschaft in einer öffentlichen
Krankenversicherung bei Aufnahme einer (unselbständigen) Erwerbstätigkeit kennt.
Vielmehr müssen Erwerbstätige selber für den Abschluss einer privaten Krankenversicherung sorgen, was für Menschen mit Behinderungen wegen ihrer regelmäßig
bestehenden besonderen medizinischen Bedürfnisse natürlich außerordentlich kostspielig ist. Schon deshalb ist die Bereitschaft der SSDI- und SSI-Empfänger zur
Rückkehr in den normalen Arbeitsmarkt als äußerst gering einzustufen784.
783 Armstrong, 25 J. Nat’l A. Admin. L. Judges (2005), 157, 179.
784 McWilliams, 79 Mich. B.J. (2000), 1680, 1681.
191
aa) Employment Opportunities for Disabled Americans Act
Die Beseitigung oder doch Abmilderung dieser Hindernisse, insbesondere des drohenden Verlustes der medizinischen Grundversorgung bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit, ist wiederholt versucht worden785. Wegweisend ist der Employment
Opportunities for Disabled Americans Act786, der ehemaligen SSI-Empfängern
durch einen neuen Berechnungsmodus der Verdienstobergrenzen den Verbleib im
Medicaid-Programm ermöglicht787. Grob gesagt, darf ein behinderter SSI-
Empfänger solange mit Hilfe von Medicaid medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen, wie sein aktueller Verdienst die nach den Regeln des Supplemental
Security Income zu ermittelnde Verdienstobergrenze und die tatsächlichen Kosten
der von Medicaid finanzierten medizinischen Leistungen nicht übersteigt. Angesichts der Tatsache, dass die Kosten der empfangenen medizinischen Leistungen
regelmäßig um ein Vielfaches höher liegen als die nach SSI maßgeblichen Verdienstobergrenzen, verschieben sich für (ehemalige) SSI-Empfänger die für einen
Verbleib im Medicaid-Programm maßgeblichen Einkommensgrenzen ganz erheblich nach oben788.
bb) Ticket to Work and Self-Sufficiency Program
Der Ticket to Work and Work Incentives Improvement Act of 1999 (TWWIIA)789
verbindet erstmalig den Abbau von sozialleistungsimmanenten Hindernissen der
Beschäftigungsaufnahme mit einem großangelegten Programm der Bereitstellung
von Leistungen zur beruflichen Rehabilitation von SSDI- bzw. SSI-Empfängern790.
Bei diesem Gesetz handelt es sich um ein Bundesgesetz, das u.a. den Social Security
Act ergänzt. Herzstück des TWWIIA ist das sogenannte Ticket to Work (Ticket),
womit in erster Linie weitere Anreize zur Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit
geschaffen werden. Im Kern funktioniert das Ticket folgendermaßen791: Jeder behin-
785 Übersicht über die wichtigsten work incentives etwa bei Cebula/Landry, in: Eichner/Griffin,
Legal Rights, 2002, § 10.14.
786 Public Law 99-643 v. 10.11.1986.
787 § 1619 des Employment Opportunities for Disabled Americans Act, kodifiziert in 42 U.S.C.
§ 1382h. Einzelheiten bei Cebula/Landry, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 10.14.2.;
Weber, 2000 U. Ill. L. Rev. 889, 936.
788 Instruktives Beispiel bei Whalen, 10 In Pub. Int. (1990), 47, 51: Bei medizinischen Kosten
von 20000 $ im Jahr durfte ein ehemaliger SSI-Empfänger bis zu 32348 $ im Jahr verdienen,
bevor er keine Leistungen aus dem Medicaid-Programm mehr empfing. Im Vergleich zum
möglichen monatlichen Maximalverdienst von 500 $ bei einem Erstantrag auf Social Security
Income war dies aufs Jahr gerechnet immerhin mehr als die fünffache Summe (Beispiel basiert auf Zahlen aus dem Jahr 1990).
789 Public Law 106-179 v. 17.12.1999.
790 Vgl. Rich/Erb/Rich, 6 DePaul J. Health Care L. (2002), 1, 21 f.
791 Zum Folgenden 42 U.S.C. §1320b-19(b) sowie die entsprechenden regulations der SSA in 20
C.F.R. § 411.100 ff.
192
derte und aktuell leistungsberechtigte SSDI- bzw. SSI-Empfänger zwischen 18 und
64 Jahren erhält ein Ticket792. Dieses Ticket berechtigt ihn dazu, berufliche Rehabilitationsleistungen eines Rehabilitationsträgers seiner Wahl in Anspruch zu nehmen793. Allerdings gibt das Ticket keinen Anspruch auf Durchführung einer beruflichen Rehabilitation; die in Frage kommenden Rehabilitationsträger sind nicht verpflichtet, auf der Grundlage des Ticket Leistungen zu gewähren794.
Rehabilitationsträger sind entweder die bereits beschriebenen staatlichen Vocational
Rehabilitation Services oder ein in der Regel staatlich akkreditiertes privates
Employment Network795. Die Bezahlung des Rehabilitationsträgers durch die Social
Security Administration ist erfolgsabhängig796, so dass der Rehabilitationsträger in
Vorleistung tritt und das Risiko eines Misserfolges der beruflichen Rehabilitation
alleine trägt. Die Höhe der Bezahlung steht in Relation zu den Einsparungen, welche
die SSA aufgrund der erfolgreichen beruflichen Wiedereingliederung eines ehemaligen Leistungsempfängers macht. Dieser in Einzelheiten hochkomplizierte Bezahlungsmodus der Rehabilitationsträger ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass
keine zusätzlichen Mittel für die Bezahlung beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen
nach dem TWWIIA im Haushaltsplan bewilligt worden sind. Leistungen nach diesem Gesetz müssen also kostenneutral bereitgestellt werden, was durch das Junktim
zwischen der tatsächlich ersparten Sozialleistung und der Vergütung der Rehabilitationsträger bewirkt wird797.
Behinderte SSDI- und SSI-Empfänger, die mit Hilfe des Ticket den beruflichen
Wiedereinstieg verfolgen, profitieren in mehrfacher Hinsicht. Erstens verlängert sich
für SSDI-Empfänger die Möglichkeit, bei weiterhin bestehender Behinderung über
Medicare krankenversichert zu bleiben, um zusätzliche viereinhalb Jahre (54 Monate). Zusammen mit den bisherigen Fristen ist damit ein Verbleib im Medicare-
Programm für mehr als 8 Jahre nach Aufnahme einer ausreichend vergüteten Berufstätigkeit (substantial gainful activity – SGA; mehr unten) möglich798. Zweitens können SSI-Empfänger unter vereinfachten Bedingungen bei Aufnahme einer Berufstätigkeit über das Medicaid-Programm krankenversichert bleiben799. Drittens schützt
das Ticket davor, dass anlässlich der Aufnahme einer Berufstätigkeit das Vorliegen
einer Behinderung von der Social Security Administration neu überprüft wird800. Mit
792 20 C.F.R. 411.125.
793 20 C.F.R. 411.135.
794 Griffin/Mello, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 9.11.1.c. – für die staatlichen Vocational Rehabilitation Agencies gelten jedoch vorrangig die allgemeinen Akzeptanzkriterien der
order of selection, oben S. 177.
795 Griffin/Mello, a.a.O., § 9.11.1.c.
796 Sog. outcome payment system, 42 U.S.C. § 1320b-19(h)(2).
797 Zum Bezahlungsmodus und zu seinem politischen Hintergrund insgesamt Griffin/Mello, in:
Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 9.11.2.
798 Griffin/Mello, a.a.O., § 9.11.5.
799 42 U.S.C. § 1396a(a)(10); dazu Griffin/Mello, a.a.O., § 9.11.4.
800 42 U.S.C. § 1320b-19(i): Schutz vor Überprüfung für alle Benutzer eines Ticket;
42 U.S.C. § 421(m): Schutz vor Überprüfung für Langzeitempfänger von SSDI anlässlich der
Aufnahme einer bezahlten Arbeit.
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anderen Worten hilft der TWWIIA den – insbesondere mit Blick auf den Verbleib in
der Krankenversicherung vorteilhaften – Status der Behinderung zu sichern801.
c) Systemische Hindernisse
Die Gewährung von Leistungen der beruflichen Rehabilitation durch den wichtigsten Sozialleistungsträger der USA ist auch seit dem Ticket to Work and Work Incentives Improvement Act systemfremd geblieben. Dem Gesetz selber ist der Erfolg
versagt geblieben802. Entgegen seines Zieles konnte nicht einmal ein halbes Prozent
der SSDI- und SSI-Empfänger in die Berufstätigkeit und damit weg von der Sozialleistungsabhängigkeit gebracht werden803. Zwar verbessert der TWWIIA die Möglichkeiten des Verbleibs in einer durch Medicare bzw. Medicaid (mit)finanzierten
Krankenversicherung bei Aufnahme einer Berufstätigkeit. Doch stellt dies keine
qualitativ neue Vorgehensweise gegenüber anderen, ebenfalls weitgehend erfolglosen Reformversuchen dar. Ein weiteres Problem ist der Zwang, die berufliche Rehabilitation auf Grundlage des Ticket kostenneutral durchzuführen. Wegen ihrer Vorleistungspflicht dürften die Rehabilitationsträger zwar aussichtsreiche, aber kostenintensive Fälle erst gar nicht annehmen. Zudem steht die Höhe der Bezahlung der
Rehabilitationsträger nicht im Zusammenhang mit der tatsächlich erbrachten Rehabilitationsleistung, sondern bemisst sich allein nach den ersparten Sozialleistungen.
Damit ist eine berufliche Rehabilitation von SSI-Empfängern, die im Vergleich zu
SSDI-Empfängern deutlich weniger Sozialleistungen erhalten, wohl gänzlich unattraktiv804.
Die berufliche Rehabilitation hat bislang nicht als echtes sozialpolitisches Lenkungsinstrument in das Leistungsspektrum der Social Security Administration Eingang finden können. Solange der Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“ nicht in
irgendeiner Form dort statuiert ist, kann auch nicht mit einem Fortschritt gerechnet
werden. Geradezu verheerend wirkt sich aus, dass der Empfang von Leistungen der
beruflichen Rehabilitation an die Feststellung der Empfangsberechtigung von Rentenleistungen im Zusammenhang mit Behinderung knüpft. Dafür ist Voraussetzung
gerade die Erwerbsunfähigkeit. Eine erfolgreiche berufliche Rehabilitation muss
801 Zum Ganzen Griffin/Mello, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 9.11.3.
802 Sehr negativ die Einschätzung von Armstrong, 25 J. Nat’l A. Admin. L. Judges (2005) 157,
162 f.: „…a program that has been (…) dismal in its results.”
803 Vgl. Ziff. 12 der findings des TWWIIA: „If only an additional one-half of one percent of the
current Social Security Disability Insurance and Supplemental Security Income recipients
were to cease receiving benefits as a result of employment, the savings to the Social Security
Trust Funds and to the Treasury in cash assistance would total $3,500,000,000 over the
worklife of such individuals, far exceeding the cost of providing incentives and services
needed to assist them in entering work and achieving financial independence to the best of
their abilities.”
804 Vgl. Griffin/Mello, in: Eichner/Griffin, Legal Rights, 2002, § 9.11.2.a.
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aber in einer anderen Lebensphase ansetzen, nämlich präventiv vor der Anerkennung der Erwerbsunfähigkeit.
4. Zusammenfassung
In den USA stehen also hauptsächlich drei Träger für Leistungen der beruflichen
Rehabilitation bereit: Die Vocational Rehabilitation Services im Rahmen des grant-
Programms auf Basis des Rehabilitation Act, die gliedstaatlich organisierte Unfallversicherung sowie neuerdings die Social Security Administration. Diese Vielfalt
muss nicht per se gegen ein starkes und weitgehend einheitliches Recht auf Rehabilitation sprechen, was anhand des deutschen gegliederten Sozialsystems mit seinen
unterschiedlichen Leistungsträgern deutlich geworden ist. Allerdings sind in den
USA allen drei Wegen in die berufliche Rehabilitation gravierende Leistungsbeschränkungen bzw. systemische Leistungshindernisse eigen. Die Vocational Rehabilitation Services sind als closed-ended entitlement program notorisch unterfinanziert, für die Unfallversicherung ist berufliche Rehabilitation eine artfremde Leistung, die zudem nur bis zum Erreichen einer bestimmten Kostengrenze erbracht
wird, und die Social Security Administration ist angehalten, Rehabilitationsleistungen kostenneutral zu erbringen. Zudem wird die berufliche Rehabilitation nicht zur
Vermeidung von Rentenzahlungen dem Bezug von Rentenleistungen vorgeschaltet,
sondern nachrangig erbracht.
IV. Schlussbetrachtung: starkes Recht auf Rehabilitation in Deutschland gegen
uneinheitliche und vereinzelte Rehabilitationsleistungen in den USA
Das amerikanische Sozialrecht erkennt zwar Leistungen der beruflichen Rehabilitation als notwendiges und wichtiges Instrument zur Integration von Menschen mit
Behinderungen in die Arbeitswelt an, vermag es aber nicht, diese Leistungen
bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Anders als das deutsche System mit seinen
weitreichenden und erfolgreichen Vereinheitlichungsbemühungen in den letzten
Jahren sind die USA von einem einfachgesetzlich gewährleisteten „Recht auf Rehabilitation“ weit entfernt. Trotz einiger Vernetzungsbemühungen in den letzten Jahren wie etwa dem Workforce Investment Act aus dem Jahr 1998805 und dem Ticket to
Work and Work Incentives Improvement Act aus dem Jahr 1999, die den Zugang zu
Leistungen der beruflichen Rehabilitation für die Betroffenen vereinfachen sollen,
bleiben doch zu große Lücken und Widersprüchlichkeiten.
805 Public Law 105-220 v. 7.8.1998 – Dieses Gesetz dient der Schaffung eines Netzwerks aller
mit der Vermittlung von Arbeitsplätzen und der beruflichen Qualifizierung betrauten Stellen
durch sog. One-Stop Career Centers auf lokaler Ebene.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.