159
gelegte „Partizipationsmodell“ anknüpfen577. Allerdings dient die ICF – wie bereits
oben beschrieben578 – vor allem der begrifflichen Klarheit bei der Beschreibung von
Gesundheitszuständen. Konkrete sozialpolitische Konzepte sind dieser Klassifikation hingegen nicht zu entnehmen, so dass eine begriffliche Anlehnung des deutschen
Sozialrechts an die ICF sicher gut möglich ist, aber keineswegs zwingend war. Daher soll im Rahmen dieser Untersuchung weiterhin der Terminus berufliche Rehabilitation als zentraler Oberbegriff für alle Aspekte dieses Prozesses verwendet werden.
II. Berufliche Rehabilitation im deutschen Sozialrecht
Das vom sozialen Staatsziel durchdrungene deutsche System ist bei der Ausgestaltung der beruflichen Rehabilitation dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit verpflichtet579. Das bedeutet, dass jeder Mensch mit bereits manifester oder erst drohender
Behinderung, der noch rehabilitationsfähig ist, auch Leistungen zur beruflichen
Rehabilitation erhalten kann. Die Entwicklung der verschiedenen Ansprüche auf
Leistungen zur beruflichen Rehabilitation im gegliederten deutschen Sozialrecht zu
einem aus Empfängersicht weitgehend einheitlichen „Recht auf Rehabilitation“ soll
im Folgenden besprochen werden.
1. Geschichte
Deutschland kann auf eine recht lange Tradition staatlicher Leistungen zur beruflichen Rehabilitation zurückblicken. In Ansätzen waren solche Leistungen bereits
Bestandteil der Sozialversicherungen unter Bismarck, namentlich der gesetzlichen
Unfallversicherung von 1884 und der gesetzlichen Invalidenversicherung von
1889580. Zentrale gesellschaftliche und sozialpolitische Bedeutung erlangte die berufliche Rehabilitation in der Zeit während und nach dem 1. Weltkrieg, als die Integration der Kriegsverletzten in den Arbeitsmarkt bewerkstelligt werden musste581.
Die damaligen Gesetze waren überwiegend nach dem Kausalprinzip582 ausgestaltet
und gewährten nur solchen Personen Leistungen, die kriegsbedingt Schädigungen
erlitten hatten. Allerdings gab es auch Ansätze einer allgemeinen beruflichen Reha-
577 BT-Drs. 14/5074 v. 16.01.2001, S. 94.
578 Oben S. 50 ff.
579 Welti, Behinderung, 2005, S. 288 ff.; zu den unterschiedlichen Ausprägungen Eichenhofer,
Sozialrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 10.
580 Neumann, in: ders., Handbuch SGB IX, 2004, § 1 Rn. 3; Welti, Behinderung, 2005, S. 205.
581 Schimanski, in: GK-SGB IX, Einl. Rn. 56 ff., Stand Mai 2002; Stolleis, Geschichte, S. 123;
Welti, Behinderung, 2005, S. 211 ff.
582 Allgemein Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 174; Waltermann, Sozialrecht,
7. Aufl. 2008, Rn. 66.
160
bilitation im Preußischen Krüppelfürsorgegesetz von 1920, wonach die Fürsorge für
bedürftige Behinderte unter 18 Jahren auch die Erwerbsbefähigung mitumfasste583.
Nach dem 2. Weltkrieg lag der Fokus naturgemäß wieder auf der Integration der
Kriegsversehrten. Das Schwerbeschädigtengesetz von 1953 war der erste bundeseinheitliche Rahmen zur beruflichen Rehabilitation der durch Kriegsfolgen Schwerbehinderten, folgte also wie die entsprechenden Gesetze der Weimarer Republik
dem Kausalprinzip584. Hierin wurde vor allem eine den sozialen Realitäten entsprechende Beschäftigungsquote von 10% Schwerbeschädigten im öffentlichen Dienst
und 6% in der Privatwirtschaft ab sieben Arbeitsplätzen festgelegt585. Im Jahre 1974
wurde dann das Kausalprinzip durch das Finalprinzip ersetzt, was zur Folge hatte,
dass alle Schwerbehinderten ungeachtet der Ursache ihrer Behinderung unter den
Schutz des Gesetzes fielen586. Die Beschäftigungsquote wurde ebenfalls laufend
nach unten angepasst587.
Parallel zu der auf Kriegsopfer zugeschnittenen Schwerbeschädigten-, später
Schwerbehindertengesetzgebung entwickelten sich auch die Institutionen und der
Gesetzesrahmen für die berufliche Rehabilitation innerhalb des für alle geltenden
Sozialversicherungsrechts fort. Entscheidend für die rasche Entwicklung des institutionellen Sektors der beruflichen Rehabilitation in der Bundesrepublik war der hohe
Arbeitskräftebedarf Ende der 1950er-Jahre und während der 1960er-Jahre588. So
entstand eine weitreichende Infrastruktur von Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken sowie Werkstätten für Behinderte589, die heute noch die berufliche
Rehabilitation in Deutschland prägt, vgl. §§ 35, 39, 136 ff. SGB IX. Hierbei handelt
es sich um Dienste und Einrichtungen in freier (privater) oder gemeinnütziger Trägerschaft, derer sich die Rehabilitationsträger zur Leistungserbringung bedienen.
Dabei wirken sie an der Qualitätssicherung der Einrichtungen und Dienste mit,
§ 20 SGB IX.
2. Ansprüche auf Leistungen zur beruflichen Rehabilitation im gegliederten
Sozialsystem
Auch wenn jeder Bedürftige in Deutschland Zugang zu staatlichen Leistungen zur
beruflichen Rehabilitation hat, wirkt sich das gegliederte Sozialsystem doch wesentlich auf den konkreten Leistungsträger und die Anspruchsentstehung aus. Bevor auf
die unterschiedlichen Zuständigkeitsregelungen und Anspruchgrundlagen eingegan-
583 Zum Ganzen Welti, Behinderung, 2005, S. 212.
584 Schwerbeschädigtengesetz v. 16.6.1953, BGBl. I S. 389. Dazu Wilrodt, RdA 1953, 201 ff.
585 Neumann, in: ders./Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 11. Aufl. 2005, Einl. Rn. 3.
586 Schwerbehindertengesetz v. 29.4.1974, BGBl. I S. 1005; Schimanski, in: GK-SGB IX,
Einl. Rn. 68, Stand Mai 2002; Welti, Behinderung, 2005, S. 234.
587 Neumann, in: ders./Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 11. Aufl. 2005, Einl. Rn. 3.
588 Welti, Behinderung, 2005, S. 230.
589 Welti, Behinderung, 2005, S. 230; allgemein zu diesen Institutionen Rückemann/Zahn, in:
Egle/Nagy, Arbeitsmarktintegration, 2005, S. 349, 379 ff.
161
gen wird, soll der Grundmechanismus des deutschen Sozialsystems kurz skizziert
werden. Abschließend wird auf Besonderheiten bei der Integration von schwerbehinderten Menschen ins Berufsleben eingegangen.
a) Allgemeine Funktionsweise des Sozialsystems
Das von vielfältigen und häufigen politischen Änderungen gekennzeichnete Sozialrecht lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten strukturieren. Bereits angeklungen ist die Unterscheidung nach kausalen und finalen Leistungen, je nachdem
ob die Leistungsentstehung an den Grund eines Bedarfs oder an seine ursachenunabhängige Erfüllung anknüpft. Ein weiteres wichtiges Strukturprinzip ist die Finanzierung der Leistungen, die entweder auf Beiträgen beruht wie im gesamten
Sozialversicherungsrecht oder auf Steuern wie im übrigen Sozialrecht590. Vereinzelt
gibt es noch abgabenfinanzierte Sozialleistungen wie die mit der Ausgleichsabgabe
bezahlten Teilhabeleistungen im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit von
schwerbehinderten Menschen591. Traditionell wird das Sozialrecht in Sozialversicherung (beitragsfinanzierte Vorsorgeleistungen), Versorgung (einseitige staatliche
Leistungen für typischen Bedarf wie Kindergeld, Entschädigungsleistungen für
erbrachte Sonderopfer) und Fürsorge (subsidiäre Basisleistungen wie Sozialhilfe und
Grundsicherung für Arbeitssuchende) unterteilt592. Nach neuerer Ansicht wird eine
stärker an der Leistungsfunktion orientierte Dreiteilung bevorzugt, die nach Leistungen zur Vorsorge, zur Entschädigung und zum Ausgleich, womit allgemeine und
besondere soziale Hilfe und Förderung gemeint sind, unterscheidet593.
Zum Verständnis der Rehabilitationsleistungen ist entscheidend, das Sozialsystem
als gegliedertes System mit seinen zahlreichen unterschiedlichen Trägern zu begreifen594. In aller Regel handelt es sich bei diesen Trägern um Körperschaften des
öffentlichen Rechts. Für die Träger der Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung bestimmt dies § 29 I SGB IV; für die Bundesagentur für Arbeit als Trägerin
der Arbeitslosenversicherung und der zum Teil an die Stelle der Sozialhilfe getretenen Grundsicherung für Arbeitssuchende legt § 367 I SGB III diese Rechtsform fest.
Tatsächlich sind die genannten Träger jedoch häufig eine Mischung aus Körperschaft und Anstalt, da die mitgliedschaftliche Struktur unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Insbesondere gilt dies für die zuletzt genannte Bundesagentur595. Leistungen der Sozialhilfe werden erbracht von örtlichen Trägern596, i.d.R. Kreise und
590 Waltermann, Sozialrecht, 7. Aufl. 2008, Rn. 67.
591 Oben S. 137 f.
592 Z.B. Wannagat, Sozialversicherungsrecht, 1965, S. 31 ff.; Gitter/Schmitt, Sozialrecht,
5. Aufl. 2001, § 1 Rn. 9 ff.
593 Zurückgehend auf Zacher, DÖV 1970, 3, 6 (Fn. 41); dazu Igl/Welti, Sozialrecht,
8. Aufl. 2007, § 2 Rn. 3.
594 Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 525.
595 Igl/Welti, Sozialrecht, 8. Aufl. 2007, § 47.
596 § 3 II SGB XII.
162
kreisfreie Städte, sowie von überörtlichen Trägern597, etwa Kommunalverbände oder
die Länder selber598. Auch bei der Jugendhilfe wird zwischen örtlichen und überörtlichen Trägern unterschieden599. Allen genannten Trägern ist gemeinsam, dass sie
entweder mit kommunaler oder sonstiger Selbstverwaltung ausgestattet sind, wobei
angesichts der beträchtlichen gesetzlichen Regelungsdichte der verbleibende Selbstverwaltungsspielraum nur sehr eingeschränkt ist600.
Je nach Leistungsträger sind die Anspruchsvoraussetzungen unterschiedlich ausgestaltet und folgen unterschiedlichen Prinzipien. So erbringt etwa die Unfallversicherung umfassend Leistungen601 bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten und
folgt damit dem Kausalprinzip602. Der Versicherungsfall wird also nur bei einer
spezifischen Schadensursache ausgelöst. Die Krankenversicherung leistet dagegen
unabhängig von der Schadensursache und folgt somit dem Finalprinzip; ihr Leistungsspektrum umfasst allerdings keine Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation
sowie keine Rentenleistungen603.
Gemein ist den Leistungen der Sozialversicherung, dass sie nur denjenigen zur
Verfügung stehen, die Beiträge für einen entsprechenden Versicherungsschutz abführen. In Deutschland ist der größte Anteil der Bevölkerung in die unterschiedlichen Zweige der Sozialversicherung integriert, da es sich um gesetzliche Pflichtversicherungen handelt, die an die abhängige Erwerbsarbeit anknüpfen. Zusätzlich
erstreckt sich der Versicherungsschutz, wie etwa bei der Krankenversicherung, auf
nichterwerbstätige Familienmitglieder604. Die Sozialhilfe bzw. die Grundsicherung
für Arbeitssuchende sind hingegen als steuerfinanzierte Leistungen der öffentlichen
Fürsorge allen zugänglich, die mangels ausreichender wirtschaftlicher Mittel nicht
für ihren eigenen Unterhalt sorgen können605. Empfänger dieser Leistungen verbleiben aber im System der gesetzlichen Krankenversicherung606.
Trotz der Ausdifferenzierung und komplexen Verzahnung des deutschen Sozialleistungssystems ist also sichergestellt, dass jeder Bedürftige tatsächlich entspre-
597 § 3 III SGB XII.
598 Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 542; Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl. 2007,
§ 13 Rn. 9 ff.
599 § 69 SGB VIII.
600 Für die Sozialversicherungsträger Igl/Welti, Sozialrecht, 8. Aufl. 2007, § 11 Rn. 1; Muckel,
Sozialrecht, 2. Aufl. 2007, § 7 Rn. 12 f.
601 § 26 I SGB VII: Heilbehandlung, alle Arten der Rehabilitation, Pflege- und Rentenleistungen.
602 § 7 SGB VII.
603 Vgl. § 11 I SGB V: Leistungen zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten sowie des persönlichen Budgets nach § 17 II-IV SGB IX.
604 § 10 V SGB V, dazu Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl. 2007, § 8 Rn. 56 ff.
605 Einkommen und Vermögen des Antragstellers werden gemäß §§ 82 ff. SGB XII, §§ 11 f.
SGB II berücksichtigt. Ebenso werden Einkommen und Vermögen unterhaltspflichtiger Angehöriger in bestimmten Grenzen angerechnet; zivilrechtliche Unterhaltsansprüche gehen in
entsprechender Höhe auf den Leistungsträger über, sofern dieser in Vorleistung getreten ist,
§ 94 SGB XII, § 33 SGB II.
606 § 5 I Nr. 2a SGB V für Empfänger des Arbeitslosengeldes II, §§ 32 u. 42 S. 1 Nr. 4 SGB XII
für Sozialhilfe bzw. Grundsicherung im Alter.
163
chende Leistungen erhält. Leistungen zur beruflichen Rehabilitation sind integraler
Bestandteil des Systems und werden von allen bislang genannten Trägern außer der
Pflege- und Krankenversicherung erbracht.
b) Zuständigkeiten für Leistungen der beruflichen Rehabilitation
Konsequenz des gegliederten Systems ist, dass in einer Lebenssituation, die Leistungen zur beruflichen Rehabilitation erforderlich macht, der dafür zuständige Leistungsträger ermittelt werden muss. Dafür ist zunächst danach zu fragen, ob der Leistungsempfänger die erforderlichen Voraussetzungen persönlicher bzw. versicherungsrechtlicher Art erfüllt, um sich überhaupt an einen bestimmten Träger wenden
zu können. Kommen mehrere Träger als Leistungserbringer in Betracht, muss der
vorrangig zuständige ermittelt werden.
Zwischen den fünf wichtigsten Trägern ergibt sich folgende Rangfolge607: Beruht
die Schädigung, die eine berufliche Rehabilitation notwendig macht, auf einem
Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit, so ist die gesetzliche Unfallversicherung
zuständig608. Ziel dieser Versicherung ist es, den Arbeitnehmer für den erlittenen
Unfall zu entschädigen und gleichzeitig als Unternehmerhaftpflichtversicherung die
Haftungsrisiken auf Arbeitgeberseite zu mindern609. Ansprüche gegen den Träger
der gesetzlichen Unfallversicherung sind vorrangig gegenüber allen anderen möglichen Ansprüchen, was sich aus den Nachrangregelungen in den Gesetzen für die
anderen sozialen Leistungsträger ergibt610.
Zweitrangig zuständig für Leistungen zur beruflichen Rehabilitation sind die Rentenversicherungsträger. Um überhaupt Leistungen von diesem Träger zu erhalten,
müssen bestimmte persönliche und versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt
sein. Die persönlichen Voraussetzungen sind im Wesentlichen bei bestehender oder
drohender Erwerbsminderung wegen Krankheit oder Behinderung gegeben611; die
versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind im Wesentlichen bei einer Wartezeit
von 15 Jahren nach Beitragsbeginn und bei aktuellem oder sonst drohendem Bezug
einer Erwerbsminderungs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt612.
Den dritten Rang unter den möglichen Leistungsträgern nimmt die Bundesagentur
für Arbeit (BA) ein613. Diese ist für die berufliche Rehabilitation aller erwachsenen
607 Tabellarischer Überblick über die Träger der beruflichen Rehabilitation und ihre Rangfolge
bei Rückemann/Zahn, in: Egle/Nagy, Arbeitsmarktintegration, 2005, S. 349, 364.
608 §§ 8, 9 SGB VII.
609 Igl/Welti, Sozialrecht, 8. Aufl. 2007, § 36 Rn. 2 ff.; Waltermann, Sozialrecht, 7. Aufl. 2008,
Rn. 245.
610 Z.B. § 11 V SGB V (Nachrang gegenüber Leistungen der Krankenversicherung); § 12 I Nr. 1
SGB VI (Nachrang gegenüber Leistungen der Rentenversicherung).
611 § 10 I SGB VI.
612 § 11 SGB VI.
613 § 22 II 1 SGB III i.V.m. § 6 SGB IX begründet den Nachrang gegenüber den Trägern von
Unfall- und Rentenversicherung.
164
Menschen mit einer (drohenden) Behinderung zuständig, wenn nur so die Teilhabe
am Arbeitsleben gesichert bzw. wiederhergestellt werden kann614. Dem Zweck des
Arbeitsförderungsrechts entsprechend ist Grundvoraussetzung für einen Leistungsbezug nach SGB III, dass der behinderte Antragsteller noch erwerbsfähig ist615.
Viert- bzw. fünftrangig sind die Träger der Jugendhilfe und der Sozialhilfe für
Leistungen der beruflichen Rehabilitation zuständig616. Die Leistungen der letztgenannten Träger an Menschen mit Behinderung werden im Gesetz als Eingliederungshilfe bezeichnet617. Sie unterscheiden sich von den soeben besprochenen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dadurch, dass sie nur an solche Behinderten
erbracht werden, von denen im sozialrechtlichen Sinne eine Erwerbstätigkeit nicht
erwartet wird, da es an der Erwerbsfähigkeit im Sinne des Arbeitsförderungsrechts
fehlt618. Die Betroffenen bzw. ihre unterhaltspflichtigen Angehörigen werden zu
einem Kostenbeitrag herangezogen, weil die Leistungen der Jugend- und Sozialhilfe
nachrangige steuerfinanzierte Fürsorgeleistungen sind619.
c) Anspruchsgrundlagen für Leistungen zur beruflichen Rehabilitation
Auf Leistungen zur beruflichen Rehabilitation besteht bei nachgewiesenem Bedarf
dem Grunde nach immer ein Anspruch, unabhängig davon, welcher Träger zuständig ist. Die rechtliche Herleitung dieses Anspruchs gestaltet sich jedoch je nach
Leistungsträger ein wenig unterschiedlich.
Gänzlich unproblematisch ist sie bei der gesetzlichen Unfallversicherung, wo die
Anspruchsgrundlage in § 26 I 1 SGB VII lautet: „Versicherte haben nach Maßgabe
der folgenden Vorschriften und unter Beachtung des Neunten Buches Anspruch (...)
auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (...)“. Mit anderen Worten kann jeder
Behinderte oder von Behinderung Bedrohte, der die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, Leistungen zur beruflichen Rehabilitation von der gesetzlichen
Unfallversicherung verlangen.
In der Sache vergleichbar verhält es sich bei der gesetzlichen Rentenversicherung,
allerdings mit einer anderen rechtlichen Begründung. Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben können bei Erfüllung der persönlichen und versicherungsrechtlichen
Voraussetzungen erbracht werden, § 9 II i.V.m. I SGB VI. Damit scheint der An-
614 § 97 I SGB III.
615 § 8 I SGB II setzt hierfür eine mögliche Belastbarkeit mit drei Arbeitsstunden täglich an.
616 Grundsätzlich geht das Kinder- und Jugendhilferecht der Sozialhilfe vor, § 10 IV 1 SGB VIII.
Nur im Fall der Eingliederungshilfe für junge Menschen mit (drohender) Behinderung ist
nach § 10 IV 2 SGB VIII das SGB XII vorrangig. Bis zum Alter von 18 Jahren gibt es also
Eingliederungshilfe nach SGB VIII bzw. im Rahmen der Frühförderung nach Landesrecht
(§ 10 IV 3 SGB VIII), später dann nach SGB XII, sofern der Anspruchsteller nicht erwerbsfähig ist und daher dem Recht der Arbeitsförderung nach SGB III unterfällt.
617 Vgl. § 35a SGB VIII, §§ 53 ff. SGB XII.
618 Vgl. Welti, Behinderung, 2005, S. 719.
619 §§ 91 ff. SGB VIII, §§ 85 ff. SGB XII.
165
spruch im Ermessen des Versicherungsträgers zu liegen. Das in § 9 II SGB VI eingeräumte Ermessen ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts jedoch
bei nachgewiesener Notwendigkeit und Erfolgsaussicht einer Rehabilitationsmaßnahme auf Null reduziert, was sich aus dem im heutigen Sozialrecht an verschiedenen Stellen statuierten Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“ ergibt620. Das Bundessozialgericht schließt daraus, dass in Fällen, in denen ohne Rehabilitation aller Voraussicht nach ein Rentenanspruch erwachsen würde, nach dem Zweck des Gesetzes
keine Gründe mehr für eine Versagung von Rehabilitationsmaßnahmen denkbar
sind, womit aus Sicht des Leistungsempfängers dem Grunde nach ein Anspruch auf
die begehrte Leistung besteht621.
Bei den Leistungen der Bundesagentur für Arbeit an Menschen mit Behinderung
zur Teilhabe am Arbeitsleben ist nach allgemeinen und besonderen Leistungen zu
unterscheiden. Auf die besonderen Leistungen nach §§ 102 ff. SGB III besteht ein
Rechtsanspruch622. § 38 SGB I bestimmt, dass auf Sozialleistungen nur ein Anspruch besteht, soweit die Leistungsträger nach den besonderen Teilen des Sozialgesetzbuchs nicht ermächtigt sind, nach Ermessen zu handeln. § 3 V SGB III statuiert
nun, dass allgemeine Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben Ermessensleistungen
sind, besondere Leistungen sind hingegen von dieser Regelung ausdrücklich ausgenommen. Allerdings sind die besonderen Leistungen gemäß § 98 II SGB III nachrangig gegenüber den allgemeinen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Fraglich ist nun, wie es sich mit dem Ermessen verhält, welches die Verwaltung bezüglich der allgemeinen Teilhabeleistungen nach § 97 SGB III innehat. Besteht eine
Erfolgsaussicht der beruflichen Rehabilitation durch allgemeine Leistungen, so muss
allein schon aufgrund der Vorrangigkeit der allgemeinen gegenüber den besonderen
Leistungen das Ermessen auf Null reduziert sein. Doch nicht nur die Gesetzessystematik, sondern auch Ziel und Zweck der Arbeitsförderung gebieten dieses Ergebnis:
Die Bundesagentur für Arbeit verlangt von allen Arbeitslosen und Beschäftigten den
Einsatz ihrer Möglichkeiten, Arbeitslosigkeit und unterwertige Beschäftigung zu
vermeiden. Können diese Möglichkeiten durch Teilhabeleistungen verbessert werden, dann muss darauf auch ein Anspruch bestehen623.
Auf Eingliederungshilfe als Leistung der Jugendhilfe besteht für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche ein ausdrücklicher Anspruch624. Auch auf Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben als Bestandteil der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe625 haben Menschen mit Behinderung selbst bei mangelnder Erwerbsfähigkeit einen Anspruch. Zum einen kann dies aus § 14 I SGB XII herausgelesen
werden, wonach Leistungen zur Rehabilitation zum Erreichen der in SGB IX genannten Ziele, zu denen auch die dauerhafte Sicherung der Teilhabe am Arbeitsle-
620 § 9 I 2 SGB VI, § 8 II 1 SGB IX; dazu Welti, Die Rehabilitation 2002, 268, 269.
621 BSGE 57, 157, 161 auf Grundlage von § 7 I RehaAnglG; ausführlich Welti, Behinderung,
2005, S. 170 ff.
622 Rückemann/Zahn, in: Egle/Nagy, Arbeitsmarktintegration, 2005, S. 349, 370 f.
623 Welti, Behinderung, 2005, S. 719.
624 § 35a SGB VIII.
625 §§ 53 I, 54 I 1 Nr. 5 SGB XII.
166
ben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten gehört626, vorrangig zu erbringen
sind. Zum anderen ist der Wunsch, trotz Erwerbsunfähigkeit einer Berufstätigkeit
nachzugehen als Betätigung der Berufsfreiheit zu respektieren und entsprechend
sozialrechtlich zu unterstützen627.
d) Zusatzregelungen zur beruflichen Integration von schwerbehinderten Menschen
Neben der vorrangig auf eine sozialrechtliche Förderung des einzelnen Behinderten
zielenden beruflichen Rehabilitation, sieht das deutsche Recht noch zahlreiche arbeitsrechtliche Sonderregelungen für die berufliche Integration schwerbehinderter
Menschen vor. Früher war diese Rechtsmaterie im Schwerbehindertengesetz geregelt, das heute als Teil 2 in das SGB IX aufgegangen ist628. Diese Regelungen sind
bereits ausführlich beschrieben worden629. Funktion und Gestalt der Schutz- und
Fördermaßnahmen sind unterschiedlich. Bei Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe handelt es sich um arbeitsmarktpolitische Lenkungsmaßnahmen, die Pflichten auf Arbeitgeberseite begründen, aber keine korrespondierenden Rechte auf Arbeitnehmerseite enthalten. Ferner gibt es zahlreiche Anhörungsrechte, die entweder
dem Menschen mit Behinderung selber, der Schwerbehindertenvertretung oder einer
anderen Arbeitnehmervertretung zustehen. Verschiedentlich ist das Integrationsamt
eingebunden, wie etwa bei der Kündigung oder dem Abschluss einer Integrationsvereinbarung. Weiterhin finden sich Ansprüche gegen den Arbeitgeber auf besondere Teilhabeleistungen sowie ein Benachteiligungsverbot. Grundsätzlich stehen die
genannten Rechte nur schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen zu630.
Die beschriebenen Regelungen stehen natürlich im Zusammenhang mit der klassischen beruflichen Rehabilitation, gehören jedoch im engeren Sinne nicht dazu.
Ansatzpunkt ist nämlich weniger der einzelne Behinderte, sondern vielmehr das
Arbeits- bzw. Arbeitsmarktumfeld, das der speziellen Situation entsprechend gestaltet werden soll. Dies geschieht primär durch Auferlegung spezieller Arbeitgeberpflichten und durch Sonderrechte schwerbehinderter Arbeitnehmer.
626 § 4 I Nr. 3 SGB IX.
627 Welti, Behinderung, 2005, S. 719.
628 Teil 2 des SGB IX hat bei seinem Erlass das seit 1953 bestehende Schwerbehindertengesetz
in der Fassung vom 1.10.2000 praktisch gleichlautend übernommen, Hansen, NZA 2001,
985, 988; Neumann, in: ders./Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 11. Aufl. 2005, § 68 Rn. 1.
Mittlerweile haben sich aber wieder zahlreiche Änderungen ergeben, dazu Cramer,
NZA 2004, 698.
629 Oben S. 133 ff.
630 § 68 I SGB IX.
167
3. Vereinheitlichung der beruflichen Rehabilitation von Menschen mit Behinderung
Das im deutschen Sozialrecht verankerte „Recht auf berufliche Rehabilitation“ bedarf der konkreten Ausgestaltung, um ein wirksames Instrument zur Eingliederung
von Menschen mit Behinderungen in das Berufsleben zu sein. Idealerweise sollte es
dabei für Leistungsempfänger keinen Unterschied machen, welcher Rehabilitationsträger für die Verwirklichung ihres Rechts auf Rehabilitation zuständig ist. Ferner
sollten Zuständigkeitsfragen nicht zu Lasten der Antragssteller gehen, sondern intern
von den Trägern geklärt werden, ohne dass es zu Verzögerungen bei der Antragsbearbeitung und Leistung kommt. Eine effektive Durchsetzung des Rechts auf Rehabilitation im oben beschriebenen Sinne stößt im gegliederten System naturgemäß auf
Schwierigkeiten, zumal dann, wenn die Durchführung der Rehabilitation für jeden
einzelnen Leistungsträger gesondert geregelt ist. Mittlerweile ist diese Problematik
durch das SGB IX deutlich entschärft worden. Bevor jedoch darauf näher eingegangen wird, soll zunächst das RehaAnglG als Vorläufer des SGB IX genauer unter die
Lupe genommen werden.
a) RehaAnglG
Die erste umfassende Tätigkeit des Bundesgesetzgebers in Richtung Vereinheitlichung der Leistungen zur beruflichen Rehabilitation fand im Jahre 1974 mit dem
Erlass des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) statt631. Dieses Gesetz galt nur für die gesetzliche Kranken-, Unfall- und
Rentenversicherung, die Altersicherung der Landwirte, die Kriegsopferversorgung
und die Arbeitsförderung632. Die Träger von Jugend- und Sozialhilfe blieben dagegen als Rehabilitationsträger außen vor. Für die umfassten Träger sah das
RehaAnglG eine enge Zusammenarbeit im Interesse der wirksamen Eingliederung
von Behinderten vor633. Ferner waren bestimmte Träger bei ungeklärter Zuständigkeit vorleistungspflichtig; besonders wichtig war die subsidiäre Zuständigkeit der
Bundesanstalt für Arbeit für berufsfördernde Maßnahmen634. Der bereits erwähnte,
für die Stellung der Rehabilitation im deutschen Sozialrecht zentrale Grundsatz
„Rehabilitation vor Rente“ und gemeinsame Grundsätze zur Erbringung der Rehabilitationsleistungen waren enthalten635. Maßgeblich blieben jedoch die für den Rehabilitationsträger geltenden besonderen Rechtsvorschriften636.
Auch wenn das RehaAnglG mangels verbindlicher Festsetzungen bei der Erbringung von Rehabilitationsleistungen kaum als großer Wurf des Gesetzgebers be-
631 BGBl. I 1974, 1881.
632 § 2 I RehaAnglG.
633 § 5 III RehaAnglG.
634 § 6 II 1 Nr. 2 RehaAnglG; dazu BSGE 52, 239.
635 § 7 u. §§ 9 ff. RehaAnglG.
636 § 9 I RehaAnglG.
168
zeichnet werden kann, weisen viele Regelungen doch in die richtige Richtung.
Schon bei Erlass dieses Gesetzes war indes den Beteiligten bewusst, dass hiermit
noch nicht das Ziel erreicht, sondern erst die Reise begonnen worden war. So hatte
etwa der Bundestag bereits bei Verabschiedung des RehaAnglG den Prüfungsauftrag erteilt, die im RehaAnglG noch bestehende Trennung zwischen Rehabilitationsträgern und der Sozialhilfe aufzuheben637. In den folgenden Jahren wurde auf politischer Ebene immer wieder gefordert, das Behinderten- und damit auch das Rehabilitationsrecht in das System des Sozialgesetzbuchs einzugliedern638. Im Zweiten
Bericht zur Lage der Behinderten und der Entwicklung der Rehabilitation im Jahre
1989 kündigte die Bundesregierung dieses Vorgehen an. Eine Zusammenfassung
von Rehabilitations- und Schwerbehindertenrecht sowie deren Eingliederung ins
Sozialgesetzbuch waren auch Gegenstand der Koalitionsvereinbarung und der Regierungserklärung des Jahres 1991. Für die Zeit der 12. und 13. Legislaturperiode
blieb es jedoch bei Entwürfen und Stellungnahmen639. Richtungsweisend ist aus
dieser Zeit immerhin die Ergänzung des Grundgesetzes um Art. 3 III 2, der das Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung festschreibt640. Erst 1998 unter der
neuen Rot-Grünen-Koalition legte die Koalitionsvereinbarung fest, dass die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen durch die
Zusammenfassung des Rechts auf Rehabilitation im Sozialgesetzbuch Neuntes Buch
(SGB IX) erreicht werden sollte641. Dieses Gesetz stärkt die Rechte von Menschen
mit Behinderungen sowie ihre Stellung im Sozialrecht erheblich und kann als vorläufiger Endpunkt der Entwicklung des Rehabilitationsrechts in Deutschland betrachtet werden.
b) SGB IX
Das SGB IX642 regelt das „Recht auf Rehabilitation“ verbindlich und umfassend.
Sowohl in seiner Regelungstechnik als auch durch seine Einbettung in das Sozialgesetzbuch hat das SGB IX einen kodifikatorischen Anspruch und sorgt für einen
erheblich vereinfachten Zugriff auf die bislang eher zersplittert geregelte Materie643.
In die Ordnung des Sozialgesetzbuchs fügt sich das SGB IX dergestalt ein, dass es
vergleichbar dem SGB I, IV und X bereichsübergreifende Regelungen für alle Sozi-
637 Neumann, in: ders./Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 11. Aufl. 2005, Einl. Rn. 12.
638 Zum Folgenden Neumann, in: ders./Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 11. Aufl. 2005, Einl.
Rn. 12 ff.; Niemann, NZS 2001, 583 f.
639 Ausführlich Haines, ZSR 1997, 463 ff.
640 Dazu bereits oben S. 30 ff.
641 Ausführlich Bihr, BB 2000, 407 ff.
642 Art. 1 des Artikelgesetzes Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – (SGB IX) – Rehabilitation und
Teilhabe Behinderter Menschen v. 19.6.2001, BGBl. I S. 1046.
643 Vgl. Welti, NJW 2001, 2210.
169
alleistungsträger enthält644. Dem gegliederten System wird dadurch Rechnung getragen, dass die für den einzelnen Rehabilitationsträger geltenden besonderen Rechtsvorschriften hinsichtlich der Zuständigkeit und der Leistungsvoraussetzungen Vorrang besitzen645. Das SGB IX enthält also keine eigenen Rechtsansprüche auf Leistungen der Rehabilitation646. Die Vorschriften über die konkrete Leistungserbringung hingegen gelten unmittelbar und originär für jeden Rehabilitationsträger,
soweit sich nichts Abweichendes aus den besonderen Leistungsgesetzen ergibt647.
Für die berufliche Rehabilitation verweisen das Recht der Unfallversicherung648 und
der Rentenversicherung649 ausdrücklich auf relevante Paragraphen des SGB IX; das
SGB III hingegen enthält in weitem Umfang eigene Regelungen zur Förderung der
Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben650, so dass hier die subsidiäre Geltung des SGB IX in höherem Maße Bedeutung hat.
Selber teilt sich das SGB IX in zwei Teile651. Der erste enthält Regelungen für alle behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen und fungiert damit bezogen auf die Regelungsmaterie als allgemeiner Teil, während der zweite Teil aus
besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen besteht und
später noch erörtert wird. Den Beginn des ersten Teiles machen allgemeine Regelungen zur Durchführung von Rehabilitation. Daran schließen genaue Beschreibungen der Leistungen innerhalb der einzelnen Rehabilitationsbereiche an. Den Schluss
bilden wieder allgemeine Vorschriften zur Koordinierung und Sicherung der Teilhabe insgesamt wie die Bildung eines Beirats und die Schaffung eines Verbandsklagerechts. Im Vergleich zum RehaAnglG stellt der erste Teil des SGB IX nicht nur
deshalb eine erhebliche Neuerung dar, weil die Durchführung der Rehabilitationsleistungen hier – vorbehaltlich abweichender Vorschriften der besonderen Leistungsgesetze – verbindlich einheitlich geregelt ist, während dort nur Grundsätze
aufgestellt worden waren. Das SGB IX erweitert auch den Kreis der Rehabilitationsträger um die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und die der Sozialhilfe652, so dass
alle öffentlichen Stellen, die Teilhabeleistungen erbringen, unter das einheitliche
Regime des SGB IX fallen. Ferner legt das SGB IX in § 2 I einen allgemein gültigen
Behinderungsbegriff fest653. Für betroffene Antragssteller und ihr „Recht auf Rehabilitation“ ganz entscheidend positiv auswirken dürfte sich das neue Zuständigkeits-
644 Allgemein Neumann, NZS 2004, 281 ff.; Schimanski, in: GK-SGB IX, Einl. Rn. 134 f., Stand
Mai 2002.
645 § 7 S. 2 SGB IX.
646 Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 519.
647 § 7 S. 1 SGB IX.
648 § 35 I SGB VII.
649 § 16 SGB VI.
650 §§ 97 ff. SGB III.
651 Zum Ganzen s. die Überblicksaufsätze von Niemann, NZS 2001, 583; Welti, NJW 2001,
2210.
652 § 6 I Nr. 6 u. 7 SGB IX.
653 Ausführlich oben S. 62 f.
170
klärungsverfahren654. Dieses Verfahren soll vermeiden, dass Zuständigkeitsfragen
verschleppt werden und eine ungeklärte Zuständigkeit zu Lasten des Betroffenen
geht. Der in Anspruch genommene Träger muss innerhalb von zwei Wochen nach
Antragseingang über seine Zuständigkeit entscheiden und bei Nichtzuständigkeit
den Antrag unverzüglich an den nach seiner Auffassung zuständigen oder den unabhängig von der Behinderungsursache leistenden Träger weiterleiten. Die Einhaltung
dieser zweiwöchigen Frist ist deshalb wichtig, weil bei Leistungsbewilligung trotz
Unzuständigkeit ein an sich bestehender interner Erstattungsanspruch gegen den
zuständigen Träger bei Fristversäumung ausgeschlossen ist655. Damit hat der Gesetzgeber im Vergleich zur Regelung des RehaAnglG, wo bei offenen Zuständigkeitsfragen nur die Vorleistungspflicht eines gesetzlich bestimmten Trägers angeordnet war, die „Daumenschrauben angezogen“656. Denn unter dem RehaAnglG gab
es einen solchen Ausschluss des Erstattungsanspruches nicht. Insgesamt presst das
neue Zuständigkeitsklärungsverfahren die Rehabilitationsträger in ein enges Fristenkorsett. Die Fristen sind regelmäßig als Bearbeitungsfristen ausgestaltet, für den
Fristbeginn wird die Stellung des Antrags für maßgeblich erachtet657. Bei nichtfristgerechter Antragsbearbeitung erhält der Antragsteller eine weitere Sanktionsmöglichkeit an die Hand, indem der zuständige Rehabilitationsträger zur Erstattung von
Aufwendungen verpflichtet wird, die der Leistungsberechtigte in eigener Regie
getätigt hat658. Ferner wird auf eine verbesserte Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger hingewirkt, insbesondere sind gemeinsame Servicestellen vorgesehen, wo
Betroffene umfassend und aus einer Hand über ihre Rehabilitationsmöglichkeiten
bei den unterschiedlichen Trägern beraten werden659.
Von diesen eher technischen, aber nichtsdestotrotz für eine effektive Durchsetzung des „Rechts auf Rehabilitation“ wichtigen Regelungen abgesehen, stärkt das
SGB IX auch inhaltlich die Selbstbestimmungs- und Teilhabemöglichkeiten von
Menschen mit Behinderungen. Der Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“ ist auf alle
anderen Sozialleistungen, also auch Leistungen zur Pflege, erweitert worden660.
Jeder Rehabilitationsträger, bei dem Sozialleistungen beansprucht werden, ist verpflichtet, den voraussichtlichen Erfolg von Teilhabeleistungen zu prüfen661. Leistungsberechtigte haben im Rehabilitationsverfahren die Möglichkeit, ihre Wünsche
654 § 14 SGB IX; positive Bewertung etwa der Bundesregierung im „Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe“ BT-Drs.
15/4575 v. 16.12.2004, S. 3.
655 § 4 IV SGB IX i.V.m. § 105 I SGB X.
656 Vgl. Benz, SGb 2001, 611; Majerski-Pahlen, in: Neumann/Pahlen/dies., SGB IX, 11. Aufl.
2005, § 14 Rn.1; kritisch Löschau, in: GK-SGB IX, § 14 Rn. 4 ff., Stand April 2007.
657 Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 2. Aufl. 2006, § 14 Rn. 7; Majerski-Pahlen, in: Neumann/Pahlen/dies., SGB IX, 11. Aufl. 2005, § 14 Rn. 6 ff.
658 § 15 SGB IX.
659 §§ 22 ff. SGB IX.
660 § 8 SGB IX.
661 § 8 I SGB IX.
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maßgeblich einzubringen662. Die Leistungskataloge der einzelnen Rehabilitationsphasen sind umfassend und offen gestaltet. Praktisch alles, was einen Rehabilitationserfolg herbeiführen kann, ist als Leistung möglich663. Für Leistungen zur beruflichen Rehabilitation gibt es zwar eine zeitliche Begrenzung im Rahmen des Üblichen, aber Ausnahmen sind möglich664. Eine Begrenzung von Rehabilitationsleistungen in geldlicher Hinsicht ist nicht eigens vorgesehen, allerdings müssen sich
die Leistungserbringer natürlich an den allgemeinen Grundsatz wirtschaftlicher
Leistungserbringung halten. Solange jedoch eine Rehabilitation erfolgsversprechend
ist, ist der generelle Grundsatz des Vorranges der Rehabilitation als ermessensleitend bei der konkreten Durchführung der Rehabilitation anzusehen.
4. Zusammenfassung
Spätestens seit dem Inkrafttreten des SGB IX kann man in der Bundesrepublik
Deutschland von einem einheitlich ausgestalteten, allgemein zugänglichen und für
die Betroffenen effektiv durchsetzbaren „Recht auf berufliche Rehabilitation“ sprechen665. Dem Grunde nach bestand dieses Recht schon seit vielen Jahrzehnten, wenn
auch der gegliederte Charakter des deutschen Sozialsystems für eine gewisse Zersplitterung in seiner konkreten Ausgestaltung sorgte. Die kontinuierlichen Bestrebungen des bundesdeutschen Gesetzgebers nach Vereinheitlichung der beruflichen
Rehabilitation zeigen die hohe Bedeutung dieses Reaktionsmodells auf den Lebenssachverhalt Behinderung im gesellschaftlichen wie im politischen Leben. Insbesondere hervorzuheben ist die konsequente Verankerung des Grundsatzes „Rehabilitation vor Rente“. Dieser Grundsatz stellt sicher, dass die berufliche Rehabilitation als
zentrales Instrument in das System der Sozialleistungen integriert ist. In Einzelheiten gibt es zwar – vor allem aus Sicht der Betroffenen – viele Ungereimtheiten und
Verbesserungsmöglichkeiten666. Das hier gezeichnete Bild ist aber bewusst holzschnittartig gehalten, um die im Rechtssystem grundsätzlichen und in der Praxis
weitreichenden Unterschiede zum Stellenwert der beruflichen Rehabilitation im
Sozialrecht der Vereinigten Staaten von Amerika zu verdeutlichen.
662 § 9 SGB IX – besondere Erwähnung verdient auch die Möglichkeit, Leistungen als persönliches Budget zu erbringen, § 17 SGB IX.
663 Vgl. Welti, NJW 2001, 2210, 2213 f.
664 § 37 I SGB IX.
665 Insgesamt ist das SGB IX in der Rechtspraxis als positiv bewertet worden, z.B. im Bericht
der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe BT-Drs. 15/4575 v. 16.12.2004, S. 16; aus den zahlreichen Aufsätzen nur Welti, SuP
2006, 275; Mascher, BArbBl. 2002, 17; Wilmerstadt, Berufliche Rehabilitation 2002, 161.
666 Zur Kritik vgl. Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 2. Aufl. 2006, Einl. Rn.72 ff.
172
III. Berufliche Rehabilitation im Recht der USA
Es ist nicht möglich, die rechtlichen Grundlagen der Leistungen zur beruflichen
Rehabilitation als zu einem einheitlichen „Recht auf Rehabilitation“ verbundene
Ansprüche darzustellen. Hauptursache hierfür ist das fragmentierte Sozialsystem der
Vereinigten Staaten, das im Übrigen nur lückenhaft Leistungen bereithält. Daher
werden die drei Hauptträger beruflicher Rehabilitation, die Voraussetzungen des
Leistungsbezugs sowie die Leistungsgrenzen separat erörtert. Soweit für das Verständnis erforderlich, wird eine allgemeine Beschreibung von Aufgabe und Funktionsweise des jeweiligen Leistungsprogramms im Gesamtsystem der USA vorangestellt.
1. Vocational Rehabilitation Services
Die Vocational Rehabilitation Services sind die wichtigsten staatlichen Anlaufstellen, um Leistungen zur beruflichen Rehabilitation in den USA zu erhalten. Die Leistungsgewährung erfolgt einheitlich auf Grundlage von Titel I des Rehabilitation Act
of 1973, dessen zentrale Antidiskriminierungsregelung bereits thematisiert worden
ist667. Obwohl dieses Gesetz potentiell ein umfassendes, modernes Recht auf berufliche Rehabilitation gewährt, wird zu zeigen sein, dass dieses Recht tatsächlich nur
von sehr begrenzten Teilen der amerikanischen Bevölkerung realisiert werden kann.
a) Hintergrund
Besonders drei Aspekte sind von Interesse: erstens der historische Hintergrund,
zweitens die Gesetzgebungs- und drittens die Verwaltungskompetenz für den Rehabilitation Act.
aa) Geschichte
Bundesweite staatliche Leistungen zur beruflichen Rehabilitation wurden 1918 mit
dem Smith-Sears Act668 und 1920 mit dem Smith-Fess Act669 erstmalig in den USA
eingeführt. Den Anstoß dazu gab die Heimkehr der Veteranen des ersten Weltkrieges. Schon bald wurde die berufliche Rehabilitation jedoch unabhängig von der
Behinderungsursache auf alle Menschen mit Körperbehinderung ausgedehnt670. Das
667 Oben S. 91 ff.
668 Public Law 65-178 v. 27.6.1918.
669 Public Law 66-236.
670 Scotch, in: Longmore/Umansky, Disability History, 2001, S. 375, 381.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.