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2. Erhalt der Instrumente des Schwerbehindertenrechts als Flankenschutz für die
berufliche Rehabilitation
Diejenigen Menschen mit Behinderung, die allein wegen der Natur ihrer spezifischen Behinderung nicht als Profiteure eines Rechts auf angemessene Vorkehrungen
in Betracht kommen, sind umso stärker auf Leistungen der beruflichen Rehabilitation angewiesen. In vielen Fällen werden aber auch diese Leistungen nicht ausreichen, um eine Wettbewerbsteilnahme mit Hilfe von angemessenen Vorkehrungen
gewährleisten zu können. Dies ist typischerweise umso eher der Fall, je schwerer die
Behinderung ausgeprägt ist. Das Schwerbehindertenrecht mit seinen diversen
Schutz- und Förderinstrumenten wie Quotenregelung, Integrationsvereinbarungen,
bevorzugten Einladungen zu Vorstellungsgesprächen im öffentlichen Dienst etc. ist
in diesen Fällen ein wichtiges Hilfsmittel, um auch solche Bewerber bei ihrer Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Es ist für eine ausgewogene Behindertenpolitik also weiterhin unverzichtbar.
3. Zielgenaue Ausgestaltung des Rechts auf angemessene Vorkehrungen
Im Sinne eines eher elitär ausgerichteten Gleichstellungsinstruments sollte das Recht
auf angemessene Vorkehrungen als Bestandteil des Antidiskriminierungsrechts für
Menschen mit Behinderung passgenau auf seine Zielgruppe zugeschnitten werden.
Zu vermeiden ist, dass dieses Recht zu einem allgemeinen Auffangbecken für Bewerber und Arbeitnehmer wird, die irgendwie die Erfüllung bestimmter Qualifikationsmerkmale umgehen wollen1140. Weiterhin ist es angezeigt, das Recht auf angemessene Vorkehrungen eng zu verstehen. Einerseits macht ein solches Verständnis
klar, dass es um die Beseitigung struktureller Barrieren geht, die ohne grundlegenden Aufwand zu bewerkstelligen ist. Andererseits vermeidet eine Begrenzung des
Rechts auf angemessene Vorkehrungen einen Verlust der Akzeptanz für die Instrumente des Schwerbehindertenrechts, die – wie gezeigt – weiterhin zentraler Bestandteil einer ausgewogenen Behindertenpolitik bleiben müssen.
B. Vorschläge zur Fortentwicklung des Antidiskriminierungsrechts für Menschen
mit Behinderung in Deutschland
Die zielgenaue Umsetzung des Rechts auf angemessene Vorkehrungen im Sinne der
gerade formulierten Maßstäbe setzt an zwei Punkten an: Erstens muss ein Behinderungsbegriff gefunden werden, mit dessen Hilfe der Adressatenkreis für dieses
Recht genau umrissen werden kann. Zweitens sollte das Recht auf angemessene
Vorkehrungen ausdrücklicher Bestandteil des AGG werden, um das richtige Ver-
1140 Oben S. 59.
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ständnis dieses Instituts im Sinne der Rahmenrichtlinie bei allen Rechtsanwendern
zu gewährleisten.
I. Antidiskriminierungsrechtliche Behinderungsdefinition
Der Behinderungsbegriff in § 2 I 1 SGB IX ist für ein Antidiskriminierungsrecht,
welches das Recht auf angemessene Vorkehrungen speziell für Menschen mit Behinderung bereithalten will, nicht mit der ausreichenden Trennschärfe ausgestattet1141. Die angemessenen Vorkehrungen sollen gerade die funktionale Aktivitätsbeeinträchtigung ausgleichen, durch die sich die Behinderung nach außen manifestiert.
Daher sollte ein entsprechender Behinderungsbegriff dieses Merkmal sprachlich
prägnant zum Ausdruck bringen. Vorgeschlagen wird daher folgende Definition für
das AGG:
Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist ein auf einer Schädigung beruhender Zustand, der
sich in der Beeinträchtigung einer wesentlichen körperlichen, geistigen oder seelischen Aktivität nach außen niederschlägt.
Diese Definition könnte als zweiter Absatz in § 1 AGG eingegliedert werden oder
als § 1a in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Eingang finden. Sie ist bewusst
eng gehalten. Die Aktivitätsbeeinträchtigung wird durch das Wesentlichkeitserfordernis qualifiziert, damit im Alltag unwesentliche oder vollständig korrigierbare
Beeinträchtigungen wertend ausgeschieden werden können. Weiterhin wird durch
diese Definition ein Einfluss von Kontextfaktoren auf Tatbestandsebene vermieden,
indem nur körperliche, geistige und seelische Aktivitäten in Betracht kommen.
II. Recht auf angemessene Vorkehrung im Diskriminierungskonzept des AGG
Das Recht auf angemessene Vorkehrungen kann alternativ an zwei Stellen ins AGG
eingefügt werden. Entweder es wird der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen
der objektiven Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung zugeschlagen.
Oder das Recht auf angemessene Vorkehrungen erfährt eine eigenständige Regelung
im Rahmen eines besonderen Rechtfertigungsgrundes. In beiden Fällen kann erwogen werden, das Recht auf angemessene Vorkehrungen bereits gesetzlich einzuschränken.
1141 Oben S. 66 f.
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References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.