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minierungsrechts für Menschen mit Behinderung in einem traditionell sozialstaatlich
ausgerichteten System wie dem deutschen zu einer Absenkung sozialer Standards
führt. Allerdings ist das nur dann nicht zu befürchten, wenn das Antidiskriminierungsrecht als zusätzliches Steuerungsinstrument verstanden wird. Bei einem substitutiven Verständnis könnte spezieller Diskriminierungsschutz von Menschen mit
Behinderung einen Rückzug des leistenden Staates mit sich bringen, was im Interesse der Betroffenen zu vermeiden ist.
II. Paradigmenerweiterung als Leitbild der Behindertenpolitik
Derzeit weist das Leitbild der deutschen Behindertenpolitik in Richtung behutsame
Paradigmenerweiterung: Das Rehabilitationsrecht ist im SGB IX strukturell vereinheitlicht worden und das Schwerbehindertenrecht ist Bestandteil des SGB IX geworden1132. Das SGB IX bildet somit die wichtigste Säule des Behindertenrechts.
Eine Beeinflussung der Kontextfaktoren im Sinne einer teilhabeorientierten Gestaltung der Umwelt geschieht vor allem im BGG und den entsprechenden Landesgesetzen, welche sich in erster Linie an die öffentliche Hand wenden1133. Die Betonung
der Teilhabe kommt auch im einheitlichen Behinderungsbegriff in § 2 I 1 SGB IX
zum Ausdruck1134.
Allerdings sollte sich die deutsche Rechtsentwicklung noch stärker mit einer Eingliederung des Antidiskriminierungsrechts in ein behindertenpolitisches Gesamtkonzept auseinandersetzen. Dies legen vor allem die Vorgaben aus Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG nahe. Zwar lassen sich die Regelungen der mittelbaren Benachteiligung im AGG einerseits und das betriebliche Eingliederungsmanagement in
§ 84 II SGB IX andererseits bei richtlinienkonformer Auslegung in ihrer Gesamtschau als ausreichende Umsetzung der Rahmenrichtlinie verstehen1135. Allerdings ist
damit keine konzeptionell stimmige Umsetzung gelungen. Das Recht auf angemessene Vorkehrungen kann nur mit einigen interpretatorischen Mühen im Rahmen der
Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der objektiven Rechtfertigung einer mittelbaren
Diskriminierung nach § 3 II AGG berücksichtigt werden1136. Das Bundesarbeitgericht hat sich diesem Punkt bislang noch gar nicht gewidmet, sondern ist bestrebt,
generelle Schutzrechte aus dem Schwerbehindertenrecht als angemessene Vorkehrungen nach Art. 5 Rahmenrichtlinie zu deuten1137. Dadurch wird zwar das Schwerbehindertenrecht erheblich aufgewertet, indem seine Nichtbeachtung mit den Sanktionsinstrumenten des AGG geahndet werden kann. Allerdings ist daran erkennbar,
dass das Bundesarbeitsgericht das Antidiskriminierungskonzept für Menschen mit
1132 Oben S. 168 ff.
1133 Oben S. 42 ff.
1134 Oben S. 62 f.
1135 Oben S. 149 ff.
1136 Oben S. 144 f. u. 150 f.
1137 Oben S. 123 ff. u. 126 ff.
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Behinderung nicht im Sinne der Richtlinie rezipiert. Diese fordert nämlich angemessene Vorkehrung als Ausgleich für individuell-konkrete Nachteile aufgrund einer
bestimmten Behinderung, was ausschließlich einzelfallabhängig zu entscheiden ist.
Zugestimmt werden kann dem Bundesarbeitsgericht nur insofern, als dass die Verletzungen von Schutzvorschriften des Schwerbehindertenrechts dazu geeignet ist,
eine antidiskriminierungsrechtlich relevante Umkehr der Beweislast zu begründen1138. Die Benachteiligung selber muss dann aber anhand der Umstände des Einzelfalls untersucht werden, wobei auch die Frage nach den vom Arbeitgeber vorzunehmenden angemessenen Vorkehrungen zu stellen ist. Eine gesetzliche Weiterentwicklung des AGG im Geiste der Rahmenrichtlinie sollte daher nicht darauf
verzichten, das Recht auf angemessene Vorkehrungen zu inkorporieren, schon um
die Rechtsprechung in gemeinschaftsrechtskonforme Bahnen zu lenken.
Die Fortentwicklung des AGG im Sinne eines speziellen Diskriminierungsschutzes für Menschen mit Behinderung muss sich ins Leitbild der behutsamen Paradigmenerweiterung einpassen. Die folgenden Punkte weisen darauf hin, was dabei
besonders zu beachten ist.
1. Profiteure des Rechts auf angemessene Vorkehrungen
Als Bestandteil eines modernen Antidiskriminierungsrechts, das auf die Bekämpfung struktureller Ungleichbehandlungen ausgerichtet ist, kann das Recht auf angemessene Vorkehrungen nur dazu dienen, strukturelle Ungleichheiten auszugleichen.
Profiteure dieses Rechts sind daher solche Menschen mit Behinderung, die aufgrund
bloß einiger weniger ungünstiger Parameter nicht erfolgreich am Wettbewerb auf
dem Arbeitsmarkt teilnehmen können. Dazu gehört etwa der hochqualifizierte Jurist
mit Querschnittslähmung, dessen berufliche Teilhabe durch fehlende Rampen und
zu hohe Regalborde erschwert wird. Kommen hingegen weitere Faktoren hinzu wie
chronische Schmerzen oder Erschöpfung, die zu einer erheblichen Verminderung
der allgemeinen Leistungsfähigkeit führen, kann nicht mehr von einer bloß strukturellen Wettbewerbsverzerrung gesprochen werden. Stattdessen liegt eine reale Einschränkung des Wettbewerbers vor, die seine Leistungsfähigkeit und damit seine
Fähigkeit zur Wettbewerbsteilnahme in zentralen Parametern herabsetzt. Hier kann
aber das auf chancengleiche Behandlung aller Wettbewerber ausgerichtete Antidiskriminierungsrecht nicht mehr wirksam weiterhelfen, so dass es letztlich nur einer
Elite von Menschen mit bestimmten Behinderungen zu Gute kommt1139. Dieser
Umstand muss bei seiner Weiterentwicklung im Sinne des neuen Paradigmas unbedingt beachtet werden.
1138 Oben S. 132.
1139 Dazu ausführlich Inghammar, in: Numhauser-Henning, Legal Perspectives on Equal Treatment, 2001, S. 323, bes. 326 f.
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2. Erhalt der Instrumente des Schwerbehindertenrechts als Flankenschutz für die
berufliche Rehabilitation
Diejenigen Menschen mit Behinderung, die allein wegen der Natur ihrer spezifischen Behinderung nicht als Profiteure eines Rechts auf angemessene Vorkehrungen
in Betracht kommen, sind umso stärker auf Leistungen der beruflichen Rehabilitation angewiesen. In vielen Fällen werden aber auch diese Leistungen nicht ausreichen, um eine Wettbewerbsteilnahme mit Hilfe von angemessenen Vorkehrungen
gewährleisten zu können. Dies ist typischerweise umso eher der Fall, je schwerer die
Behinderung ausgeprägt ist. Das Schwerbehindertenrecht mit seinen diversen
Schutz- und Förderinstrumenten wie Quotenregelung, Integrationsvereinbarungen,
bevorzugten Einladungen zu Vorstellungsgesprächen im öffentlichen Dienst etc. ist
in diesen Fällen ein wichtiges Hilfsmittel, um auch solche Bewerber bei ihrer Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Es ist für eine ausgewogene Behindertenpolitik also weiterhin unverzichtbar.
3. Zielgenaue Ausgestaltung des Rechts auf angemessene Vorkehrungen
Im Sinne eines eher elitär ausgerichteten Gleichstellungsinstruments sollte das Recht
auf angemessene Vorkehrungen als Bestandteil des Antidiskriminierungsrechts für
Menschen mit Behinderung passgenau auf seine Zielgruppe zugeschnitten werden.
Zu vermeiden ist, dass dieses Recht zu einem allgemeinen Auffangbecken für Bewerber und Arbeitnehmer wird, die irgendwie die Erfüllung bestimmter Qualifikationsmerkmale umgehen wollen1140. Weiterhin ist es angezeigt, das Recht auf angemessene Vorkehrungen eng zu verstehen. Einerseits macht ein solches Verständnis
klar, dass es um die Beseitigung struktureller Barrieren geht, die ohne grundlegenden Aufwand zu bewerkstelligen ist. Andererseits vermeidet eine Begrenzung des
Rechts auf angemessene Vorkehrungen einen Verlust der Akzeptanz für die Instrumente des Schwerbehindertenrechts, die – wie gezeigt – weiterhin zentraler Bestandteil einer ausgewogenen Behindertenpolitik bleiben müssen.
B. Vorschläge zur Fortentwicklung des Antidiskriminierungsrechts für Menschen
mit Behinderung in Deutschland
Die zielgenaue Umsetzung des Rechts auf angemessene Vorkehrungen im Sinne der
gerade formulierten Maßstäbe setzt an zwei Punkten an: Erstens muss ein Behinderungsbegriff gefunden werden, mit dessen Hilfe der Adressatenkreis für dieses
Recht genau umrissen werden kann. Zweitens sollte das Recht auf angemessene
Vorkehrungen ausdrücklicher Bestandteil des AGG werden, um das richtige Ver-
1140 Oben S. 59.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.