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Verquickung von Aufgaben und Ausgaben durch die spending power, zusätzlich
begünstigt. In Deutschland hingegen fällt dem Bund auf sozialpolitischem Gebiet
eine maßgebliche Gestaltungskraft zu, auch wenn seit der neuesten Föderalismusreform gewisse – wenn auch nicht durchschlagende – Erschwernisse auf dem Gebiet
der beruflichen Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen zu befürchten sind.
D. Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung als Substitut
Die Untersuchung hat ihren Panoramabogen nun soweit aufgespannt, dass sich eine
erste Bilanz ziehen lässt: Der allgemein schwach ausgebaute soziale Sektor in den
USA mit seinem nur fragmentarischen Angebot an Leistungen zur beruflichen Rehabilitation korreliert mit einem dogmatisch gut aufgearbeiteten und durch einen
recht weitgehenden Anspruch auf angemessene Vorkehrungen auch spezifisch wirksamen Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung. In Deutschland
verhält es sich dagegen umgekehrt – ein weitgehend vereinheitlichtes und leistungsstarkes Recht auf berufliche Rehabilitation korreliert mit einem lückenhaften und
wenig spezifischen Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung ohne
ausdrücklichen Anspruch auf angemessene Vorkehrungen. Stattdessen greift die
Rechtsprechung auf Instrumente des Schwerbehindertenrechts zurück, um das spezielle Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung zu stärken1098. Dabei handelt es sich jedoch um generalisierende Schutz- und Fördervorschriften für
Menschen mit besonders schweren Behinderungen und nicht um einen konkretindividuellen Ausgleich für behinderungsbedingte Nachteile im Einzelfall.
Lässt nun die jeweilige Beziehung zwischen Antidiskriminierungsrecht und beruflichem Rehabilitationsrecht in Deutschland und in den USA tatsächlich darauf
schließen, dass mit Hilfe des Antidiskriminierungsrechts Lücken im Rehabilitationsrecht gestopft werden sollen? Die bisherige Untersuchung hat eine Reihe von Indizien erbracht, die eine positive Beantwortung dieser Frage nahe legen. Im Folgenden
sollen sie thesenartig zusammengefasst werden, ehe die Abschlussfrage nach der
Fortführung des Paradigmenwechsels im deutschen Behindertenrecht im Lichte der
gewonnen Erkenntnisse beantwortet wird. Unterschieden wird dabei zwischen allgemeinen, der Natur des zu regelnden Lebenssachverhalts entstammenden Gründen
für die Annahme einer Substitutswirkung des Antidiskriminierungsrechts und besonderen Gründen, die nur aus den Entwicklungsbedingungen des Sozial- und Antidiskriminierungsrechts in den USA verständlich sind.
1098 Oben S. 123 ff. u. 126 ff.
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I. Allgemeine Gründe für die Substituts-These
Behinderung ist kein Merkmal, welches allein auf irrationaler sozialer Zuschreibung
beruht, sondern geht mit manifesten Nachteilen einher. Diese Nachteile sind auf eine
Mischung aus tatsächlich vorhandenem Defizit und umweltbedingten Barrieren
zurückzuführen, wie es im dreigliedrigen Behinderungsbegriff der ICF treffend zum
Ausdruck kommt1099. Sowohl Antidiskriminierungs- als auch Rehabilitationsrecht
streben nach einem Nachteilsausgleich und einer Erweiterung der Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderung. Im folgenden soll auf einige Aspekte eingegangen werden, welche – bedingt durch die identische Zielsetzung – einen teilweisen Austausch beider Rechtsgebiete ermöglichen.
1. Organisation des gesellschaftlichen Nachteilsausgleichs und die Rolle des Staates
Die Fragen, vor denen eine von Werten wie Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und Anerkennung des Eigenwerts eines jeden Individuums geprägte Leistungsgesellschaft bei der Regelung des Lebenssachverhalts Behinderung steht, gleichen
sich. Grundlegend ist die Auffassung von Behinderung als einem Lebensschicksal,
das die Partizipation zu den üblichen Konditionen erschwert, das aber grundsätzlich
unverschuldet ist. Daher muss die Gesellschaft in irgendeiner Hinsicht einen Ausgleich bereitstellen. Adressat dieser Ausgleichsleistungen kann einerseits direkt der
Staat sein, etwa indem er Leistungen der beruflichen Rehabilitation gewährt. Andererseits kann der Staat durch Antidiskriminierungsrecht auf gesellschaftliche Akteure – etwa die Arbeitgeber – einwirken, indem sie ihr benachteiligendes Verhalten
gegenüber Menschen mit Behinderung unterlassen und im vertretbaren Rahmen
Ausgleichsleistungen erbringen müssen. In einem System, welches die direkten
sozialpolitischen Einflussmöglichkeiten des Staates gering halten möchte, wird
letztere Lösung die bevorzugte sein, während ein System, in dem der Staat traditionell als starke sozialpolitische Instanz auftritt, eher zur ersten Lösung neigen wird.
2. Schnittmenge zwischen Leistungen beruflicher Rehabilitation und behinderungsspezifischem Antidiskriminierungsrecht
Behinderungsspezifischer Diskriminierungsschutz kann sich nicht einfach mit einem
Verbot der Benachteiligung wegen des Merkmals Behinderung begnügen, sondern
muss das Merkmal in seinen individuell unterschiedlichen Aktivitätsbeeinträchtigungen begreifen. Die im Einzelfall manifeste Beeinträchtigung muss ausgeglichen
werden, um den Vergleich zwischen einer Person mit und einer ohne Behinderung
überhaupt auf eine chancengleiche Grundlage zu stellen. Dafür enthält das Antidis-
1099 Oben S. 50 ff.
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kriminierungsrecht einen Anspruch auf angemessene Vorkehrungen. Der Ausgleich,
der durch die angemessene Vorkehrung hergestellt wird, kann aber häufig ebenso
gut mit Hilfe von Leistungen der beruflichen Rehabilitation erfolgen. Der Unterschied liegt im Leistungsverpflichteten: Beim Antidiskriminierungsrecht ist es der
Partner einer gegenwärtigen Rechtsbeziehung, etwa der Arbeitgeber im Rahmen
eines Arbeitsvertrages oder die öffentliche Hand im Rahmen einer Anstaltsnutzung.
Beim Rehabilitationsrecht ist es der jeweils zuständige Rehabilitationsträger, in der
Regel also die öffentliche Hand. Um einem Rollstuhlfahrer etwa den Zugang zum
Arbeitsplatz zu ermöglichen, kann entweder der Arbeitgeber zum Einbau von Rampen und Fahrstühlen oder zur Verlegung des Büros ins Erdgeschoss verpflichtet
werden. Es kann aber auch der zuständige Rehabilitationsträger die Kosten entsprechender Umbaumaßnahmen tragen, die mit Einverständnis des Arbeitgebers durchgeführt werden müssten, oder für eine persönliche Assistenz sorgen, die bei der
Überwindung der Barrieren behilflich ist. Möglich ist auch ein Mischsystem, wie es
etwa in § 81 IV SGB IX in Deutschland zum Ausdruck kommt1100. In dieser Norm
werden Pflichten des Arbeitgebers zur bevorzugten Berücksichtigung und Gewährung von Erleichterungen bei Fortbildungsmaßnahmen statuiert, ohne dass es sich
dabei um einen antidiskriminierungsrechtlich induzierten Ausgleich handelt, sondern um die Einbindung der Arbeitgeber in den Prozess der beruflichen Rehabilitation schwerbehinderter Menschen1101.
II. U.S.-spezifische Gründe für die Substituts-These
Auch wenn es in der Zielsetzung und in der Wirkungsweise Schnittmengen zwischen speziellem Behinderungsdiskriminierungsschutz und Rehabilitationsrecht
gibt, kann doch nur von einer teilweisen Austauschbarkeit beider Ansätze ausgegangen werden. Insbesondere steht der Anspruch auf angemessene Vorkehrungen unter
einem Verhältnismäßigkeitsvorbehalt, indem das Interesse des Anspruchsgegners an
einer nicht unverhältnismäßigen Belastung anspruchsbegrenzend wirkt1102. Folge ist,
dass Antidiskriminierungsrecht nicht den aus Sicht des Menschen mit Behinderung
notwendigen Ausgleich, sondern nur den in der jeweiligen Rechtsbeziehung angemessenen Ausgleich durchsetzen kann1103. Unter diesem Blickwinkel lässt sich das
spezielle Diskriminierungsschutzrecht als unvollkommener Ersatz für ein mangel-
1100 Näher Seidel, SuP 2007, 161, 161 ff.
1101 Eingehend oben S. 138 ff.
1102 Zu den anspruchsbegrenzenden Mechanismen im U.S.-Recht oben S. 110 ff. – Obwohl den
Pflichten der Arbeitgeber nach § 81 IV SGB IX kein antidiskriminierungsrechtlich eingebetteter Anspruch auf angemessene Vorkehrungen gegenüber steht, wirkt auch hier das Übermaßverbot begrenzend, Seidel, SuP 2007, 161, 163 f.
1103 Auch dem Rehabilitationsrecht sind anspruchsbegrenzende Mechanismen nicht fremd. Allerdings geht es hier primär darum sicherzustellen, dass die Rehabilitationsmaßnahme auch tatsächlich dazu beiträgt, dass ihr Empfänger die angestrebte Tätigkeit mit ihrer Hilfe erfüllen
kann, vgl. etwa § 18 II Nr. 1 SchwbAV und – zum U.S.-Recht – oben S. 175 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.