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III. Spezifisches Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung in
deutschen Gesetzen?
Der deutsche Gesetzgeber hat bislang kein spezifisches Antidiskriminierungsgesetz
für Menschen mit Behinderung geschaffen, sondern sich seit 2002 bereichspezifisch
dem Thema Behinderung und Gleichstellung gewidmet. Mit Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) sind Menschen mit Behinderung umfassend in einen allgemeinen Schutz vor Diskriminierung eingebunden. Wieweit der
Paradigmenwechsel in Richtung eines speziellen Diskriminierungsschutzes nach
U.S.-amerikanischem Vorbild durch die bereichsspezifischen Regelungen einerseits
und durch das AGG andererseits vorangebracht worden ist, soll im Folgenden kurz
vorgestellt werden.
1. § 81 II SGB IX a.F.
Den § 611a BGB a.F.74 nachgebildeten Diskriminierungsschutz in § 81 II SGB IX
a.F. hatte der Gesetzgeber zur punktuellen Vorab-Umsetzung der Richtlinie
2000/78/EG in das nunmehr im SGB IX geregelte Schwerbehindertenrecht eingefügt75. Heute ist der dort ehemals enthaltene Diskriminierungsschutz durch denjenigen im AGG abgelöst worden76. Dadurch hat sich die allgemein als Umsetzungsdefizit77 ausgemachte Beschränkung des Diskriminierungsschutzes im § 81 II SGB IX
a.F. auf schwerbehinderte und nach § 2 III SGB IX gleichgestellte Menschen erledigt, weil das AGG Menschen mit Behinderung allgemein vor Diskriminierung
schützt. Allerdings sah § 81 II SGB IX a.F. keine Verknüpfung des Verbots der
Benachteiligung von Menschen mit Behinderung mit individuell erforderlichen
Ausgleichsmaßnahmen vor, so dass diese Norm isoliert betrachtet jedenfalls kein
spezielles Antidiskriminierungsrecht im Sinne des U.S.-amerikanischen Vorbilds
enthielt.
74 Mittlerweile ist diese Norm aufgehoben durch Art. 3 XIV des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006,
BGBl. I, S. 1897, 1909.
75 So die Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/5074 v. 16.1.2004, S. 113; dazu Schneider-Sievers,
in: Kohte/Dörner/Anzinger, FS Wissmann, 2005, S. 588, 589.
76 Art. 3 X des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. I, S. 1897, 1909.
77 BAG Urt. v. 3.4.2007, NZA 2007, 1098, 1099 (Rz. 18 ff.); Lingscheid, Antidiskriminierung,
2004, S. 186 ff.; Mohr, EzA § 81 SGB IX Nr. 6, S. 13, 15; Rolfs/Paschke, BB 2002, 1260,
1261; Schneider-Sievers, in: Kohte/Dörner/Anzinger, FS Wissmann, 2005, S. 588, 590;
Kaffenberger, SuP 2006, 47, 49.
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2. § 81 III und IV SGB IX
§ 81 III SGB IX fordert, dass Arbeitgeber durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass die vorgeschriebene Zahl schwerbehinderter Menschen eine behinderungsgerechte Beschäftigung findet. § 81 IV SGB IX gibt schwerbehinderten Menschen
Ansprüche gegen den Arbeitgeber u.a. auf behinderungsgerechte Einrichtung des
Arbeitsplatzes. Anders als § 81 II SGB IX a.F. sind diese Regelungen nicht eigens
zur Umsetzung der Rahmenrichtlinie erlassen worden, sondern sind schon seit einigen Jahrzehnten Bestandteil des Schwerbehindertenrechts78. Das Bundesarbeitsgericht hat aus den entsprechenden Vorschriften des Schwerbeschädigten- bzw.
Schwerbehindertengesetzes schon frühzeitig den klagbaren Anspruch eines schwerbehinderten Arbeitnehmers auf eine seinen Fähigkeiten und Kenntnissen angepasste
Beschäftigung gefolgert79.
Der Anspruch schwerbehinderter Menschen auf behinderungsgerechte Beschäftigung und entsprechende Förderung aus § 81 III und IV SGB IX weist deutliche
Parallelen mit den in Art. 5 der Rahmenrichtlinie geforderten angemessenen Vorkehrungen des Arbeitgebers für Menschen mit Behinderung auf. Möglicherweise ist
dem deutschen Gesetzgeber eine Umsetzung der Rahmenrichtlinie quasi im Vorwege gelungen. Allerdings sprechen entscheidende Gesichtspunkte dagegen, § 81 III
und IV SGB IX als taugliche Umsetzung zu bewerten.
Zum ersten steht der behinderungsspezifische Beschäftigungsanspruch nur
schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen zu80. Die Rahmenrichtlinie umfasst aber alle Menschen mit einer Behinderung, so dass das bereits bei § 81 II
SGB IX a.F. konstatierte Umsetzungsdefizit auch § 81 III und IV SGB IX beträfe81.
Zum zweiten gewähren § 81 III und IV SGB IX Ansprüche nur innerhalb eines
bestehenden Arbeitsverhältnisses, so dass die dort normierten Pflichten nicht entstehen, wenn es um die Begründung eines Arbeitsverhältnisses geht. Art. 5 S. 2 der
Richtlinie fordert jedoch geeignete und im konkreten Fall erforderliche Maßnahmen
auch, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung zu ermöglichen. § 81 III SGB IX begründet für diesen Fall lediglich eine allgemeine betriebliche Verpflichtung dazu, die zur Erfüllung der Beschäftigungsquote geeigneten Arbeitsplätze bereitzustellen82. Ein konkret-individueller Anspruch eines Bewerbers
auf angemessene Vorkehrungen lässt sich hingegen nicht entnehmen.
Abgesehen von den erwähnten Umsetzungsdefiziten gegenüber der Rahmenrichtlinie ist fraglich, ob mit Hilfe von § 81 III und IV SGB IX überhaupt ein spezielles
Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung entwickelt werden könn-
78 Zu ihrem Ursprung im Schwerbeschädigtengesetz von 1953 Leder, Diskriminierungsverbot,
2006, S. 234 f.
79 Bereits BAG Urt. v. 25.8.1955, BAGE 2, 121 ff.; BAG Urteil v. 4.5.1962, BAGE 13, 109 ff.,
weitere Nachweise Neumann, in: ders./Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 11. Aufl. 2005, § 81
Rn. 25 ff.
80 §§ 68 I i.V.m. 2 III SGB IX.
81 Leder, Diskriminierungsverbot, 2006, S. 248; Lingscheid, Antidiskriminierung, 2004, S. 186.
82 Leder, Diskriminierungsverbot, 2006, S. 249.
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te. Können § 81 III und IV SGB IX ein Anspruch auf angemessene Vorkehrungen
gegenüber dem Arbeitgeber gerade zur Sicherstellung der Gleichbehandlung von
Menschen mit Behinderung begründen? Mehr noch – kann der Anspruch aus § 81
III und IV SGB IX dergestalt mit dem früher in § 81 II SGB IX a.F., jetzt im AGG
geregelten Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung verknüpft werden,
dass eine solche auch bei Versagung der angemessenen Vorkehrungen anzunehmen
ist? In der Literatur zu 81 II SGB IX a.F. wurde zwar ein Zusammenhang zwischen
dem Benachteiligungsverbot und den Pflichten aus § 81 IV SGB IX angenommen,
jedoch keine nähere dogmatische Analyse geliefert83. Das ist erstaunlich, weil gerade hierin das Besondere und Neue am Konzept des Diskriminierungsschutzes zugunsten behinderter Menschen zum Ausdruck kommen würde.
Obwohl § 81 III und IV SGB IX eine sachliche Nähe zu den in Art. 5 S. 2 Rahmenrichtlinie geforderten angemessenen Vorkehrungen aufweisen, sind sie ihrem
Ursprung nach nicht antidiskriminierungsrechtlich zu verstehen. Vielmehr dienen
diese Vorschriften der inhaltlichen Absicherung der Beschäftigungsquote, indem die
Arbeitgeber verpflichtet werden, Arbeitnehmer mit Behinderung leistungsgerecht zu
beschäftigen Ob sie gleichsam als Keimzelle eines speziellen Antidiskriminierungsrechts für Menschen mit Behinderung dienen können, bleibt vorerst offen84.
3. Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)
Mit dem BGG85 wurde ausweislich der Gesetzesbegründung der europäischen Entwicklung der Behindertengleichstellung Rechnung getragen; vor allem aber dient
das BGG der Umsetzung des Gesetzgebungsauftrages aus Art. 3 III 2 GG86. Das
BGG richtet sich hauptsächlich an Träger der öffentlichen Gewalt und dort aus
kompetenziellen Gründen nur an solche, die Bundesrecht ausführen87. Alle Bundesländer haben mittlerweile eigene Behindertengleichstellungsgesetze erlassen88.
Neben der Beseitigung rechtlicher Benachteiligung89 will das BGG die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen und politi-
83 Lingscheid, Antidiskriminierung, 2004, S. 176 unter Verweis auf Neumann in: ders./Pahlen/
Majerski-Pahlen, SGB IX, 11. Aufl. 2005, § 81 Rn. 13. In diese Richtung vgl. ebenfalls VG
Frankfurt Urteil v. 26.6.2006, 9 E 3404/05 (juris), Rz. 25.
84 Näher unten S. 138 ff.
85 Das BGG ist der erste Artikel des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur
Änderung anderer Gesetze v. 27.4.2002, BGBl. I, S. 1467; Stähler, NZA 2002, 777.
86 BT-Drs. 14/7420 v. 12.11.2001, S. 17 f.; Welti, Behinderung, 2005, S. 423.
87 Vgl. § 7 I BGG.
88 BayBGG, GVBl. 2003, 419; L-BGG B-W, GBl. 2005, 327; BerlLGBG, GVBl. 1999, 178;
BbgBGG, GVBl. I 2003, 42; BremBGG, GBl. 2003, 413; HmbGGbM, GVBl. 2005, 75;
HessBGG, GVBl. I 2004, 482; LBGG M-V, GVOBl. M-V 2006, 539; BGG NRW, GV.
NRW 2003, 766; NBGG, Nds. GVBl. 2007, 661; LGGBehM R-P, GVBl. 2002, 481; SBGG,
Amtsblatt 2003, 2987; SächsIntegrG, GVBl. 2004, 196; BGStG LSA, GVBl. 2001, 457;
LBGG S-H, GVOBl. 2002, 264; ThürGIG, GVBl. 2005, 383.
89 Vgl. § 7 II BGG.
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schen Leben vor allem durch weitgehende Gewährleistung von Barrierefreiheit
stärken90. Barrierefreiheit bedeutet, dass gestaltete Lebensbereiche – etwa baulicher,
kommunikativer oder verkehrstechnischer Art wie Gebäude, Verwaltungsbescheide
oder Eisenbahnen – so einzurichten sind, dass sie für behinderte Menschen in der
allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne
fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind91. Im Klartext meint Barrierefreiheit also,
dass Gebäude Rampen oder Fahrstühle haben müssen, um Rollstuhlfahrern den
Zugang zu ermöglichen; dass Verwaltungsbescheide für Blinde in Brailleschrift
verfasst sein müssen und dass Eisenbahnwagons ausreichend breite Gänge für Rollatoren und Rollstühle sowie rollstuhlgerechte Toiletten haben müssen. Auf die barrierefreie Gestaltung der vom BGG erfassten Lebensbereiche besteht ein einklagbares
Recht sowohl der betroffenen Individuen als auch der anerkannten Verbände92. Im
Bereich der Privatwirtschaft setzt sich das BGG für die Herstellung von Barrierefreiheit mit Hilfe von Zielvereinbarungen zwischen anerkannten Behindertenverbänden und Unternehmen oder Unternehmensverbänden ein; auf die Aufnahme
entsprechender Verhandlungen besteht ein Anspruch93.
Das BGG kommt mit seinem Leitbild der Barrierefreiheit einem speziellen Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung nahe. Allerdings ist auch in
diesem Gesetz keine ausdrückliche Verknüpfung zwischen dem Verbot einer benachteiligenden Ungleichbehandlung und dem Anspruch auf Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit enthalten94. Im Übrigen ist der Anspruch auf Barrierefreiheit im BGG bereichsspezifisch und nicht umfassend gewährt. Vor allem für
gehörlose, blinde und sehbehinderte Menschen sieht das BGG Ansprüche auf barrierefreie Kommunikation etwa mittels Gebärdensprache und Brailleschrift vor95. Die
Bereiche Bau und Verkehr sowie behördliche Internetauftritte sollen schrittweise im
Sinne eines universal design allgemein zugänglich gemacht werden96.
90 § 1 i.V.m. § 4 BGG.
91 § 4 BGG enthält eine allgemeine Definition von Barrierefreiheit, §§ 8-11 BGG regeln konkrete Teilbereiche.
92 §§ 12, 13 BGG.
93 § 5 BGG.
94 Die Definition der Benachteiligung in § 7 II 2 BGG ist ein wenig „wolkig“: „Eine Benachteiligung liegt vor, wenn behinderte und nichtbehinderte Menschen ohne zwingenden Grund unterschiedlich behandelt werden und dadurch behinderte Menschen in der gleichberechtigten
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft mittelbar oder unmittelbar beeinträchtigt werden.“
Aus dem Passus „gleichberechtigte Teilhabe“ könnte man schließen, dass das Benachteiligungsverbot ein gewisses leistungsrechtliches Moment im Sinne eines Anspruchs auf Schaffung behindertengerechter Einrichtungen beinhaltet. Allerdings ist im folgenden genau spezifiziert, wann und inwiefern ein Anspruch auf Barrierefreiheit besteht. Weitergehende Leistungsrechte können aus systematischen Gründen daher nicht aus § 7 II BGG gefolgert werden.
95 §§ 9 und 10 BGG.
96 §§ 8 und 11 BGG, dazu etwa Roggenkamp, NVwZ 2006, 1240, bes. 1241; Stähler, NZA
2004, 777, 778.
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Auch wenn das BGG zumindest im engeren Sinne keinen speziellen Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen enthält, entspricht es dem Paradigmenwechsel doch insofern, als dass es auf eine behinderungsneutrale Gestaltung der
Umwelt hinwirkt und dies mit Hilfe von individuellen Rechten absichert. Allerdings
bindet das BGG nur die öffentliche Hand, nicht hingegen Private. Ferner verwirklicht es den Anspruch auf Barrierefreiheit bereichsspezifisch nur für bestimmte Körperbehinderungen.
4. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
Das zur Umsetzung u.a. der Richtlinie 2000/78/EG in einem langwierigen politischen Prozess ergangene AGG soll einen umfassenden Diskriminierungsschutz im
Arbeitsrecht sowie im übrigen Zivilrechtsverkehr sicherstellen97. Für Menschen mit
Behinderung löst das AGG den speziell auf Schwerbehinderte ausgerichteten Benachteiligungsschutz gegenüber Arbeitgebern in § 81 II SGB IX a.F. ab.
Den Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderung regelt das AGG wie
folgt: Benachteiligungen wegen einer Behinderung sind zu verhindern oder zu beseitigen98. Darunter fallen unmittelbare und mittelbare Benachteiligungen sowie Belästigungen99. Grundsätzlich verboten ist die Benachteiligung Beschäftigter wegen
einer Behinderung100. Eine unterschiedliche Behandlung wegen einer Behinderung
ist jedoch ausnahmsweise zulässig, wenn eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung der auszuübenden Tätigkeit sonst nicht erfüllt werden kann, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist101. Diese Vorschriften setzen Art. 1, 2 und 4 I der Richtlinie 2000/78/EG in weiten Teilen formulierungsgleich um. Darüber hinaus enthält das AGG auch noch ein allgemeines
Benachteiligungsverbot im Zivilrechtsverkehr102.
Art. 5 Rahmenrichtlinie wurde hingegen im AGG nicht ausdrücklich umgesetzt.
Die einzige, allgemein gehaltene Regelung zu positiven Maßnahmen enthält der
entsprechend überschriebene § 5 AGG, der eine unterschiedliche Behandlung für
zulässig erachtet, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende
Nachteile wegen eines in § 1 genannten Grundes – also auch wegen einer Behinderung – verhindert oder ausgeglichen werden sollen. Diese Norm begründet aber
keine Ansprüche behinderter Menschen auf angemessene Vorkehrungen durch den
Arbeitgeber, sondern stellt lediglich einen Rechtfertigungsgrund für eine Ungleich-
97 Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung v. 14.8.2006, BGBl. I, S. 1897. Zur Gesetzgebungsgeschichte
Ricardi, NZA 2006, 881, 881 f.; Däubler, in: ders./Bertzbach, AGG, 2007, Einl. Rn. 8 ff.
98 § 1 AGG.
99 § 3 AGG.
100 § 7 AGG.
101 § 8 AGG.
102 § 19 AGG.
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behandlung im Sinne einer positiven Diskriminierung dar und setzt somit Art. 7 der
Richtlinie 2000/78 EG um103.
Das AGG gliedert Menschen mit Behinderung zwar umfassend in den Diskriminierungsschutz ein, enthält aber keine Sonderregelungen. Ein eigenständiges Antidiskriminierungskonzept gerade mit Blick auf die speziellen Nachteile von Menschen mit Behinderung verfolgt das AGG also nicht.
5. Zusammenfassung
Der deutsche Gesetzgeber hat sich des Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik insofern angenommen, als dass auf Bundes- und Landesebene spezielle Gleichstellungsgesetze zur Förderung einer barrierefrei gestalteten Umwelt ergangen sind,
die sich jedoch primär an die öffentliche Hand wenden. Den Vorgaben der Rahmenrichtlinie entsprechend hat außerdem das Merkmal Behinderung in das AGG Eingang gefunden. Allerdings hat der Gesetzgeber bislang kein spezielles Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung erlassen, in dem Benachteiligungsverbot und ein Anspruch auf kompensatorische Ausgleichsmaßnahmen gleichsam zu
einem umfassenden Recht auf faktische und nicht bloß formale Gleichbehandlung
verdichtet werden. Einen Anspruch auf Ausgleichsmaßnahmen in Form behinderungsgerechter Arbeitsplatzgestaltung und Förderung haben ausschließlich schwerbehinderte Arbeitnehmer gegen ihren Arbeitgeber gemäß § 81 IV SGB IX; allerdings ist dieser Anspruch nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – mit dem Benachteiligungsverbot im AGG verknüpft.
Eine der Hauptforderungen der Befürworter eines Paradigmenwechsels der Behindertenpolitik, nämlich nach dem Erlass eines speziellen Antidiskriminierungsrechts nach U.S.-amerikanischem Vorbild, hat der deutsche Gesetzgeber bislang
somit nicht erfüllt.
C. Gegenstand und Gang der Untersuchung
Wie gesehen besteht noch Spielraum nach oben was den Paradigmenwechsel in der
deutschen Behindertenpolitik angeht. Das traditionell leistungsbasiert-sozialrechtlich
orientierte Deutschland befindet sich derzeit in einem Wandel, wobei das gleichheitsbasiert-bürgerrechtliche Vorbild USA aber nur teilweise – fast möchte man
sagen widerstrebend – rezipiert wird. Weite Teile der deutschen Behindertenpolitik
sind nach wie vor auf Rehabilitation des einzelnen Menschen mit Behinderung und
auf staatliche Arbeitsmarktlenkung mit Hilfe der Schwerbehindertenquote ausgerichtet. Ein konsequenter Paradigmenwechsel müsste aber eine zumindest teilweise
103 Raasch, in: Rust/Falke, AGG, 2007, § 5 Rn. 1, vgl. auch Schiek, in: dies., AGG, 2007, § 5
Rn. 10 (Ausnahme vom Benachteiligungsverbot).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.