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behandlung im Sinne einer positiven Diskriminierung dar und setzt somit Art. 7 der
Richtlinie 2000/78 EG um103.
Das AGG gliedert Menschen mit Behinderung zwar umfassend in den Diskriminierungsschutz ein, enthält aber keine Sonderregelungen. Ein eigenständiges Antidiskriminierungskonzept gerade mit Blick auf die speziellen Nachteile von Menschen mit Behinderung verfolgt das AGG also nicht.
5. Zusammenfassung
Der deutsche Gesetzgeber hat sich des Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik insofern angenommen, als dass auf Bundes- und Landesebene spezielle Gleichstellungsgesetze zur Förderung einer barrierefrei gestalteten Umwelt ergangen sind,
die sich jedoch primär an die öffentliche Hand wenden. Den Vorgaben der Rahmenrichtlinie entsprechend hat außerdem das Merkmal Behinderung in das AGG Eingang gefunden. Allerdings hat der Gesetzgeber bislang kein spezielles Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung erlassen, in dem Benachteiligungsverbot und ein Anspruch auf kompensatorische Ausgleichsmaßnahmen gleichsam zu
einem umfassenden Recht auf faktische und nicht bloß formale Gleichbehandlung
verdichtet werden. Einen Anspruch auf Ausgleichsmaßnahmen in Form behinderungsgerechter Arbeitsplatzgestaltung und Förderung haben ausschließlich schwerbehinderte Arbeitnehmer gegen ihren Arbeitgeber gemäß § 81 IV SGB IX; allerdings ist dieser Anspruch nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – mit dem Benachteiligungsverbot im AGG verknüpft.
Eine der Hauptforderungen der Befürworter eines Paradigmenwechsels der Behindertenpolitik, nämlich nach dem Erlass eines speziellen Antidiskriminierungsrechts nach U.S.-amerikanischem Vorbild, hat der deutsche Gesetzgeber bislang
somit nicht erfüllt.
C. Gegenstand und Gang der Untersuchung
Wie gesehen besteht noch Spielraum nach oben was den Paradigmenwechsel in der
deutschen Behindertenpolitik angeht. Das traditionell leistungsbasiert-sozialrechtlich
orientierte Deutschland befindet sich derzeit in einem Wandel, wobei das gleichheitsbasiert-bürgerrechtliche Vorbild USA aber nur teilweise – fast möchte man
sagen widerstrebend – rezipiert wird. Weite Teile der deutschen Behindertenpolitik
sind nach wie vor auf Rehabilitation des einzelnen Menschen mit Behinderung und
auf staatliche Arbeitsmarktlenkung mit Hilfe der Schwerbehindertenquote ausgerichtet. Ein konsequenter Paradigmenwechsel müsste aber eine zumindest teilweise
103 Raasch, in: Rust/Falke, AGG, 2007, § 5 Rn. 1, vgl. auch Schiek, in: dies., AGG, 2007, § 5
Rn. 10 (Ausnahme vom Benachteiligungsverbot).
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Abkehr von diesen traditionellen sozial- und rehabilitationsrechtlichen Instrumenten
beinhalten und sich stärker der Integration von Menschen mit Behinderung mit Hilfe
eines speziellen Antidiskriminierungsrechts widmen104.
Befürworter eines solchen Wechsels nehmen gewichtige Gründe für sich in Anspruch: Antidiskriminierungsrecht sende das Signal, dass Menschen mit Behinderung an Gesellschaft und Arbeitsleben partizipieren könnten, wenn Stereotypen und
Barrieren beseitigt würden105. Die vor allem im Erziehungswesen, aber auch im
Arbeitsleben manifeste Segregation von Menschen mit Behinderung von der nichtbehinderten Gesellschaft sei eine historische Ungerechtigkeit, die – wie zuvor die
Rassensegregation in den USA – mit Hilfe von Antidiskriminierungsrecht wirksam
bekämpft werden könne106. Antidiskriminierungsrecht aktiviere die von Benachteiligung Betroffenen und wirke als gleichheitsbasiert-bürgerrechtlicher Ansatz auf den
gesamten Rechtsverkehr107. Zudem beuge es einer paternalistischen Rolle des Staates als Gewährer von sozialen Leistungen vor, dem die Betroffenen gleichsam als
Bittsteller gegenübertreten müssten108.
Die Frage nach einer Fortführung des Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik mit Hilfe eines speziellen Antidiskriminierungsrechts für Menschen mit Behinderung nach U.S.-amerikanischem Vorbild auch in Deutschland kann aber nicht
isoliert beantwortet werden. Denn ohne eine gründliche Analyse des geschichtlich
älteren sozialrechtlichen Rahmens, auf den sich die Forderung nach einem Paradigmenwechsel konsequenterweise beziehen muss, ist nicht zu beurteilen, welchen
Defiziten die vielbeschworene Neuorientierung der Behindertenpolitik abhelfen soll.
Dabei ist es sinnvoll, diese Analyse rechtsvergleichend mit den USA vorzunehmen.
Müssen nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika immer wieder als Vorbild für
eine antidiskriminierungsrechtliche Neuausrichtung der Behindertenpolitik herhalten, ist es angezeigt, dieses Vorbild auch in seinem sozialrechtlichen Umfeld besser
verstehen zu lernen. Nur ein derart umfassendes Verständnis kann zu einer differenzierten anstelle der bislang praktizierten pauschal positiven Bewertung des transatlantischen Vorbilds führen.
Der U.S.-amerikanische Americans with Disabilities Act (ADA) ist von der arbeitsrechtlichen Literatur – monographisch vor allem von Leder109 – für den deut-
104 Vgl. Thüsing, NZA 2001, 1061, 1063: „...Perspektivenwechsel von der Quote hin zum Diskriminierungsschutz...“; ferner Pitschas, in: ders./v. Maydell/Schulte, Teilhabe behinderter
Menschen, 2002, S. 3: „Entgegen den politischen Ankündigungen ist jedoch kein Paradigmawechsel in der Behindertenpolitik gelungen. Das SGB IX bleibt im wesentlichen rehabilitationsorientiert...“.
105 Waddington/Diller, in: Breslin/Yee: Disability Rights Law and Policy, 2002, unter I.A.2.
106 Vgl. Degener, KJ 2000, 425, 429 ff.; Waddington/Diller, in: Breslin/Yee: Disability Rights
Law and Policy, 2002, unter I.A.2.
107 Vgl. Jürgens, ZRP 1993, 129.
108 Vgl. Degener, KJ 2000, 425, 427: Deutung des Benachteiligungsverbots als Ausprägung des
Sozialstaatsprinzips drängt Behinderte in die Rolle von Fürsorgeobjekten.
109 Leder, Das Diskriminierungsverbot wegen einer Behinderung, Berlin 2006.
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schen Leser bereits erschlossen worden110. Was allerdings bislang fehlt, ist eine
Analyse der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen, die für den Erlass des ADA
maßgeblich waren. Ebenso gibt es keine umfassende Untersuchung, die den etwas
zaghaften antidiskriminierungsrechtlichen Ansatz in Deutschland aus Sicht der sozialrechtlichen Gegebenheiten deutet. Meine Arbeit soll zur Füllung dieser Lücke
beitragen.
Das Thema wird anhand von vier Fragestellungen bearbeitet:
• Was ist Behinderung? Gegenstand der Erörterung sind die rechtlichen Definitionsmöglichkeiten und -grenzen, die besondere Problematik des Lebenssachverhalts Behinderung begrifflich abzubilden. Dabei wird vor allem auf die unterschiedlichen Anforderungen an den Behinderungsbegriff im sozialrechtlichen
Kontext einerseits und im antidiskriminierungsrechtlichen Kontext andererseits
eingegangen. Der Behinderungsbegriff im deutschen Recht soll – auch angesichts des Vorbilds USA – auf seine Tauglichkeit für ein spezielles Antidiskriminierungsrecht überprüft werden.
• Wie funktioniert Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung? Die Auswirkungen herkömmlichen Antidiskriminierungsrechts auf Menschen mit Behinderung und die notwendigen Modifikationen werden aufgezeigt.
Im Vergleich mit den USA wird deutlich, welche Probleme die antidiskriminierungsrechtliche Rechtsentwicklung in Deutschland aufweist. Auch soll die deutsche Rechtslage genauer darauf untersucht werden, ob und wie sie die Anforderungen der Rahmenrichtlinie umsetzt.
• Aus welchen sozialrechtlichen und sozialpolitischen Gegebenheiten heraus
hat sich das Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung
entwickelt? Drei Rahmenbedingungen werden rechtsvergleichend gegenübergestellt: Erstens das geltende Rehabilitationsrecht, zweitens die jeweilige Sozialstaatstradition und drittens die Möglichkeiten der gesetzgeberischen Fortbildung des Sozialrechts im gesamtstaatlichen Gefüge. Abschließend wird die Rolle des speziellen Antidiskriminierungsrechts für Menschen mit Behinderung im
sozialrechtlichen Kontext am Beispiel USA bewertet.
• Wie soll der Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik im deutschen
Recht weiter verfolgt werden? Anhand der Untersuchungsergebnisse wird eine Antwort auf diese Frage versucht. Konkrete Vorschläge zur Ergänzung des
Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes schließen die Untersuchung ab.
110 Ferner Günzel/Heilmann, RdA 2000, 341 ff. – Rechtsprechungsübersicht zum ADA seit 1997
in loser Folge bei Thüsing, NZA 1999, 693, 697; 2001, 939, 942 f.; ders./Leder, NZA 2004,
1310, 1312 f.; 2006, 1314, 1317.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.