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allem zusammenhängt, so dass eine ausgewogene Behindertenpolitik die unterschiedlichen Reaktionskonzepte in irgendeiner Form miteinander kombinieren muss.
Das relationale Behinderungsverständnis unterstützt also den Paradigmenwechsel,
weil es die Notwendigkeit einer an den Kontextfaktoren ansetzenden gleichheitsbasiert-bürgerrechtlichen Behindertenpolitik deutlich macht. Gleichzeitig nimmt es der
Forderung nach einem „absoluten“ Paradigmenwechsel den Wind aus den Segeln,
weil deutlich wird, dass ohne den leistungsbasiert-sozialrechtlichen Ansatz auch
nicht auszukommen ist. Insofern kann ein kombiniertes Begriffsverständnis nach Art
der ICF auf politischer Ebene für Ausgewogenheit sorgen.
B. Rechtliches Begriffsverständnis
Was auf der politischen Ebene funktioniert, lässt sich jedoch nicht eins zu eins auf
den rechtlichen Bereich übertragen. Die Vielfalt der möglichen Reaktionsinstrumente, die der modernen Behindertenpolitik zur Verfügung stehen, stellt den rechtlichen
Behinderungsbegriff nämlich vor besondere Herausforderungen. Einerseits besteht
der Anspruch an das Recht, das Gesamtgeschehen Behinderung adäquat abzubilden.
Andererseits muss ein rechtlicher Behinderungsbegriff aber die Grundlage für bereichsspezifische normative Arbeit sein. Insbesondere erfordert die eindeutige Zuordnung von Rechtsfolgen eine klare Entscheidung darüber, wer als behindert anzusehen ist und wer nicht.
Zunächst soll die allgemeine Problematik einer Übernahme des relationalen Behinderungsmodells in die normative Begrifflichkeit verdeutlicht werden, um die
generellen Anforderungen an einen rechtlichen Behinderungsbegriff präzisieren zu
können. Dann werden verschiedene Behinderungsbegriffe sowohl der U.S.amerikanischen als auch der deutschen Rechtsordnung vorgestellt. Von besonderem
Interesse ist, welche unterschiedlichen Anforderungen der Behinderungsbegriff je
nach Rechtsbereich erfüllen muss. Schließlich wird das deutsche Begriffsverständnis
auf seine Tauglichkeit für den Paradigmenwechsel hin überprüft.
I. Probleme des relationalen Behinderungsbegriffs als Rechtsbegriff
Das relationale Modell ist nur bedingt tauglich, um als Grundlage für einen normativ
handhabbaren Behinderungsbegriff zu dienen. Am besten lässt sich dies anhand der
unterschiedlichen Normwirkung erklären. Während bei einer objektiv-rechtlichen
Normwirkung ein relationales Verständnis noch möglich scheint, bereitet die Zuordnung von subjektiven Rechten bei diesem Verständnis Schwierigkeiten. Vor allem
der fehlende Kausalzusammenhang zwischen den einzelnen Elementen erweist sich
als problematisch. Auch die Dreigliedrigkeit, die zwar nicht spezifisches Merkmal
des relationalen Modells ist, aber mittlerweile als wichtiges Charakteristikum des
modernen Behinderungsbegriffs gilt, lässt sich nicht ohne Mühen abbilden.
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1. Relationales Behinderungsmodell und objektiv-rechtliche Normwirkung
Die objektiv-rechtliche Normwirkung ist aus dem deutschen Verfassungsrecht geläufig. Zu Art. 3 III 2 GG wurde bereits ausgeführt, dass die in diesem Grundrecht
zum Ausdruck kommende objektive Wertentscheidung sowohl die Auslegung und
Anwendung des einfachen Rechts beeinflusst als auch an den Gesetzgeber appelliert, der faktischen Benachteiligung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft entgegenzuwirken137. Diese Art der Normwirkung kann durch eine Rezeption
des relationalen Behinderungsbegriffs sinnvoll verstärkt werden. Denn je präziser
das komplexe Lebensgeschehen Behinderung begrifflich abgebildet wird, umso eher
kann ein umfassendes und differenziertes Verständnis bei den Adressaten dieser
Normwirkung – vor allem beim Gesetzgeber – entstehen. Der relationale Behinderungsbegriff macht deutlich, dass das Recht an allen drei Faktoren der Behinderung
– Schädigung, Aktivitätsbeeinträchtigung und Partizipationsbeeinträchtigung – ansetzen muss, um die Behinderung günstig beeinflussen zu können. Er ist somit einer
ausgewogenen Behindertenpolitik dienlich.
2. Relationales Behinderungsmodell und subjektive Rechte
Soll der Behinderungsbegriff jedoch damit bezeichneten Rechtsträgern subjektive
Rechte verleihen, muss er eine konkrete Zuordnungsfunktion erfüllen. Diese Anforderung stellt das relationale Modell vor entscheidende Schwierigkeiten.
Erstens steht die Betonung der dynamischen Wechselbeziehung der einzelnen
Komponenten Schädigung, Aktivitätsbeeinträchtigung und Partizipationsbeeinträchtigung im Sinne eines nicht-kausalen Zusammenwirkens der eindeutigen Zuordnung
von Rechten zu Rechtsträgern im Wege. Als problematisch erweist sich, dass die
unterschiedlichen Faktoren des relationalen Begriffs einander in alle Richtungen
bedingen können. Ausmaß und sogar Vorliegen einer Behinderung überhaupt können durch fehlende Schädigung, fehlende Aktivitätsbeeinträchtigung oder fehlende
Partizipationsbeeinträchtigung beeinflusst werden. Bestünden in einer ideal gestalteten, vollständig barrierefreien Umwelt keinerlei Partizipationseinschränkungen
mehr, so würde dies auf die Komponenten Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung zurückschlagen. Die beeinträchtigte Aktivität hätte keine entscheidende Bedeutung mehr für die Lebensführung und in einigen Fällen würde sogar die medizinische Schädigung als solche nicht mehr wahrgenommen werden, sondern nur noch
ein individuelles Merkmal wie etwa die Geschlechts- oder Religionszugehörigkeit
darstellen. Allein die vollständige Partizipation kann also nach dem relationalen
Modell theoretisch eine Behinderung entfallen lassen. In einem gebärdensprachlichen Umfeld – um das Beispiel noch einmal aufzunehmen – würde Gehörlosigkeit
keine Behinderung, sondern lediglich ein individuelles Unterscheidungsmerkmal
137 Oben S. 31.
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sein. Damit wohnt dem relationalen Behinderungsmodell aber eine Selbstauflösungstendenz inne, die einer begrifflich eindeutigen Bestimmung von Rechtsträgern
entgegenwirkt138.
Zweitens kann die Dreigliedrigkeit bei einem relationalen Verständnis zu einem
Zirkelschluss führen. Denn wenn die Partizipationsbeeinträchtigung bereits begriffsbestimmend ist, also als Merkmal vorliegen muss, um eine Behinderung anzunehmen, dann besteht die Gefahr, aus einer Partizipationseinschränkung auf das Vorliegen einer Behinderung zu schließen, ganz nach dem Motto „behindert ist, wer behindert wird“. Der Kreis der Normadressaten könnte so nicht mehr eindeutig
festgelegt werden. Vor allem G. Jürgens hat prägnant aufgezeigt, dass eine rechtliche Bestimmung, die von der Umwelt ausgehende Beeinträchtigungen zu Lasten
von Menschen mit Behinderung vermeiden möchte, vor allem von der Funktionsbeeinträchtigung, die in etwa der Aktivitätsbeeinträchtigung in der ICF-Terminologie
entspricht, als Anknüpfungspunkt für die Rechtsfolge ausgehen muss. Sobald die
verbotene Benachteiligung Bestandteil der Rechtsfolge ist, kann sie nämlich nicht
gleichzeitig im Tatbestand der Norm vorausgesetzt sein139. Mit anderen Worten:
Eine Rechtsnorm, die anordnet, dass Benachteiligte einen Nachteilsausgleich erhalten müssen, ist wenig sinnvoll.
3. Allgemeine Anforderungen an einen rechtlichen Behinderungsbegriff
Zwar hat eine Rezeption des dreigliedrigen, relationalen Behinderungsmodells der
ICF zumindest in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur zum Teil nachdrückliche Fürsprecher gefunden140. Auch der neue einheitliche Behinderungsbegriff
im einfachen deutschen Gesetzesrecht lehnt sich – wie sogleich zu zeigen wird – an
dieses Verständnis an. Dennoch machen die genannten Einwände es unmöglich, den
relationalen Behinderungsbegriff als Rechtsbegriff beim Wort zu nehmen, wenn es
um die Zuordnung subjektiver Rechte zu Rechtsträgern geht. Eine zufriedenstellende Zuordnung kann nur gelingen, wenn Schädigung oder Aktivitätsbeeinträchtigung
als kausaler Anknüpfpunkt für die Anordnung bestimmter Rechtsfolgen gewählt
werden. Die Partizipationsbeeinträchtigung lässt sich am besten auf Rechtsfolgenseite abbilden, indem die angeordnete Rechtsfolge ihr gerade entgegenwirkt.
138 So auch Buch, Grundrecht der Behinderten, 2001, S. 59; Neumann, NVwZ 2003, 897, 899.
Anderer Auffassung ist hingegen Reichenbach, SGb 2002, 485, 487, der zumindest auf
grundrechtlicher Ebene auch für die subjektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen ein gewisses Element der Relationalität nicht für schädlich hält; vgl. ferner Welti, Behinderung, 2005,
S. 82 f.
139 Jürgens, NVwZ 1995, 452; ders., ZfSH/SGB 1995, 353, 358 f.
140 Degener, KJ 2000, 425 ff.; Masuch, in: v. Wulffen/Krasney, FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 199, 207 ff.; Welti, Behinderung, 2005, S. 112 f.; mit Abstrichen auch Buch,
S. 60.
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II. Definitionen von Behinderung im U.S.-amerikanischen Bundesrecht
Am Bundesrecht der Vereinigten Staaten von Amerika lassen sich sowohl die Anforderungen an einen rechtlich operablen Behinderungsbegriff als auch die Gefahren
abbilden, die entstehen, wenn der Behinderungsbegriff selber Elemente der Partizipationsbeeinträchtigung enthält. Es wird zu zeigen sein, dass die Mechanismen, mit
deren Hilfe der Kreis der Rechtsträger eingegrenzt wird, im Antidiskriminierungsrecht andere sind als im sozialen Leistungsrecht.
1. Behinderungsbegriff im Antidiskriminierungsrecht
Das U.S.-amerikanische Behinderungsverständnis im Antidiskriminierungsrecht ist
zweigliedrig und basiert allein auf den Komponenten Schädigung und Aktivitätsbeeinträchtigung. Grundlegend ist folgende Begrifflichkeit: „The term ‘disability’
means a physical or mental impairment that substantially limits one or more major
life activities“. Diese Definition entstammt dem Rehabilitation Act of 1973, wo sie
für die gleichstellungsrechtlichen Vorschriften gilt141, und wurde im Jahr 1990 vom
Americans with Disabilities Act (ADA) beinahe wortgleich übernommen142.
Der gesetzliche Behinderungsbegriff im U.S.-Bundesrecht erfüllt damit die in
subjektiv-rechtlicher Hinsicht entscheidende Zuordnungsfunktion auf sprachlich
prägnante und knappe Weise. Die Schädigung (impairment) muss Ursache der Aktivitätsbeeinträchtigung (limits one or more ... life activities) sein. Eine Eingrenzung
findet allein bei der Aktivitätsbeeinträchtigung statt, die major, also bedeutend,
wesentlich oder sehr wichtig, sein muss. Dieser zweigliedrige Begriff ist im Grundsatz geeignet, das Element der Partizipationsbeeinträchtigung auf Tatbestandsseite
auszublenden. Allerdings ist dafür Voraussetzung, dass die bedeutende Lebensaktivität (major life activity) nach Möglichkeit frei von Kontextfaktoren verstanden
wird. Denn wenn Kontextfaktoren, insbesondere Einflüsse der sozialen Umwelt, in
den Behinderungsbegriff Eingang finden, droht der beschriebene Zirkelschluss.
Allerdings ist die Ausblendung von Kontextfaktoren nicht ganz einfach, wie
sogleich zu sehen sein wird.
141 29 U.S.C. § 705(9)(B).
142 Lediglich die personale Anknüpfung wird näher spezifiziert: „The term ‘disability’ means,
with respect to an individual, a physical or mental impairment that substantially limits one or
more major life activities of such individual“, 42 U.S.C. § 12102(2)(A).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.