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aber in einer anderen Lebensphase ansetzen, nämlich präventiv vor der Anerkennung der Erwerbsunfähigkeit.
4. Zusammenfassung
In den USA stehen also hauptsächlich drei Träger für Leistungen der beruflichen
Rehabilitation bereit: Die Vocational Rehabilitation Services im Rahmen des grant-
Programms auf Basis des Rehabilitation Act, die gliedstaatlich organisierte Unfallversicherung sowie neuerdings die Social Security Administration. Diese Vielfalt
muss nicht per se gegen ein starkes und weitgehend einheitliches Recht auf Rehabilitation sprechen, was anhand des deutschen gegliederten Sozialsystems mit seinen
unterschiedlichen Leistungsträgern deutlich geworden ist. Allerdings sind in den
USA allen drei Wegen in die berufliche Rehabilitation gravierende Leistungsbeschränkungen bzw. systemische Leistungshindernisse eigen. Die Vocational Rehabilitation Services sind als closed-ended entitlement program notorisch unterfinanziert, für die Unfallversicherung ist berufliche Rehabilitation eine artfremde Leistung, die zudem nur bis zum Erreichen einer bestimmten Kostengrenze erbracht
wird, und die Social Security Administration ist angehalten, Rehabilitationsleistungen kostenneutral zu erbringen. Zudem wird die berufliche Rehabilitation nicht zur
Vermeidung von Rentenzahlungen dem Bezug von Rentenleistungen vorgeschaltet,
sondern nachrangig erbracht.
IV. Schlussbetrachtung: starkes Recht auf Rehabilitation in Deutschland gegen
uneinheitliche und vereinzelte Rehabilitationsleistungen in den USA
Das amerikanische Sozialrecht erkennt zwar Leistungen der beruflichen Rehabilitation als notwendiges und wichtiges Instrument zur Integration von Menschen mit
Behinderungen in die Arbeitswelt an, vermag es aber nicht, diese Leistungen
bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Anders als das deutsche System mit seinen
weitreichenden und erfolgreichen Vereinheitlichungsbemühungen in den letzten
Jahren sind die USA von einem einfachgesetzlich gewährleisteten „Recht auf Rehabilitation“ weit entfernt. Trotz einiger Vernetzungsbemühungen in den letzten Jahren wie etwa dem Workforce Investment Act aus dem Jahr 1998805 und dem Ticket to
Work and Work Incentives Improvement Act aus dem Jahr 1999, die den Zugang zu
Leistungen der beruflichen Rehabilitation für die Betroffenen vereinfachen sollen,
bleiben doch zu große Lücken und Widersprüchlichkeiten.
805 Public Law 105-220 v. 7.8.1998 – Dieses Gesetz dient der Schaffung eines Netzwerks aller
mit der Vermittlung von Arbeitsplätzen und der beruflichen Qualifizierung betrauten Stellen
durch sog. One-Stop Career Centers auf lokaler Ebene.
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Es bietet sich also das Bild eines gut aufgestellten beruflichen Rehabilitationssystems in Deutschland und eines nur fragmentiert Leistungen gewährenden Systems in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das für die zuverlässige sozialpolitische Verankerung der beruflichen Rehabilitation unabdingbare Paradigma „Rehabilitation vor Rente“ ist im U.S.-amerikanischen Sozialrecht nicht vorhanden.
B. Sozialstaatliche Prägung
Der unterschiedliche Befund zum Recht auf berufliche Rehabilitation im deutschen
im Gegensatz zum U.S.-amerikanischen Recht hängt natürlich mit zahlreichen Faktoren historischer, kultureller sowie politischer Art zusammen. Da es sich bei den
Leistungen zur beruflichen Rehabilitation ganz überwiegend um klassische Sozialleistungen handelt, ist ein Blick auf die Einbettung jeglicher Sozialleistungen in das
jeweilige Politik- und Rechtssystem naheliegend, um ein gründlicheres Verständnis
für diesen Befund zu erreichen. Zu diesem Zweck werden zunächst die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Deutschland und in den USA kontrastiert und dann ausgewählte Aspekte der heutigen Verankerung von Sozialstaatlichkeit in der jeweiligen Bundesverfassung untersucht. Abschließend wird auf die Stellung von Menschen mit Behinderung im jeweiligen Wohlfahrtssystem eingegangen.
I. Allgemeine Hinweise zur Begrifflichkeit
Das Verständnis der in unterschiedlichen Fachdisziplinen vielfältig besetzten Begriffe Sozial- und Wohlfahrtsstaat im Zusammenhang dieser Untersuchung soll im folgenden kurz erläutert werden.
Im juristischen Sprachgebrauch wird durch die normative Verankerung von
Begriffen eine relativ hohe Eindeutigkeit hergestellt. Vorgestellt werden einige der
gängigen deutschen wie U.S.-amerikanischen Gesetzesbegriffe, die bei der Untersuchung des wohlfahrtsstaatlichen Umfelds vorkommen. Im deutschen Recht sind die
Begriffe Sozialstaat als Verfassungsprinzip in Art. 20 I GG und Sozialrecht als
„Recht des Sozialgesetzbuchs“ in § 1 SGB I zu finden. Soziale Rechte sind in
§ 2 SGB I erwähnt und in den nachfolgenden Paragraphen näher spezifiziert, u.a.
gehören dazu das „Recht auf Zugang zur Sozialversicherung“806, das „Recht auf
Sozialhilfe“807 und Rechte zur Verwirklichung gleichberechtigter Teilhabe von
Menschen mit Behinderung808. Das U.S.-amerikanische Recht lässt die Sozialversicherungen und die ihr nahestehenden Leistungen von der Social Security Administration verwalten, das Gesetz zu ihrer Einführung war der Social Security Act, die
806 § 4 SGB I.
807 § 9 SGB I.
808 § 10 SGB I.
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References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.