197
II. Entwicklung des Wohlfahrtsstaats
Historische Entwicklungen verlaufen kaum je linear und lassen sich nicht durch
einfache Kausalitäten abbilden. Das gilt natürlich auch für die Entwicklung moderner Sozialstaatlichkeit. Hilfen der öffentlichen Hand für Bedürftige sind seit der
frühen Neuzeit geläufig und dokumentiert816, dennoch besteht Konsens darüber, dass
sich der moderne Wohlfahrtsstaat erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts bilden konnte.
Während zuvor kirchliche und gesellschaftliche Institutionen neben dem eigenen
Familienverband die Hauptträger der „sozialen Last“ waren817, kam es im 19. Jahrhundert zu wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die diesen Mechanismus
nicht mehr ausreichen ließen. Die entscheidenden Wirkbedingungen für die Entstehung moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit waren Verstädterung, Industrialisierung und
Kapitalismus; die sozialstaatliche Entwicklung diente der Abarbeitung von Folgeproblemen der sozioökonomischen Umwälzungen, die durch die gesellschaftstransformierende Dynamik der genannten Wirkbedingungen losgetreten worden war818.
Anders gesagt, war der Wohlfahrtsstaat eine Antwort auf die spezifischen sozialen
Probleme, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Industriestaaten herausgebildet haben. Diese Antwort konnte jedoch durchaus verzögert ausfallen, wie vor
allem die Entwicklung in den USA belegt819.
Nicht nur für die Entstehung, sondern auch für die weitere Entwicklung des
Wohlfahrtsstaats haben sich innere und äußere Krisen eines Gemeinwesens häufig
als besonders produktiv erwiesen820. So ist etwa die Veteranenversorgung eine
Sozialleistung, für welche die öffentliche Hand schon früh eine organisatorisch recht
gut entwickelte Verantwortung übernommen hat821. Ohne Krieg bzw. Bürgerkrieg
zwischen den Nord- und Südstaaten hätte sich dieses Problem gar nicht gestellt.
Nicht jede Krise ist jedoch ein sozialstaatlicher Entwicklungsmotor, wie insbesondere beim Vergleich zweier Staaten deutlich wird. So traf die Weltwirtschaftskrise von
1928 sowohl die USA als auch Deutschland mit voller Härte. Während in den Vereinigten Staaten daraufhin der Aufbau eines halbwegs funktionsfähigen Sozialsys-
816 Zur staatlichen Armenfürsorge im Deutschen Reich des 16. und 17. Jh. etwa Marzahn, in:
ders./Ritz, Zähmen, 1984, S. 67 ff.; Welti, Behinderung, 2005, S. 190 f.; Stolleis, Geschichte,
2003, S. 18 ff., der besonders auf den (auch) repressiven Charakter der staatlichen Sozialmaßnahmen i. S. einer „Sozialdisziplinierung“ hinweist. Ähnlich für die postkoloniale Entwicklung im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten von Amerika Katz, in: ders./Sachße,
Social Welfare, 1996, S. 97, 99 ff.
817 Stolleis, Geschichte, 2003, S. 13; auch Welti, Behinderung, 2005, S. 188 f.
818 Butterwegge, Wohlfahrtsstaat, 3. Aufl. 2001, S. 26; Kaufmann, Varianten, 2003, S. 27; Stolleis, in: FS Zacher, 1998, S. 1081, 1082 ff.
819 Vgl. Schmidt, Sozialpolitik, 3. Aufl. 2005, S. 183.
820 Kaufmann, Varianten, 2003, S. 31.
821 Vgl. Stolleis, in: BMA, Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 1, 2001, S. 199, 269 f.; Welti,
Behinderung, 2005, S. 191; für die USA Skocpol, Soldiers, 1992, S. 102 ff.; Streissler, in:
Gustenau/Höll/Nowotny, Diverging Partners, 2006, S. 47, 51.
198
tems überhaupt erst einsetzte822, konnte sich in Deutschland im Zuge der durch den
wirtschaftlichen Zusammenbruch jedenfalls beschleunigten geistigen und politischen Krise eine faschistische Diktatur bilden, die mit Hilfe von Repression, Propaganda, Entdemokratisierung, Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit durch Umstellung auf Kriegswirtschaft sowie der neuen Ideologie einer „Volksgemeinschaft“ der
Mehrheit der Bevölkerung zunächst ein Plus an sozialem Frieden vorgaukelte, jedoch keinen nachhaltigen Fortschritt des Sozialsystems veranlasste823.
Die im einzelnen sehr unterschiedlichen Ausprägungen und Stationen der wohlfahrtsstaatlichen Betätigung und Systembildung in Deutschland und den USA können hier nur äußerst überblicksartig dargestellt werden. Vor allem soll die Entwicklung der institutionellen und geistigen Eckpfeiler des jeweiligen Sozialsystems dargelegt werden. Besonderes Augenmerk wird darauf zu legen sein, inwiefern es sich
um eine kontinuierliche und geistig verfestigte Entwicklung handelt und unter welchen Umständen es zu Brüchen gekommen ist. Ein wichtiger Indikator dafür ist die
Frage, inwieweit sozialen Leistungen des Staates individuelle Rechte des Einzelnen
korrespondieren bzw. inwieweit sozialrechtliche Ansprüche sich als politisch disponibel erweisen.
1. Deutschland
Prägend für die deutsche Entwicklung war das Zusammentreffen von zwei Faktoren
im 19. Jahrhundert: Der erste Faktor war die Entstehung einer verelendeten Bevölkerungsschicht, deren soziale Probleme auch im Sinne des Erhalts staatlicher Ordnung einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden mussten. Zweiter entscheidender
Faktor war ein sehr ausgeprägter Staatsgedanke, der im Zuge der nationalen Einigung unter preußischer Führung auch auf die wirtschafts- und sozialpolitische Entwicklung durchschlug, indem er vereinheitlichende Reformen von oben mit erheblichem Lenkungscharakter auf das Wirtschaftsgeschehen begünstigte824.
Das seit ca. 1835 so genannte Proletariat war ursprünglich aus einer ländlichen
Überschussbevölkerung hervorgegangen, die nach der Abschaffung der feudalen
Bindungen und der damit einhergehenden Entstehung einer großen Zahl „freier
Landarbeiter“ zusammen mit einem sich beschleunigenden Bevölkerungswachstum
in wirtschaftliches Elend abglitt. Die Resorption dieser vermögenslosen vorindustriellen Armen durch den im Zuge der Industrialisierung entstandenen Arbeiterbedarf in städtische Ballungszentren brachte jedoch keine Lösung des Problems, weil
822 Vgl. dazu die Bezeichnungen verschiedener U.S.-Autoren: Katz, in: ders./Sachße, Social
Welfare, 1996, S. 97, 108: „Semiwelfare State“; Weir/Orloff/Skocpol, in: dies., Social Policy,
1988, S. 3, 20: „a kind of modern welfare state“.
823 Dazu Ritter, Sozialstaat, 2. Aufl. 1991, S. 131 ff.; Stolleis, Geschichte, 2003, S. 180 ff.;
Butterwegge, Krise, 2. Aufl. 2005, S. 59 ff., Schmidt, Sozialpolitik, 3. Aufl. 2005, S. 63 ff.
824 Vgl. Maier, Historische Voraussetzungen, 2002, S. 22 ff.; Ritter, Sozialstaat, 2. Aufl. 1991,
S. 47 ff.; Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl. 2007, § 1 Rn. 2 ff.
199
das aus den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen resultierende neuartige Elend noch
weit provozierender wirkte als die diffuse Problematik ländlicher Armut825. Die
herkömmlichen, auf das Mittelalter zurückgehenden Solidaritätssysteme konnten
diese neu entstandene Arbeiterklasse nicht aufnehmen, so dass bei Einschränkung
der eigenen Arbeitskraft durch Krankheit, Alter, familiäre Verpflichtungen etc. nur
der Weg in die Armenfürsorge blieb. Diese war im 19. Jahrhundert kommunal und
subsidiär organisiert, ohne den Bedürftigen Ansprüche i. S. subjektiv-öffentlicher
Rechte zu gewähren, und stellte keine befriedigende Lösung der neuen Problemlage
dar826. Die zahlenmäßig große, aber sozial und politisch benachteiligte Arbeiterschaft formierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Arbeiterbewegung, die ihre besondere Situation als „Arbeiterfrage“ getrennt von der allgemeinen „Armutsfrage“ formulierte827. Ein zentraler Themenbereich dieser Arbeiterfrage
war die Existenzsicherung der erwerbslosen Arbeiter, derer sich der Staat schließlich
durch die Einführung verschiedener Sozialversicherungen annahm.
a) Grundlegung des staatlichen Sozialversicherungssystems unter Bismarck
Die Bismarcksche Sozialreform der 1880er Jahre mit ihren drei Versicherungszweigen Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884), Invaliden- und Altersversicherung (1889) war eine sozialpolitische Antwort auf die geschilderte Arbeiterfrage und diente zugleich staatspolitischen Zielen828. Nach der Einschätzung der
politisch organisierten Arbeiterschaft als Staatsbedrohung und ihrer Bekämpfung
durch das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ von 1878, stellte das sozialreformerische Gesetzespaket gleichsam die „Vervollständigung der Gesetzgebung zum Schutze gegen die sozialdemokratischen Bestrebungen“ dar829. Neben einer Befriedung der Arbeiterschaft sollten die neuen Sozialversicherungen auch den Interessen der Industrie an einer für sie kalkulierbaren
Lösung der Arbeiterfrage dienen und die bis dato lückenhaften und zersplitterten
Versicherungsmöglichkeiten im sozialen Bereich vereinheitlichen830.
Im Sinne eines modernen öffentlichen Sozialversicherungssystems typisch an
diesen Versicherungen sind der Rechtsanspruch der Versicherten, der aus der Beitragsfinanzierung folgt, sowie ihre Ausgestaltung als Zwangsversicherung. Letzteres
Charakteristikum ließ sich bruchlos mit der bereits erwähnten, in den damaligen
konservativen Kreisen vorherrschenden Staatsorientierung rechtfertigen: Die Versicherungspflicht verfolgte den Schutz der Bürger, zu dem der Staat zuvorderst beru-
825 Zum Ganzen Kaufmann, Varianten, 2003, S. 260 f.
826 Stolleis, Geschichte, 2003, S. 28 f.; Welti, Behinderung, 2005, S. 200 f.
827 Kaufmann, Varianten, 2003, S. 261 ff.; Stolleis, Geschichte, 2003, S. 40 ff.
828 Ritter, in: FS Zacher, 1998, S. 789, 791 f.; Kaufmann, Varianten, 2003, S. 269; Stolleis, in:
BMA, Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 1, 2001, S. 199, 233 ff.
829 Eröffnungsrede Bismarcks im Reichstag, 4. Legislaturperiode, IV. Sess. 1881, zitiert nach
Stolleis, Geschichte, 2003, S. 55.
830 Stolleis, a.a.O., S. 55.
200
fen war831. Einen gewissen Ausgleich dieser prominenten Rolle des Staates brachte
die Organisation der Sozialversicherung in Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, die mit Selbstverwaltung ausgestattet waren832. Durch diese Stellung
außerhalb der hoheitlichen, hierarchischen Staatsverwaltung konnte der historische
Zusammenhang zur organisierten gesellschaftlichen Selbsthilfe gewahrt bleiben833.
Zunächst war die Einkommensgrenze, bis zu der Zwangsmitgliedschaft in den
genannten Versicherungen bestand, niedrig angesetzt, so dass ganz überwiegend
Arbeiter, nicht hingegen Angestellte zum Kreis der Versicherten gehörten834. Das
Leistungsniveau insbesondere der Invaliden- und Altersversicherung war allerdings
sehr niedrig und keinesfalls dazu ausgestattet, durchschnittlichen Versicherungsnehmern wenigstens zu einem Anspruch in Höhe des Existenzminimums zu verhelfen; ebenfalls nicht vorgesehen war die Hinterbliebenenversorgung835.
Das Bismarcksche Sozialversicherungssystem erwies sich schon früh als Studienobjekt und z.T. auch Vorbild für andere Staaten836. In Deutschland hat es überdies
als Prinzip zur Verteilung von Einkommen und der Beteiligung der Bürger an sozialen Leistungen eine besondere Beharrungskraft entfalten können. Schon wenige
Jahre nach seiner Errichtung setzte eine beträchtliche Expansion der Sozialversicherung ein. Zum einen dehnte sich die Sozialversicherungspflicht quantitativ aus: Der
Personenkreis wurde beständig erweitert. Insbesondere die Einbeziehung der Angestellten mit einem Verdienst von 2000 bis 5000 RM durch das Versicherungsgesetz
für Angestellte von 1911 bedeutete einen entscheidenden Zuwachs837. Die Erweiterung der Hinterbliebenensicherung sorgte dafür, dass der von der Sozialversicherung
erfasste Personenkreis zusätzlich wuchs838. Auch das Leistungsspektrum verbreiterte
sich. So engagierte sich etwa die Invaliditätsversicherung zunehmend im Bereich
der Heilbehandlung und Kuren, um die Leistungsfähigkeit ihrer Mitglieder zu erhalten und damit Zahlungen von Renten zu vermeiden839. Zum anderen gewann die
Sozialversicherung auch in qualitativer Hinsicht. Die Reichsversicherungsordnung
von 1911 brachte die erste vereinheitlichende Kodifikation des Sozialversicherungsrechts nach Muster des Bürgerlichen Gesetzbuchs in einen Allgemeinen Teil und in
mehrere spezielle Bücher840. Stolleis bewertet diesen Schritt als Zeichen dafür, dass
831 Ausführlich mit vielen Zitaten Stolleis, a.a.O., S. 64 ff. – die liberalen Stimmen, die gegen
eine Zwangslösung waren, vermochten sich nicht durchzusetzen.
832 Stolleis, a.a.O., S. 71 ff.; Kaufmann, Varianten, 2003, S. 270 f.
833 Bieback, Körperschaft, 1976, S. 337 ff.
834 Jahreseinkommen bis 2000 RM: Stolleis, Geschichte, 2003, S. 78, 84.
835 Ritter, in: FS Zacher, 1998, S. 789, 815; Schmidt, Sozialpolitik, 3. Aufl. 2005, S. 25 – die
Altersversicherung setzte erst ab einem Alter von 70 Jahren ein, das ohnehin von kaum einem
der Versicherten erreicht wurde.
836 Vgl. Kaufmann, Varianten, 2003, S. 281; Wilensky u.a., Comparative Social Policy, 1985,
S. 12.
837 Umfassend dazu Bichler, Angestelltenversicherungsgesetz, 1997; Schmidt, Sozialpolitik,
3. Aufl. 2005, S. 36 f.
838 Stolleis, Geschichte, 2003, S. 102.
839 Stolleis, a.a.O., S. 88.
840 Rother, Reichsversicherungsordnung, 1994, bes. S. 82 ff.
201
die Sozialversicherung dem Staat insgesamt eine neue Qualität gegeben hat841: Sie
konnte sich als finanzstarkes Sondersystem zwischen Staat und Gesellschaft etablieren und diese beiden Hauptsysteme in ihrer jeweiligen Verantwortung entlasten.
Durch die Kooperation von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Sozialversicherung entstand eine „Sozialpartnerschaft“, die Klassengegensätze abmildern half. Die
Sozialversicherungsbürokratie erlangte zudem erheblichen politischen Einfluss au-
ßerhalb des Parlaments und des föderalen Systems. Der Erfolg der Sozialversicherung wirkte verstärkend auf die ohnehin schon bestehende Tendenz zu einem sozialstaatlichen Etatismus; eine Rückkehr zu staatsferneren, liberalen Organisationsformen kam nicht in Frage.
b) Ausdehnung des Sozialstaats in der Weimarer Republik
Die Folgen des 1. Weltkrieges auf die deutsche Gesellschaft wirkten sich vor allem
auf den Bereich der Fürsorge produktiv aus. Insofern bewahrheitete sich die Beobachtung, dass Krisen die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung vorantreiben können.
Sozialer Hintergrund war das Auftreten von Armut als einem neuen Massenphänomen. Hierbei handelte es sich auch um eine direkte Folge des Krieges, da Millionen
von Soldaten, Kriegsopfern, Hinterbliebenen und durch den Krieg vermögenslos
Gewordenen wieder in die Gesellschaft – vor allem den Arbeitsmarkt – integriert
werden mussten842. Der „Sonderopfergedanke“ verbot es, diese Personen auf die
normale Armenfürsorge zu verweisen. Diese war nämlich repressiv ausgestaltet,
weil sie vom Leitbild „unwirtschaftlicher Elemente“ ausging, die nicht in der Lage
seien, „selbst ihren Platz im Leben zu finden und ihre Aufgabe in Wirtschaftsleben
und Gesellschaft zu erfüllen“843. So entwickelte sich ein komplexes System der
„gehobenen Fürsorge“, für welches überwiegend das Reich die Gesetzgebungskompetenz innehatte, während die übliche Armenunterstützung Sache der Länder
blieb844. Eine weitere Vereinheitlichung ging von der Reichsverordnung über die
Fürsorgepflicht im Jahr 1924 aus, die zwar die bestehenden Einrichtungen der freien
Wohlfahrtspflege intakt ließ, aber die gesamte öffentliche Fürsorge in der Sache
zusammenfasste. Zwischen „gehobener Fürsorge“ und normaler Armenfürsorge
wurde sowohl in materieller Hinsicht als auch in der rechtlichen Ausgestaltung differenziert. Nur auf die aus dem Sonderopfergedanken resultierende gehobenen Fürsorgeleistungen bestand ein Rechtsanspruch845. Für die sonstige Fürsorge blieb es
hingegen bei einer reinen Ermessensentscheidung der Behörden846. Gemeinsam war
allen Fürsorgeleistungen ihre Ausgestaltung als möglichst individuell zu gewähren-
841 Zum Folgenden Stolleis, Geschichte, 2003, S. 105-107.
842 Welti, S. 211; Stolleis, a.a.O., S. 124.
843 Zitiert nach Stolleis, a.a.O., S. 124.
844 Ritter, Sozialstaat, 2. Aufl. 1991, S. 104 f.; Stolleis, Geschichte, 2003, S. 127 ff., bes. 129.
845 Ritter, a.a.O., S. 105 f.; Stolleis, a.a.O., S. 131 ff.
846 Stolleis, a.a.O., S. 136.
202
der Hilfe zur Selbsthilfe847, wobei das Prinzip der Individualisierung aus organisatorischen wie aus Gleichheitsgesichtspunkten nicht in jeder Hinsicht durchzuhalten
war. Daher bildeten sich vom Reich festgesetzte Richtsätze über die Höhe der Fürsorge aus848.
Insgesamt ist also in den 1920er Jahren eine Tendenz zur Ausbildung einer einheitlichen Sozialhilfe zu erkennen. Auch ihre subjektive Verrechtlichung ist bereits
angelegt. Die Weimarer Reichsverfassung war einer sozialstaatlichen Entwicklung
gegenüber ohnehin aufgeschlossen849.
Ebenfalls konnte sich das Sozialversicherungssystem fortbilden, wenn auch hier
die Entwicklung weniger augenfällig ist als bei der Fürsorge. Für die bestehenden
Sozialversicherungszweige wurde der Kreis der Versicherungspflichtigen stetig
erweitert, so dass sich auch Musiker, Hebammen, Hausgewerbetreibende etc. in
einem oder mehreren der Sozialversicherungszweige wiederfanden850. Für die Krankenversicherung wurde das Prinzip der Familienmitversicherung eingeführt. Die
größte Neuerung war die Gründung eines neuen Sozialversicherungszweiges im
Jahre 1927: Mit dem „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ zählte nun auch die Arbeitslosigkeit zu den staatlich abgesicherten Lebensrisiken851. Die neue Leistung der Arbeitslosenunterstützung wurde allerdings nur für
ein halbes Jahr gezahlt, danach sprang wiederum die Fürsorge ein852. Dem neuen
Versicherungszweig war jedoch wegen des sprunghaften Anstiegs der Arbeitslosigkeit u.a. wegen der Weltwirtschaftkrise ein nachhaltiger Erfolg versagt. Die durch
Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Krise aufgeheizten Spannungen in der
Weimarer Republik konnten auf sozialpolitischem Wege nicht befriedet und das
Aufkommen des Nationalsozialismus nicht verhindert werden.
c) Entwicklung in der Bundesrepublik
Die Instrumentalisierung des Sozialsystems durch die Nationalsozialisten brachte
zwar seine Entdemokratisierung und den Ausschluss von nicht zur Ideologie der
Volksgemeinschaft gehörenden Personen mit sich, änderte aber den institutionellen
847 Ritter, Sozialstaat, 2. Aufl. 1991, S. 107.
848 Sachße/Tennstedt, Armenfürsorge Bd. 2, 1988, S. 179 ff.
849 Z.B. Gesetzgebungskompetenzen des Reiches für alle zentralen Fürsorgebereiche (Art. 7
WRV) und subsidiär auch für die Wohlfahrtspflege (Art. 9 WRV); Anspruch auf Familienund Mutterschaftsfürsorge (Art. 119 II, III WRV); Ordnung des Wirtschaftslebens nach dem
Grundsatz der Gerechtigkeit mit dem Ziel eines menschenwürdigen Daseins für alle (Art. 151
WRV); umfassendes Sozialversicherungswesen (Art. 161 WRV); Die Verfassung des Deutschen Reiches v. 11.8.1919, RGBl. I, 1383; zur Verankerung der Sozialstaatlichkeit in der
WRV Wiederin, VVDStRL 64 (2004), S. 53, 63 ff.
850 Stolleis, Geschichte, 2003, S. 155 (Krankenversicherung), 156 f. (Unfallversicherung), 159
(Angestelltenversicherung).
851 Vom 16.7.1927, RGBl. I, 187; Führer, Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung, 1990, bes. S. 259 ff.
852 Stolleis, Geschichte, 2003, S. 163.
203
Rahmen vor allem der Sozialversicherung nicht grundsätzlich. So kam es, dass der
als „Stunde Null“ bekannt gewordene Neubeginn nach dem 8. Mai 1945 in vielerlei
Hinsicht eher eine Weiterführung des Bekannten – natürlich in entideologisierter
Form – bedeutete als eine echte, auch strukturelle Veränderung853. Das gilt ganz
besonders für die Sozialpolitik. Nicht umsonst wird Deutschland im Vergleich mit
anderen westlichen Verfassungsstaaten als Land mit der geringsten staatspolitischen,
aber der höchsten sozialpolitischen Kontinuität bewertet854.
Die Sozialversicherung blieb im bewährten gegliederten System organisiert und
wurde zunehmend als echter Einkommensersatz ausgestaltet. Diese Entwicklung
spiegelt sich etwa in der beständigen Aufstockung des Krankengeldes bis hin zur
sechswöchigen vollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall855 als auch ganz besonders
in der Neustrukturierung des Rentensystems856. 1957 wurde auf politische Initiative
Adenauers hin das Umlageprinzip eingeführt und die staatliche Rente damit als
„Generationenvertrag“ ausgestaltet, bei der die Beiträge der jeweils erwerbstätigen
Generation direkt zur Auszahlung der Renten verwendet werden. Dieses System
erlaubte die Ankoppelung der Renten an das allgemeine aktuelle Lohnniveau und
bewirkte eine ganz erhebliche Steigerung des Renteneinkommens. Das Wirtschaftswunder der 50er Jahre kam damit allen Teilen der Bevölkerung zugute. Die Grenzen
der Expansion857 des Sozialversicherungssystems zeigten sich in den folgenden
Jahrzehnten. Phasen anhaltender wirtschaftlicher Stagnation, steigende Arbeitslosenzahlen und sinkende Geburtenraten bei steigender Lebenserwartung führten zu
einem stetigen Anstieg der Sozialabgaben für die erwerbstätige Bevölkerung858.
Durch die deutsche Wiedervereinigung wurde das Sozialsystem erneut stark belastet. Die sozialpolitischen Reformbemühungen konzentrierten sich darauf, einerseits das Leistungsniveau wieder abzusenken, andererseits die Zahl der Beitragszahler zu erhöhen, was aber natürlich langfristig wieder neue Anspruchsberechtigte
schafft859. Strukturelle Umwälzungen des deutschen Sozialversicherungssystems
sind jedoch nicht zu erwarten, was sich schon daran zeigt, dass 1994 mit der Pflegeversicherung ein neuer Sozialversicherungszweig eingeführt wurde860.
Das Sozialversicherungssystem erfasst den ganz überwiegenden Teil der arbeitenden Bevölkerung Deutschlands, stellt aber keine soziale Grundsicherung für alle
853 Schmidt, Sozialpolitik, 3. Aufl. 2005, S. 62 f.; Stolleis, Geschichte, 2003, S. 209 ff.; differenzierend zur Entwicklung der drei unterschiedlichen deutschen Systeme auf dem Boden des
Sozialstaats der Weimarer Republik Hockerts, in: ders., Sozialstaatlichkeit, 1998, S. 7 ff.
854 Kaufmann, Varianten, 2003, S. 304.
855 Stolleis, Geschichte, 2003, S. 289 ff.
856 Zum Folgenden Schmidt, Sozialpolitik, 3. Aufl. 2005, S. 79 ff.; Stolleis, a.a.O., S. 275 ff.
857 Vergleichende Darstellung der Expansion der Sozialleistungen mit umfangreichem Zahlenmaterial bei Ritter, Sozialstaat, 2. Aufl. 1991, S. 199 ff.
858 Zur Situation der Rechtenversicherung angesichts dieser Veränderungen Ruland, in: ders./ v.
Maydell/ Papier, FS Zacher, 1998, S. 835 ff.
859 Vgl. Krupp, in: Blüm/Zacher, 40 Jahre Sozialstaat, 1989, S. 681, 696 ff.
860 Vom 26.5.1994, BGBl. I, 1014. Dazu etwa Igl, Gerhard, NJW 1994, 3185 ff.; Schulin, NZS
1994, 433 ff.
204
bereit861. Zum einen liegt das daran, dass zumindest die klassischen Selbständigen
(Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater etc.) nicht in dieses System, sondern in ständisch organisierte Versorgungswerke einzahlen862. Zum anderen sind die Leistungen
der Alterssicherung beitragsabhängig, so dass eine gewisse Einkommenshöhe und
Dauer der Erwerbstätigkeit Voraussetzung dafür ist, eine staatliche Rente auf Lohnersatzniveau zu erhalten. Eine existenzielle Grundsicherung stellt somit allein die
Sozialhilfe bereit, die in der Bundesrepublik ganz im Sinne der sich bereits in der
Weimarer Republik abzeichnenden Entwicklung weiter verrechtlicht und vereinheitlicht wurde. Bereits 1949 hielt es der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit den
Grundforderungen des modernen Rechts- und Sozialstaates nicht mehr für vereinbar,
dass die Anwartschaft auf Fürsorge sich nur als Reflexwirkung daraus ergäbe, dass
die Fürsorgeverbände gegenüber dem Staat zur Bekämpfung der Armut verpflichtet
sind. Der bayerische Verwaltungsgerichtshof entschied konsequent, dass nach den
Grundsätzen der Bayerischen Verfassung ein Rechtsanspruch auf Gewährung öffentlicher Fürsorge bestehe863. Andere Landesgerichte folgten dieser Auffassung864,
der sich schließlich auch das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 1954 anschloss865.
Damit war unter dem Grundgesetz – insbesondere aufgrund der Art. 1, 2 I und
20 I GG866 – ein subjektiv-öffentliches Recht auf Sozialhilfe begründet; das Ermessen der Fürsorgeverwaltung war dementsprechend auf Null reduziert. Einfachgesetzlich ausdrücklich begründet wurde dieses Recht im Bundessozialhilfegesetz (BSHG)
von 1961867. Ebenso wie die Leistungen der Sozialversicherungen blieben auch die
Sozialhilfeleistungen in den folgenden Jahren von Einsparungsmaßnahmen nicht
verschont. Zum einen bedeutete dies Leistungskürzungen, die insbesondere durch
die Einführung eines neuen Bemessungssystems voran gebracht wurden868. Zum
anderen verschärfte man die Sanktionen bei der Ablehnung zumutbarer Arbeit und
betonte den Nachrang der Sozialhilfe869. Vorläufiger Schlusspunkt dieser Entwicklung ist die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im SGB II ab dem
Jahr 2005870, was sowohl zu einer Entlastung der Sozialversicherung als auch zu
noch weiteren Leistungskürzungen bei zahlreichen Leistungsempfängern führte.
861 Dazu Kaufmann, Varianten, 2003, S. 284.
862 Zu dieser Entwicklung Stolleis, Geschichte, 2003, S. 281. – Zur Problematik der Sozialversicherung Selbständiger insgesamt Kretschmer, ZSR 1994, 462 ff.
863 BayVGH DÖV 1949, 375, 376.
864 Stolleis, Geschichte, 2003, S. 217 f. m.Nw.
865 BVerwGE 1, 159.
866 Das Bundesverwaltungsgericht nennt außerdem noch Art. 2 II, 3 I, 14 II, 19 IV und 28 GG,
BVerwGE 1, 159, 161 f.
867 Vom 30.6.1961, BGBl. I, 815.
868 ÄndG zum BSHG vom 21.6.1985, BGBl. I, 1081: Einführung des „Warenkorbprinzips“;
dazu Großjohann/Hartmann, Bedarfsmengenschema, 1986.
869 Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts vom 23.7.1996, BGBl. I, 1088; dazu Schulte, NVwZ
1997, 956 ff.
870 4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003, BGBl. I, 2954; dazu
Weyand/Düwell, Das neue Arbeitsrecht, 2005, S. 289 ff.
205
Zudem wurde der Druck zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ganz erheblich
erhöht.
d) Zusammenfassung
Schaut man sich die Sozialpolitik in der Bundesrepublik an, so fällt einerseits die
institutionelle Kontinuität seit den Anfängen des modernen Sozialsystems unter
Bismarck ins Auge. Der Vergabe sozialer Leistungen durch den Staat entspricht in
den existenziellen Kernbereichen zudem durchgängig ein individuelles Recht des
Einzelnen. Ebenfalls Ausdruck der Kontinuität sind die gesetzgeberischen Bemühung um eine Systematisierung des Sozialrechts, welche 1975 mit der Schaffung des
SGB I als einem Allgemeinen Teil des Sozialrechts und der Einführung weiterer
Sozialgesetzbücher fortgeführt wurden871. Andererseits treten aber seit einigen Jahrzehnten die Grenzen einer weiteren Expansion des Sozialsystems immer deutlicher
zu Tage, warum seit langem von einer „Krise des Sozialstaats“ die Rede ist872. Insbesondere die Einführung des Arbeitslosengeldes II kann im Kontext der historischen Entwicklung als Rückfall in die Zeiten einer diskriminierenden Armenfürsorge bewertet werden873. Dennoch besteht kein Anlass, eine „Amerikanisierung“ des
deutschen Sozialstaates heraufzubeschwören874. Weder das verfassungsrechtliche
Sozialstaatsprinzip noch die tatsächliche Verankerung eines institutionell hochentwickelten, historisch bewährten und in der Gesellschaft breit akzeptierten wohlfahrtsstaatlichen Sektors legen eine Aushöhlung der kollektiven sozialen Sicherung
in der Bundesrepublik Deutschland nahe875. Gerade im Vergleich mit den USA wird
zu zeigen sein, dass die Kontinuität des deutschen Sozialstaats Rückschritte aus
neuerer Zeit bei Weitem überwiegt.
2. USA
Die geradezu explosionsartige Industrialisierung der Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Ende des Bürgerkrieges (1865) brachte zwar ähnliche soziale Probleme wie in Deutschland mit sich876. Die politischen Lösungswege beider Staaten
erwiesen sich jedoch als durchaus unterschiedlich.
871 Igl/Welti, Sozialrecht, 8. Aufl. 2007, § 3 Rn. 9 ff.; Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl. 2007, § 2
Rn. 1 ff.
872 Dazu nur Zacher, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 28 Rn. 4 a.E. m.Nw.
873 Kritisch etwa Zuck, NJW 2005, 649, 650: „vom Staat geförderter moralischer Makel“.
874 In diese Richtung etwa Butterwegge, Wohlfahrtsstaat, 3. Aufl. 2001, S. 121 ff.
875 Pointiert Stolleis, Geschichte, 2003, S. 305: „Vermutlich sind die gelegentlich gehegten
Hoffnungen auf ein einfaches Leben ohne kollektive Sicherungsnetzwerke ohnehin illusionär,
weil eine Rückkehr zur Selbstversorgergesellschaft nur durch das Fegefeuer einer Katastrophe und durch drastische Senkung des Niveaus erreichbar wäre“.
876 Ehrenreich, Altruistic Imagination, 1985, S. 20 ff.
206
Während die deutsche sozialpolitische Entwicklung von einem umfassenden und
nicht zuletzt autoritär-wohlfahrtsstaatlichen Staatsverständnis getragen wurde, verhält es sich mit der in den USA traditionell vorherrschenden Staatsauffassung geradezu umgekehrt. Prägend wirken vielmehr eine tief verwurzelte Staatsskepsis und
ein Glaube in die möglichst ungehinderte Entfaltung wirtschaftlicher und privater
Kräfte. Zum ersten kommt hier die angelsächsische Tradition zum Tragen, die eher
von der Vorstellung einer politischen Gemeinschaft bestimmt ist, die sich auf
Grundlage der individuellen Entfaltung eines jeden einzelnen organisiert877. Zum
zweiten spielen die Umstände der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika
eine entscheidende Rolle. Bekanntlich haben sich die USA in einer Sezessionsbewegung weg von der englischen Kolonialherrschaft konstituiert. Vor der Verabschiedung der neuen Bundesverfassung 1788 in Philadelphia beherrschte eine emotional aufgeladene Debatte der Föderalisten auf der einen und der Anti-Föderalisten
auf der anderen Seite das politische Leben. Im Kern ging es darum, ob eine zentrale
Staatsgewalt für den Fortbestand des Bündnisses der ehemaligen Kolonialstaaten
notwendig war oder ob diese nur Machtmissbrauch und Unterdrückung Vorschub
leisten würde878. Die Föderalisten sprachen sich für einen Bundesstaat mit zentraler
Staatlichkeit aus879; der Gefahr des Machtmissbrauchs wollten sie durch ein sorgfältig austariertes Verfassungssystem der checks and balances880 sowie einer starken
Position der einzelnen Staaten entgegenwirken881. Die Anti-Föderalisten hingegen
beharrten auf dem Modell der Konföderation ohne zentrale Instanz. Auch wenn sich
die Föderalisten unter Hamilton, Madison und Jay durchsetzen konnten, blieb es
doch bei einer Skepsis gegenüber zu viel zentraler Staatsgewalt, die das unten noch
näher zu besprechende föderale System der USA bis heute bestimmt. Die Überzeugung von der Überlegenheit dezentralisierter und fragmentierter Machtstrukturen882
erschwerte natürlich national vereinheitlichende Gesetzgebung sowie die Bildung
einer zentralen staatlichen Bürokratie zwecks Aufbaus eines sozialen Sicherungssystems.
Als weitere Gegenbewegung zu einer staatlichen Sozialpolitik erweist sich eine
kulturell und religiös bedingte individualistische Prägung der Gesellschaft in den
Vereinigten Staaten. Ausschlaggebend hierfür waren sowohl die – im Gegensatz zur
Situation in Europa – beträchtlichen wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten der
ersten Einwanderergenerationen als auch die protestantische Ethik und die calvinistische Prädestinationslehre. Die USA waren gleichsam das Experimentierfeld der
877 Kaufmann, Varianten, 2003, S. 85 f.; Weir/Orloff/Skocpol, in: dies., Social Policy, 1988, S. 3,
10 f.
878 Zum Ganzen Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den USA, 1990, S. 29 ff.; Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, 4. Aufl. 2001, S. 5 ff.
879 The Federalist Nr. 1-36, in: Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, 2003 (Erstausgabe
1787-1788), S. 3-210; vgl. auch Brugger, in: Bohnert u.a., FS Hollerbach, 2001, S. 588 ff.
880 The Federalist Nr. 47-51, a.a.O., S. 292-319.
881 Z.B. The Federalist Nr. 45 u. 46, a.a.O., S. 279-292.
882 Kaufmann, Varianten, 2003, S. 82; Salisbury, in: Skocpol/Campbell, American Society, 1995,
S. 271, 273 f.; vgl. auch Weir/Orloff/Skocpol, in: dies., Social Policy, 1988, S. 3, 18 f.
207
Moderne883. Durch einen anfangs unerschöpflichen Vorrat an Land und den nach
Westen offenen Grenzen gab es auch eine wirtschaftliche Grundlage, auf der sich
das neue Gesellschaftsexperiment entfalten konnte. Bis ins 19. Jahrhundert hinein
hatten arbeitsfähige und arbeitswillige Einwanderer, welche die Strapazen eines
Trecks westwärts auf sich nahmen, tatsächlich eine gute Chance, aus eigener Initiative Erfolg zu haben. Die hierfür notwendigen Tugenden entsprachen dem Leitbild
asketischer Selbstdisziplin, welchem die protestantische Ethik anhing884. Die Vorstellung der Prädestinationslehre, dass sich die religiöse Tugend des einzelnen direkt
in seinem wirtschaftlichen Erfolg zu Lebzeiten widerspiegele, trug ein Übriges zu
einer weitreichenden Individualisierung bei. Im Sozialdarwinismus fand diese Lehre
im 19. Jahrhundert ihre säkulare Entsprechung885. Der Staat sollte die Entfaltungsfreiheit des einzelnen schützen, aber nicht regulierend ins Wirtschaftsgeschehen
eingreifen, weil das die Realisation des individuellen und damit auch des gesamtgesellschaftlichen Potentials hemmen würde. Die Armenfürsorge blieb in diesem geistigen Umfeld in bedeutendem Umfang Aufgabe privat organisierter Wohltätigkeit886.
Unübersehbare Risse in der individualistischen Ideologie des „Laisser-faire“ taten sich aber mit der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
auf. Die Kontrolle des Wirtschaftslebens geriet zusehends in die Hände großer Monopolisten, die ihre Macht und ihren Reichtum nahezu ungehindert ausbauen konnten, während die fehlende staatliche Regulierung sich auf der anderen Seite der
Gesellschaft in Armut und Elend niederschlug; Arbeitskämpfe mit rebellischem
Verlauf drohten den sozialen Frieden nachhaltig zu stören887. Die bislang hochgehaltene Theorie der totalen und ungehinderten Selbstbestimmung über die eigene Arbeitskraft war ohne staatlichen Einsatz auf dem sozialen Sektor für einen großen
Teil der Bevölkerung faktisch ins Gegenteil umgeschlagen888. Anstelle der ungehinderten Selbstbestimmung trat die ungehinderte Ausbeutung. Etwa ab 1890 wuchs
die Kritik an diesen Zuständen innerhalb der Mittelklasse sowie der politischintellektuellen Elite. Als neue Kraft formierte sich die sogenannte Progressive
Movement, der auch die Präsidenten Theodore Roosevelt (1901-1909) und Woodrow
Wilson (1913-1921) zuzurechnen sind889. Als für die Regulierung wirtschaftlicher
Tätigkeit wichtigstes Gesetz aus dieser Zeit ist der Sherman Anti-Trust Act of 1890
zu nennen, mit dessen Hilfe bestehende Monopole entflochten und die Bildung neu-
883 Vgl. Kaufmann, Varianten, 2003, S. 82.
884 Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 11 f.
885 Bannister, Social Darwinism, 1979, S. 82 ff. zur Rezeption der Theorien von Herbert Spencer
im Geiste des Puritanismus durch Andrew Carnegie; umfassend Hofstadter, Social Darwinism, 1944; Rimlinger, Welfare Policy, 1993, S. 46 ff.
886 Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den USA, 1990, S. 32 ff; Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 12 ff.; Katz, in: ders./Sachße, Social Welfare, 1996, S. 97, 99 zur Organisation
der Armenfürsorge im 18./19. Jh.; Rogers, Katz/Sachße, Social Welfare, 1996, S. 25, 33 zur
Organisation öffentlicher Wohlfahrt in Anlehnung an private Mildtätigkeit.
887 Zum Ganzen Ehrenreich, Altruistic Imagination, 1985, S. 23 ff.
888 Ausführlich Rimlinger, Welfare Policy, 1993, S. 62 ff.
889 Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 10 f.; McGerr, Fierce Discontent, 2003, S. 279 ff.
208
er Monopole verhindert werden konnten890. Die sozialreformerische Tätigkeit konzentrierte sich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie den Ausbau
(glied-)staatlicher Fürsorgeprogramme für alleinstehende Mütter und Kinder; erstmals wurden so kontinuierliche und allgemeine Sozialleistungen in Geldform bereit
gestellt891.
An eine allgemeine staatliche Einkommenssicherung war jedoch auch in der Progressive Era noch nicht zu denken. Fortschritte in Richtung allgemeine Sozialversicherung wurden allein auf dem Gebiet der gliedstaatlich organisierten Unfallversicherung erzielt892. Staatliche Rentenkassen wurden nur für die Veteranenversorgung
und für Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes (z.B. Polizisten, Feuerwehrleute, Lehrer) eingeführt893. Auf privater Ebene begannen große Unternehmen, Pensionskassen
für ihre Mitarbeiter einzurichten894. In den wirtschaftlich prosperierenden 1920er
Jahren neigten Politik und öffentliche Meinung sich wieder Richtung möglichst
ungehinderte Entfaltung der wirtschaftlichen Freiheit. Der Glaube an einen sich
selbst tragenden „Wohlfahrtskapitalismus“ war weit verbreitet895. Erst das jähe Einsetzen der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 erschütterte die Gesellschaft so nachhaltig, dass auch in den USA die Unausweichlichkeit eines nationalen Sozialsystems
anerkannt wurde.
a) Franklin D. Roosevelt und der New Deal
Mit dem Einbruch der Aktienkurses an der New Yorker Börse im Oktober 1929
begann in den USA eine Krise ungeahnten Ausmaßes, die bei der Mehrheit der Bevölkerung erstmals zu einer nachhaltigen Erschütterung des Vertrauens in die bisherige Organisation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat führte. Die Folgen des
Crashs waren ebenso verheerend wie lang anhaltend: Zwischen den Jahren 1929 und
1939 stieg die offizielle Arbeitslosenquote auf zwischenzeitlich über 30 Prozent; die
für die Versorgung der Armen überwiegend zuständigen Städte und Kommunen
waren mit der Masse der Bedürftigen heillos überfordert896. Die konservative (republikanische) Regierung unter Hoover hielt trotz der desolaten Situation weiter
Teile der Bevölkerung an den hergebrachten wirtschaftspolitischen Rezepten fest.
Insbesondere verweigerte Hoover die Bereitstellung von direkten Geldhilfen aus
890 Dazu Keller, in: Milkis/Mileur, Progressivism, 1999, S. 126, 131; Sklar, 35 N.Y.L. Sch. L.
Rev. (1990), 791 ff.
891 Katz, in: ders./Sachße, Social Welfare, 1996, S. 97, 108 f.; Patterson, America’s Struggle,
1995, S. 67 ff.
892 Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 17; Katz, a.a.O., S. 97, 112.
893 Katz, a.a.O., 1996, S. 97, 113.
894 Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 11 f.; Patterson, America’s
Struggle, 1995, S. 34
895 Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 18.
896 Watkins, The Great Depression, 1993; Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den
USA, 1990, S. 53 ff.; Rimlinger, Welfare Policy, 1993, S. 193 ff.
209
Bundesmitteln und lehnte weiterreichende Reformen aus Angst vor einer fundamentalen Strukturänderung des Wirtschaftsmodells ab897. Die Präsidentschaftswahl des
Jahres 1932 geriet zum Referendum über die zukünftige Wirtschafts- und Sozialpolitik der Vereinigten Staaten, das Hoovers Herausforderer Franklin Delano Roosevelt mit überwältigender Mehrheit gewann898. Statt wie der republikanische Amtsinhaber zur Überwindung der Wirtschaftskrise auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu setzen, plädierte der demokratische Präsidentschaftskandidat für eine größere
sozialpolitische Verantwortung des Gesamtstaates für das Wohl seiner Bürger. Mit
Hilfe eines demokratisch dominierten Kongresses und Senats setzte Roosevelt in den
Folgejahren sein als New Deal bekanntes Wirtschafts- und Sozialprogramm mit den
drei Politikzielen recovery (Wiederherstellung des wirtschaftlichen Wachstums),
relief (Soforthilfe für die Arbeitslosen) und reform (Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingung, die als ursächlich für die Krise angesehen werden
konnten) in Gang899. Für die Bildung des amerikanischen Sozialstaats waren vor
allem die zwei letzteren Ziele maßgeblich.
In den Jahren unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl stand die staatliche Soforthilfe noch im Vordergrund. Zwar hatten die entsprechenden Programme zur
Arbeitsbeschaffung und direkten Auszahlung der Hilfsgelder nur wenige Jahre Bestand. Auch existierte die Federal Emergency Relief Administration (FERA), die als
zentrale Bundesbehörde zur Verteilung der Bundesmittel errichtet worden war, nur
in den Jahren 1933 bis 1935900. Dennoch bildete sich in dieser kurzen Zeit ein Verteilungsmechanismus heraus, der auch für die folgenden Jahrzehnte prägend blieb.
Um die Hilfe „an den Mann“ bringen zu können, bedurfte es der Verwaltung durch
die Bundesstaaten. Dazu bediente sich die FERA der sogenannten matching grants.
Matching grants sind eine spezielle Form der Kofinanzierung, die den Gliedstaaten
die Entscheidung über die Gesamtsumme für das Programm überlässt, aber von
Vornherein festlegt, wie viel Prozent der Bund von der bereitgestellten Summe wieder zurückerstattet. Dieser Mechanismus stellt einen in der Praxis erprobten Anreiz
für die Gliedstaaten dar, die entsprechenden Programme mit möglichst viel Geld
auszustatten901. Charakteristisch ist weiterhin, dass der Bund im Gegenzug für seine
finanzielle Förderung den Gliedstaaten z.T. weitreichende Vorgaben bei der Ausgestaltung der Programme machen kann902. Diese Technik der Vergabe von Bundesmitteln ließ natürlich den politischen Einfluss des Bundes auf die Gliedstaaten steigen –
897 Amenta, Bold Relief, 1998, S. 69; Watkins, The Great Depression, 1993, S. 61 f.
898 Hierzu und zum Folgenden Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003,
S. 112 ff.
899 Allswang, The New Deal, S. 15 ff.; Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 22.
900 Näher zur FERA und den Zielgruppen der dort verwalteten Hilfsgelder Amenta, Bold Relief,
1998, S. 73 ff.; Malamud, 151 U. Pa. L. Rev. (2003), 2019, bes. 2026 ff.
901 Treffende Beschreibung dieses Mechanismus bei Sawicky, in: ders., End of Welfare, 1999,
S. 3, 16.
902 Genauer oben S. 173.
210
der amerikanische Föderalismus entwickelte sich infolgedessen immer mehr zu
einem System gemeinsamer anstatt bloß paralleler Verantwortung903.
In noch höherem Maße systembildend waren die grundlegenden Sozialreformen,
die Roosevelt mit dem aus mehreren Leistungs- und Versicherungsprogrammen
zusammengesetzten Social Security Act im Jahr 1935 auf den Weg gebracht hat904.
Herzstück dieses Gesetzgebungswerks war die Einführung einer bundesweiten,
beitragsfinanzierten Renten- und Arbeitslosenversicherung, deren Funktionsweise
bereits oben genauer beschrieben worden ist905. Der Bund übernahm damit erstmals
eine dauerhafte Verpflichtung für die materielle Absicherung der arbeitenden Bevölkerung im Alter und in Phasen der Arbeitslosigkeit. Auch schuf der Bund einen
eigenen Behördenapparat, die Social Security Administration, zur Verwaltung der
Rentenversicherung und mit ihr zusammenhängender Leistungen. Flankiert wurden
die weitgehend bundeseinheitlichen Sozialversicherungsleistungen durch diverse
matching grant-Programme zur Gewährung von Sozialhilfeleistungen an diejenigen
Teile der Bevölkerung, die mangels ausreichender Beitragszahlung nicht von den
Leistungen der Sozialversicherung profitieren würden. Wichtigste Zielgruppe der
Fürsorgeleistungen waren wie schon in den 1920er Jahren verwitwete Mütter und
ihre minderjährigen Kinder. Im Unterschied zu damals übernahm jetzt aber der
Bund eine maßgebliche Verantwortung für die Gestaltung und Finanzierung dieses
Sozialleistungssegments906. Das Aid to Dependent Children-Programm (ADC) sollte
in den folgenden Jahrzehnten unter dem Namen Aid to Families with Dependent
Childern (AFDC) das umfangreichste Sozialhilfeprogramm für die amerikanische
Bevölkerung werden907.
Angesichts des bis zu dieser Zeit nur schwach ausgeprägten sozialpolitischen
Gestaltungswillen des Bundes wirken die im Social Security Act begründeten Leistungen geradezu revolutionär908. Im Lichte des damaligen politischen Umfelds hingegen erscheint die gewählte Lösung eher als gemäßigt. Denn die politische Debatte
wurde von sozialreformerisch weitgehenderen, teilweise sogar radikalen Ideen beherrscht. An der Speerspitze der sozial utopischen und populistischen Modelle stand
Senator Huey P. Long aus Louisiana, der den vorhandenen Wohlstand mit Hilfe von
Enteignungen und progressiver Einkommenssteuer umverteilen wollte. Familien
sollten Einmalzahlungen und ein jährliches staatliches Grundeinkommen erhalten,
während andererseits absolute Obergrenzen für privaten Besitz und privates Ein-
903 Derthick Compound Republic, 2001, S. 124 u. 132 ff.; Katz, in: ders./Sachße, Social Welfare,
1996, S. 97, 115 f.; Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den USA, 1990, S. 66 ff.;
Kreiner, New Deal, 1971, S. 160 ff.; Weir/Orloff/Skocpol, in: dies., Social Policy, 1988, S. 3,
6 ff.
904 Ausführlich Berkowitz, Welfare State, 1991, S. 13 ff.
905 Oben S. 185 f.
906 Zum Ganzen Katz, in: ders./Sachße, Social Welfare, 1996, S. 97, 117 f.
907 Ausführlich Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 102 ff.; zu den Anfängen dieses Programms
Patterson, America’s Struggle, 1995, S. 67 ff.
908 Eingebürgert hat sich die Bezeichnung big bang (Urknall), vgl. Weir/Orloff/Skocpol, in: dies.,
Social Policy, 1988, S. 3, 6.
211
kommen festgelegt werden sollten909. Etwas weniger radikal war der ebenfalls populäre Townsed-Plan, der für jeden Bürger über sechzig Jahren eine steuerfinanzierte
monatliche Grundrente von 200 Dollar vorsah910. Für die Administration unter Roosevelt bedeuteten diese Vorschläge einen Ansporn, eine politisch tragfähige Lösung
zu finden, welche das bestehende Wirtschaftssystem nicht grundlegend verändern
würde911. Der im Social Security Act gewählte Weg ist insofern konservativ, als dass
er staatliche Sozialleistungen direkt an den Faktor Arbeit anknüpft und nur subsidiär
für einen ausgewählten Kreis von arbeitsunfähigen Bevölkerungsteilen staatliche
Fürsorge vorsieht. Die hergebrachte Ideologie, dass jeder einzelne durch Einsatz
seiner eigenen Arbeitskraft für Überleben und Erfolg zu sorgen hatte, musste nicht
grundsätzlich in Frage gestellt, sondern nur den gewandelten Umständen angepasst
werden912.
Die von Roosevelt initiierten, bundesweiten Sozialversicherungen konnten sich
nach einer ersten Feuerprobe durch den Supreme Court im politischen Leben der
Vereinigten Staaten etablieren. Um den Erfolg seiner Sozialreformen zu sichern, war
Roosevelt auf die Unterstützung des Supreme Court angewiesen, der in den Jahren
1934 bis 1936 von einer Gruppe erzkonservativer Richter dominiert wurde, die
Sozialprogrammen auf Bundesebene feindlich gegenüber standen. Um den Einfluss
dieser Gruppe zu schwächen, ersann der Präsident seinen berühmt-berüchtigten
Court Packing Plan, der es erlaubt hätte, jedem der auf Lebenszeit ernannten Richter bei Erreichen des 70. Geburtstages einen jüngeren Kollegen an die Seite zu stellen913. Damit hätte Roosevelt den Supreme Court im Jahr 1937 um 6 Richter aufstocken und so die Mehrheitsverhältnisse in seinem Sinne beeinflussen können. Der
Court Packing Plan konnte sich gegen die massive Opposition im Senat nicht
durchsetzen. Mit dem Ausscheiden eines Verfassungsrichters sowie dem Umschwenken eines weiteren auf eine weniger konservative Linie erübrigte sich der
Zweck dieses Plans. Schließlich erkannte der Supreme Court im Jahr 1937 die Sozialgesetzgebung des New Deal in einer Reihe von Entscheidungen als verfassungsmäßig an914.
909 Watkins, The Great Depression, 1993, S. 228 f.; Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 133.
910 Amenta, Bold Relief, 1998, S. 112 ff.; Berkowitz, Welfare State, 1991, S. 18 f.
911 Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 134 ff.
912 Vgl. zur Kritik Bernstein, in: ders., New Past, 1968, S. 263 ff.; Gordon, in: Goodin/Mitchell,
Foundations, 2000, S. 115 ff.
913 Zum Court Packing Plan: Leuchtenburg, in: Hollingsworth/Holmes, New Deal, 1969, S.
69 ff.; Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, 4. Aufl. 2001, S. 175.
914 Die zwei Hauptentscheidungen des Jahres 1937 direkt zum Social Security Act sind Charles
C. Steward Machine Company v. Davis, 301 U.S. 548 und Helvering v. Davis, 301 U.S. 619;
dazu Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit, 2001, S. 131 ff.; zu weiteren wichtigen
Supreme Court Entscheidungen im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung in den
1930er Jahren Cohen, 6 Soc.Sec.Rep.Serv. 933, 953 ff.; Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den USA, 1990, S. 102 f.
212
b) Johnson und der War on Poverty
Spätestens in den wirtschaftlich wiedererstarkten 1950er Jahren zeigte sich, dass der
New Deal keine grundlegende Neuorientierung der U.S.-amerikanischen Sozialpolitik hin zu einer wohlfahrtsstaatlich agierenden zentralen Instanz ausgelöst hatte,
sondern in erster Linie eine Reaktion auf eine akute wirtschaftlich-gesellschaftliche
Krise gewesen war915. Zwar hatte sich die Sozialversicherung, vor allem die Rentenversicherung, rasch im allgemeinen Bewusstsein etablieren können. Jedoch ließ das
Engagement des Bundes in der Sozialhilfe wieder nach – auch unter Roosevelt war
dies nur als Teil der zur akuten Krisenüberwindung notwendigen relief gedacht.
Überwiegend ging man davon aus, dass die Partizipation möglichst vieler Bürger an
einem beitragsbasierten sozialen Renten- und Arbeitslosenversicherungssystem
genügen würde, um zukünftige Wirtschaftskrisen nicht zu einer neuerlichen Zerreißprobe für die Gesellschaft werden zu lassen. Daher war die Ausdehnung des
Versicherungsschutzes auf weitere Personenkreise unter Eisenhower eine folgerichtige Maßnahme916. Zudem bildete sich in den USA immer stärker eine Unternehmenskultur heraus, die in bewusster Abgrenzung zum Staat selber für die soziale
Sicherung ihrer Belegschaft sorgen wollte. Als wichtiger Beweggrund erwies sich
hierbei die Sorge vor einem sonst zu mächtigen Interventionsstaat, der sich als
Hemmschuh für die freie wirtschaftliche Betätigung und private Initiativen erweisen
würde917. Symptomatisch für diese Denkweise war das Scheitern der Einführung
eines allgemeinen, solidarisch ausgerichteten Krankenversicherungssystems durch
Truman in den späten 1940er Jahren918.
Erst die politische Entwicklung in den 1960er Jahren brachte neue Bewegung in
die Sozialpolitik des Bundes. Die vor allem unter Präsident Lyndon B. Johnson
(1963-1968) eingeleiteten Sozialreformen sind untrennbar mit der Bürgerrechtsbewegung verbunden. Diese hatte sich in den Jahren ab 1950 vor allem auf eine Beendigung der bis dahin vom Supreme Court für zulässig erklärten Rassensegregation919
konzentriert. Als juristischer Meilenstein gilt das Urteil Brown v. Board of Education of Topeka von 1954, in dem der Supreme Court die separate but equal-Doktrin
für einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz erklärte und damit der Segregationspolitik den Boden entzog920. Ferner sind der durch Rosa Parks 1955 angestoßene Busboykott von Montgomery, Alabama921 wie auch der Einsatz der Nationalgarde im
Jahr 1957 in Little Rock, Arkansas zu nennen, durch den einer Gruppe schwarzer
915 Ehrenreich, Altruistic Imagination, 1985, S. 139 ff.; Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 153 ff.
916 Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den USA, 1990, S. 80 f.; Kaufmann, Varianten,
2003, S. 100; Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 197 ff.
917 Vogel, in: Skocpol/Campbell, American Society, 1995, S. 247 ff.
918 Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S.185 ff.
919 Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896).
920 347 U.S. 483 (1954).
921 Luker, Civil Rights Movement, 1997, S. 207 f.; Newman, Civil Rights Movement, 2004,
S. 54 f.
213
Schüler der Zugang zu einer bis dahin nur Weißen zugänglichen Highschool ermöglicht wurde922. Allerdings wurde schnell deutlich, dass nicht nur rechtliche und tatsächliche Diskriminierung zur sozialen Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung
führte, sondern auch die unter schwarzen Amerikanern im Vergleich zur weißen
Bevölkerung überproportional verbreitete Armut bekämpft werden musste923. Die
sozialwissenschaftliche Debatte der 1960er Jahre konzentrierte sich weniger auf die
materiellen denn eher auf die sozialen Ursachen und Folgen von Armut in den Vereinigten Staaten924. Dementsprechend gab es vermehrt politische Ansätze, der „Kultur der Armut“ durch individuelle und lokale Förderprogramme gezielt entgegenzuwirken; die Betroffenen sollten aktiviert werden, um ihrem vorgezeichneten Schicksal aus eigener Kraft etwas entgegensetzen zu können.
Johnson, der nach der Ermordung Kennedys im November 1963 ins Präsidentenamt gerückt war, setzte die von seinem Vorgänger begonnene, als New Frontier925
bezeichnete Politik des sozialen Wandels nicht nur fort, sondern erweiterte sie um
ein großflächig angelegtes, ursachenzentriertes Armutsbekämpfungsprogramm,
welches als War on Poverty bekannt geworden ist926. Einerseits wandelte Johnson
dabei auf den Spuren der New Deal-Politik unter Roosevelt, dem er Zeit seines Lebens große Bewunderung entgegengebracht hatte927. Andererseits ging Johnson weit
über das im Kern eher konservative Sozialprogramms Roosevelts hinaus, indem er
einen nachhaltigen sozialen Wandel und nicht nur eine primär wirtschaftliche Absicherung der arbeitenden Bevölkerung erreichen wollte. Das allgemeine Klima in den
1960er Jahren war prinzipiell offen für einen derartigen politischen Vorstoß. Die
Ungerechtigkeiten innerhalb der U.S.-amerikanischen Gesellschaft wurden offen
diskutiert; soziale Spannungen – vor allem zwischen der schwarzen und weißen
Bevölkerung – entluden sich in z.T. gewaltsam verlaufenden Unruhen928. Dieser
gesellschaftlichen Krise wollte Johnson nach seinem überwältigenden Wahlsieg
1964 mit der Vision einer Great Society begegnen, einer besseren Gesellschaft ohne
Rassismus, Armut und Ungerechtigkeit929. Der von ihm gewählte politische Ansatz
knüpfte in Teilen an bereits bestehende soziale Programme und Techniken der Ver-
922 Jacoway, Turn Away Thy Son, 2007; Bates, in: Carson, Eyes on the Prize, 1991, S. 97 ff.
923 Hamilton/Hamilton, Dual Agenda, 1997, S. 2 ff.; Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 203 ff.
924 Die berühmteste Untersuchung aus dieser Zeit stammt von Harrington, The Other America,
1962. Als ebenfalls sehr einflussreich erwies sich der Report des Professors und stellvertretenden Arbeitsministers Daniel Patrick Moynihan „The Negro Family“, in dem er den Zerfall
vor allem schwarzer Familienstrukturen auf fehlende männliche Vorbilder als Spätfolge der
Sklaverei zurückführte. Vgl. Ehrenreich, Altruistic Imagination, 1985, S. 164 ff.; Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den USA, 1990, S. 83.
925 Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 217.
926 Berkowitz, Welfare State, S. 111 ff.; Schild, a.a.O., S. 222 ff.
927 Ausführlich Leuchtenburg, in: Milkis/Mileur, Great Society, 2005, S. 185 ff.
928 Newman, Civil Rights Movement, 2004, S. 50 ff. u. 69 ff.
929 Der Terminus entstammt einer Rede aus dem Jahr 1964, die Johnson anlässlich der Graduationsfeierlichkeiten an der University of Michigan hielt, Milkis, in: ders./Mileur, Great Society,
2005, S. 1, 7 f.
214
teilung von Bundesmitteln an. Teilweise bediente Johnson sich jedoch neuer Methoden der Machtausübung im föderalen System der USA, was letztlich mit zum
Scheitern des War on Poverty beitrug.
Die wichtigste Neuerung im Sozialversicherungssystem war die Einführung der
allgemeinen Krankenversicherung Medicare für Menschen ab 65 Jahren im Jahr
1965 parallel zur bereits bestehenden Rentenversicherung930. Die gravierende medizinische Versorgungslücke innerhalb der armen Bevölkerung wurde ebenfalls 1965
durch das Programm Medicaid geschlossen931. Diese von den Gliedstaaten verwaltete Sozialleistung war als matching grant ausgestaltet und bediente sich insofern
eines bereits unter Roosevelt bewährten Mechanismus der Gestaltung von Sozialpolitik durch den Einsatz von Bundesmitteln932.
Die qualitativ neue Vorgehensweise der Johnson-Administration beim sozialpolitischen Engagement des Bundes lässt sich am besten anhand des Community Action
Program933 beschreiben, das die Armut auf kommunaler Ebene durch einen die
Betroffenen aktivierenden Ansatz direkt bekämpfen sollte. Anstelle sich bei der
Verteilung von Bundesmitteln für Hilfsprogramme der bestehenden Verwaltungsstrukturen von Gliedstaaten und Kommunen zu bedienen, sollten die Bundesgelder
durch freie Träger möglichst ohne weitere staatliche Vermittlung den Bedürftigen zu
Gute kommen. Dafür sah das Gesetz die größtmögliche Beteiligung (maximum feasible participation) der Betroffenen am Entscheidungsprozess der freien Träger über
die exakten Verwendungszwecke der Bundesmittel vor. Diesen Passus nutzten gut
vernetzte und in politischen Kampagnen geübte Organisationen der Bürgerrechtsbewegung, um auf kommunaler Ebene gleichsam als Stimme der Betroffenen mehr
Einfluss zu erlangen. Vorteil dieses Vorgehens war eine bürgernahe und problemorientierte Verwendung der bereitgestellten Förderungsmittel. Zudem konnte so
verhindert werden, dass weniger progressiv eingestellte Kommunalpolitiker die
ehrgeizigen Ziele des Community Action Program auf Verwaltungsebene torpedierten. Allerdings entwickelten sich durch diese Technik der Mittelvergabe inoffizielle
Parallelstrukturen zur bestehenden Kommunalverwaltung. Dies nahm die Regierung
unter Johnson durchaus in Kauf, zumal so ein effektives Gegengewicht zur bestehenden Politik- und Verwaltungspraxis auf kommunaler Ebene geschaffen wurde934.
Es ist wenig verwunderlich, dass die Bürgermeister in vielen Städten gegen die
Unterminierung lokaler Hierarchien mit Hilfe von Bundesgeldern durch aktivistische „Grasswurzel-Bewegungen“ Sturm liefen935.
930 Ausführlich Berkowitz, in: Milkis/Mileur, Great Society, 2005, S. 320 ff.
931 Zu Medicaid oben S. 189 f.
932 Oben S. 209 f.
933 Title II des Economic Opportunity Act of 1964, Public Law 88-452 v. 20.8.1964; Eichenhofer, Recht der sozialen Sicherheit in den USA, 1990, S. 89
934 Vgl. Patterson, America’s Struggle, 1995, S. 138; Piven/Cloward, in: Milkis/Mileur, Great
Society, 2005, S. 253 m.Nw.; Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003,
S. 231.
935 Ehrenreich, Altruistic Imagination, 1985, S. 179; Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 231.
215
Das Sozialsystem der USA ist durch den War on Poverty nicht so nachhaltig weiter entwickelt worden, wie die ehrgeizigen Politikziele Johnsons es hätten vermuten
lassen. Für das Ende der Johnson-Administration nach nur einer Wahlperiode –
1968 gewann bekanntlich Richard Nixon – war sicherlich in erster Linie der zunehmende Unmut über die Beteiligung der Vereinigten Staaten am Vietnamkrieg verantwortlich. Jedoch gibt es auch innenpolitische Gründe für das Scheitern Johnsons.
Mit der zuletzt geschilderten Technik der direkten Vergabe von Bundesmitteln an
freie, teilweise politisch radikalisierte Wohlfahrtsträger hat Johnson das traditionell
auf eine Eindämmung der Bundeskompetenzen im sozialen Bereich bedachte föderale Gefüge der Vereinigten Staaten überstrapaziert. Selbst im reformorientierten
Klima der 1960er Jahre ließ sich ein solches Vorpreschen des Bundes in lokale Belange nicht auf Dauer in die politische Tradition der Vereinigten Staaten integrieren.
Auf der anderen Seite ist im Nachgang der von Johnson initiierten Programme die
Armut tatsächlich gesunken, wobei sich natürlich nicht feststellen lässt, inwieweit
ein ursächlicher Zusammenhang zum War on Poverty besteht936. Bereits unter Nixon
wurden die kontroversesten Teile der Sozialprogramme deutlich zurückgefahren,
indem kaum noch Bundesgelder dafür bereitgestellt wurden937. Geblieben sind hingegen die Erweiterung der Rentenversicherungen um Medicare sowie Medicaid als
Basiskrankenversicherungsschutz für besonders Bedürftige.
c) Die weitere sozialpolitische Entwicklung
Nach Roosevelts New Deal und Johnsons Great Society sind keine derart groß angelegten, progressiven Phasen der Sozialreform in den USA zu verzeichnen. Das mag
auch damit zusammenhängen, dass es seitdem keine vergleichbaren nationalen Krisen gab. In den vergangenen Jahrzehnten ist vielmehr ein Rückgang des Bundesengagements in der Sozialhilfe zu beobachten. Selbst die seit Roosevelt als politisch
unantastbar geltende Social Security hat in allerjüngster Zeit erste – wenn auch nur
haarfeine– Risse erhalten.
aa) Zeit seit Nixon
Die Phase nach Johnson bis in die 1980er Jahre ist sozialpolitisch eher ereignislos
geblieben. Ein politischer Vorstoß Nixons, das Sozialhilfeprogramm für Familien
(Aid to Families with Dependent Children – AFDC) grundlegend zu reformieren,
schlug fehl. Anstelle primär alleinerziehende Mütter und ihre Kinder zu unterstützen, wollte Nixon den Fokus auf im traditionellen Sinne intakte Familien legen und
936 Vgl. Piven/Cloward, in: Milkis/Mileur Great Society, 2005, S. 253, 262 f.; Ehrenreich, Altruistic Imagination, 1985, S. 180 f.
937 Ehrenreich, a.a.O., S. 182 f. Bereits unter Johnson selber galten die Programme als deutlich
unterfinanziert, Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 256 f.
216
auch Geringverdienern finanzielle Beihilfen zukommen lassen938. Allerdings scheiterte das Vorhaben im Senat – man hielt es für zu teuer und bemängelte das Fehlen
von Arbeitsanreizen für Hilfsempfänger939. Die Jahre nach der Watergate-Affäre
waren vom Misstrauen in die politischen Institutionen und einer teilweise katastrophalen Situation der öffentlichen Haushalte geprägt940. Als einzige in diesem Kontext nennenswerte Neuerung wurde das bereits ausführlich erläuterte Supplemental
Security Income (SSI)941 geschaffen, das aber auch nur eine Zusammenlegung mehrerer bereits bestehender Hilfsprogramme für Menschen mit Behinderungen und
Alte bedeutete942.
bb) Reagan und der New Federalism
Ein erster entscheidender Politikwechsel fand unter Reagan (Amtszeit 1981-1989)
statt, der eine grundsätzliche ideologische Umorientierung der Bundespolitik bewirken wollte. Sein Ansatz lässt sich als staatsfern, in Anbetracht des politischen Erbes
der Vereinigten Staaten geradezu als reaktionär beschreiben. Kurz gesagt wollte er
den Bund als innenpolitischen Akteur auf ein absolutes Minimum zurückfahren, um
so Wirtschaft und individuellen Initiativen ungehinderte Entfaltungsmöglichkeiten
zu geben. Es liegt nahe, dass Reagan zur ideologischen Rechtfertigung seiner Politik
des New Federalism auf die Ursprünge des U.S.-amerikanischen Staatsverständnisses zurückgriff, das durch Dezentralisierung und Primat der Freiheit des Einzelnen
vor seiner Unterordnung gegenüber dem Staat bestimmt war943. Konsequenz dieses
Ansatzes für die Sozialpolitik war, dass der Bund sein über die Gewährung von
Fördermitteln (grants) an die Einzelstaaten ausgeübtes Engagement für soziale Programme durch drastische Mittelkürzungen zurückfuhr. Dafür wurden die Gelder
nicht nur der Höhe nach gekürzt, sondern auch in anderer Form vergeben, nämlich
als sogenannte block grants944. Diese beinhalten eine pauschalierte Zuweisung von
Geldern an die Gliedstaaten mit nur geringen Auflagen für den Verwendungszweck,
938 Berkowitz, Welfare State, 1991, S. 123 ff.; Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 243 ff.
939 Daneben gibt es ein „inoffizielles“ Erklärungsmodell für den besonders in den Südstaaten
verbreiteten Widerstand gegen Nixons Family Assistance Plan: Um weiterhin günstige Arbeitskräfte für die vor allem im Süden der USA verbreitete Landwirtschaft zu bekommen,
sollten die bestehenden Sozialstrukturen möglichst unangetastet bleiben. Staatliche Beihilfen
für Familien hätten den Druck verringert, harte unterbezahlte Arbeit zu verrichten und so die
Löhne womöglich in die Höhe getrieben; dazu Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 253 f. m. Nw.
940 Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S.265 ff.
941 Oben S. 188 f.
942 Übersicht bei Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 33.
943 Hesse/Benz, „New Federalism“, 1987, S. 37 ff.; aus der Perspektive eines engen Mitarbeiters
Reagans: Williamson, Reagan’s Federalism, 1990.
944 Finegold, in: Obinger/Leibfried/Castles, Federalism and the Welfare State, 2005, S. 138,
169 f.; Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 144.
217
wodurch die Gliedstaaten einerseits deutlich mehr politischen Spielraum behalten
als bei anderen Formen von grants, andererseits jedoch auch weniger Mittel erhalten
als etwa bei den unter Roosevelt favorisierten matching grants945.
Die Regierung unter Reagan hatte durchaus differenzierte sozialpolitische Vorstellungen946. Beitragsabhängige Sozialleistungen sollten unangetastet bleiben, soweit es sich um aus eigenen wirtschaftlichen Mitteln erworbene Ansprüche handelte.
Für Hilfsleistungen in akuten Notlagen sollten ebenfalls weiterhin Bundesmittel
bereitgestellt werden, da dies Mildtätigkeit des Staates (welfare im klassischen Sinne) sei, die nicht allzu viele Gelder beanspruchte und nur geringe Auswirkungen auf
den Markt habe. Alle Programme, die jedoch auf Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zielten, sollten möglichst eliminiert werden, da sie einen zu großen
Eingriff in das freie Wirtschaftgeschehen bedeuteten. So hielt Reagan die Förderung
der sogenannten working poors – also Personen, die trotz Einsatz ihrer Arbeitskraft
nur äußerst geringes Einkommen erzielen – für nicht sinnvoll. Vielmehr setzte er für
diesen Personenkreis auf wirtschaftliches Wachstum, das sich aber nur einstellen
könne, wenn der Staat sich einer Regulierung des Wirtschaftsgeschehens enthalte.
Auch wenn Reagan u.a. wegen der demokratischen Mehrheit im Repräsentantenhaus seine Ideen bei weitem nicht umsetzen konnte947, ist in der Rückschau jedenfalls festzuhalten, dass es zu einer deutlichen Abkehr von den progressiven sozialstaatlichen Impulsen unter Roosevelt und Johnson gekommen ist. Dieser Politikwechsel bestimmt bis heute das Sozialsystem der Vereinigten Staaten.
cc) Clinton und „ending welfare as we know it“948
Die Wahl des Demokraten Bill Clintons ins Präsidentenamt (1993-2001) hätte einen
Wechsel hin zu einem aktiveren sozialpolitischen Engagement im Sinne der demokratischen Tradition erwarten lassen. Dazu kam es jedoch nicht. Zum einen scheiterte Clinton politisch mit seinen zweifellos progressiven Ideen zur Ausweitung der
Sozialversicherung auf eine allgemeine Krankenversicherung949. Zum anderen erwiesen sich die unter ihm verwirklichten Reformen in der Sozialhilfe als überwiegend konservativ, was auch mit der republikanischen Kongressmehrheit seit dem
Jahr 1994 zusammenhing950. Clinton unterzeichnete im Jahr 1996 ein Gesetz951, was
945 Oben S. 209 f.
946 Zum folgenden Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 272 ff.; Murswiek, Sozialpolitik, 1988, S. 142 ff.
947 Schild, a.a.O., 2003, S. 276.
948 Gebetsmühlenhaft wiederholtes Motto Clintons im Wahlkampf und in seiner ersten Amtszeit,
s. nur DeParle, From Pledge to Plan, N.Y. Times, v. 15.7.1994, S. A1, fortgesetzt A10.
949 Umfassende Analyse Skocpol, Boomerang, 1996; Thomas, 7 Stan. L. & Pol'y Rev. (Winter
1995/96), 83 ff.
950 Finegold, in: Obinger/Leibfried/Castles, Federalism and the Welfare State, 2005, S. 138, 174.
951 Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act of 1996 (PRWORA) v.
22.08.1996, Public Law 104-193.
218
das unter Roosevelt begründete Sozialhilfeprogramm AFDC beendete und an dessen
Stelle die Temporary Assistance to Needy Families (TANF) setzte. Jenes Programm
hatte bedürftigen Familien einen zeitlich unbegrenzten Anspruch auf Hilfen gewährt; zudem waren die Bundesmittel als matching grant vergeben worden, was den
Gliedstaaten unabhängig von ihren aufgewendeten Kosten einen gleichbleibenden
Anteil (bis zu 78%) an Bundeserstattung garantiert hatte952. In seiner konkreten
Ausgestaltung hatte das AFDC also Bedürftigen ein individuelles, gleichmäßig
durchsetzbares Recht auf staatliche Sozialhilfe gegeben. Das neue TANF-Programm
hingegen setzt klare zeitliche Limits für den Bezug von Sozialhilfe und wird mittels
eines in der Höhe begrenzten block grant vom Bund kofinanziert, was den Gliedstaaten einerseits mehr Spielraum in der konkreten Programmgestaltung und verwaltung gibt, andererseits jedoch einen Anreiz zur Ausgabensenkung bedeutet953.
Inhaltlich verschärft TANF die Vorgaben für den Sozialhilfebezug, indem gerade
die ursprünglich unter Roosevelt als besonders förderungswürdig geltenden alleinerziehenden Mütter jetzt mit den schärfsten Restriktionen bedacht werden. Hierin
kommt die konservative Überzeugung zum Tragen, dass der Staat durch die Vergabe
von Sozialhilfe nicht die Entstehung von zerrütteten Familienstrukturen fördern darf
– uneheliche Geburten sollen nicht vom Wohlfahrtsstaat belohnt werden954. TANF
verfolgt expressis verbis die Abschaffung einer auf individuellen Rechten basierenden Sozialhilfe955.
Die neuerdings bestehende zeitliche Begrenzung der Sozialhilfe (i.d.R. fünf Jahre) wird dadurch flankiert, dass der Bund durch eine negative Einkommenssteuer
geringverdienende Beschäftigte besonders fördert. Dieser Earned Income Tax Credit
(EITC) besteht der Sache nach seit Mitte der 1970er Jahre und wurde unter Clinton
deutlich erhöht956. Bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe verzichtet der Staat
nicht nur darauf, Einkommenssteuer zu erheben, sondern schießt jährlich eine bestimmte Summe dazu. Die Höhe der Summe richtet sich nach der Höhe des Einkommens, wobei Familien mit Kindern einen deutlichen Bonus erhalten. Ab einem
bestimmten Jahreseinkommen bleibt der EITC zunächst gleich hoch, um dann allmählich wieder abzusinken, bis er bei einem Einkommen entfällt, das in etwa dem
952 Zum Ganzen Sawicky, in: ders., End of Welfare, 1999, S. 3, 16; Murswiek, Sozialpolitik,
1988, S. 102 ff.
953 Deacon, Perspectives, 2002, S. 95; Finegold, in: Obinger/Leibfried/Castles, Federalism and
the Welfare State, 2005, S. 138, 173.
954 Dies kommt klar in Sec. 401(a) PRWORA zum Ausdruck: „The purpose of this part is to
increase the flexibility of States in operating a program designed to ... (3) prevent and reduce
the incidence of out-of-wedlock pregnancies and establish annual numerical goals for preventing and reducing the incidence of these pregnancies; and (4) encourage the formation
and maintenance of two-parent families.”; ferner Deacon, Perspectives, 2002, S. 95 f.;
kritisch Prätorius, USA, 1997, S. 228 ff.
955 Sec. 401(b) PRWORA: „No individual entitlement – This part shall not be interpreted to
entitle any individual or family to assistance under any State program funded under this
part.”
956 Zum Folgenden Finegold, in: Obinger/Leibfried/Castles, Federalism and the Welfare State,
2005, S. 138, 155 f.; Schild, Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat, 2003, S. 355 ff.
219
durchschnittlichen Verdienst der unteren Mittelklasse entspricht. Die unter Clinton
begonnene neue Wohlfahrtspolitik der USA setzt also massiv darauf, den Niedriglohnsektor durch das Steuersystem zu subventionieren und gleichzeitig den Druck
auf Sozialhilfeempfänger zu steigern, eine Arbeit aufzunehmen. Aus rechtsvergleichender Sicht besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass die USA mit der Ersetzung von AFDC durch TANF zu einer Sozialhilfepraxis zurückgekehrt sind, die
ausdrücklich nicht auf individuellen Rechten gegründet ist. Dies zeigt zum einen,
wie schwach verankert das Institut Sozialhilfe im allgemeinen politischen und rechtlichen Bewusstsein der USA ist. Zum anderen relativiert der Blick auf die Politik der
Vereinigten Staaten die jüngsten Reformen in Deutschland, wo der Rechtsanspruch
eines jeden Bedürftigen auf soziale Unterstützung vom Staat dem Grunde nach zu
keinem Zeitpunkt in Frage gestellt worden ist.
dd) George W. Bush und Social Security
Das große sozialpolitische Thema unter George W. Bush war die – vorerst gescheiterte – Teilprivatisierung der Rentenversicherung957. Die Bush-Regierung wollte die
Finanzierung der Renten im Umlageverfahren einschränken und Versicherten die
Option anbieten, Beiträge teilweise in private Rentenkonten zu investieren. Damit
sollte zwar die auch in den USA aufgrund des demographischen Wandels zu erwartende Finanzierungslücke im Rentenversicherungssystem geschlossen werden; allerdings hätte eine solche Reform auch ein deutliches Abrücken von der staatlichen
Finanzierungsgarantie für ein Basiseinkommen im Alter bedeutet958. Da Social Security das einzig nachhaltig etablierte und die Mehrheit der Bevölkerung umfassende staatliche Sozialprogramm in den USA ist, wöge ein solcher Politikwechsel hin
zu mehr Marktabhängigkeit und individueller Risikotragung natürlich relativ
schwer959.
d) Zusammenfassung
Der Sozialpolitik auf Bundesebene kann zwar kein fehlendes Interesse an der Herstellung sozialer Gerechtigkeit vorgeworfen werden, wie die zwar oftmals ideologisch inspirierten, aber doch auch immer wieder auf pragmatische Notwendigkeiten
reagierenden Sozialprogramme zeigen. Allerdings zieht sich eine durchgehende,
957 Aus den vielfältigen Berichten der deutschen Presse nur „Die wirtschaftspolitische Agenda
von Bush gerät ins Wanken“, FAZ v. 21.6.2005.
958 Ausführlich zu den Risiken dieses Modells Burke, 92 Cornell L. Rev. (2007), 297 ff.;
Hennessey, 11 Conn. Ins. L.J. (2004/2005), 433 ff.; pessimistisch zur Zukunft der Social
Security als letztem rechtebasierten Sozialleistungsprogramm Pierce, 96 Colum. L. Rev.
(1996), 1973, 1991 f.
959 Zu dieser Einschätzung vgl. Achenbaum, 7 Marq. Elder’s Advisor (2005), 93, 116.
220
grundsätzliche und tief verwurzelte Staatsskepsis durch die meisten Bereiche der
Sozialpolitik, so dass weniger kontinuierliche Entwicklung als ein stetiges Auf und
Ab – mit Betonung auf Ab – bundesstaatlicher sozialpolitischer Intervention zu
beobachten ist. Die einzige kontinuierliche Entwicklung ist auf dem Gebiet des
Sozialversicherungsrechts zu verzeichnen und hier vor allem bei der Rentenversicherung und der damit zusammenhängenden Krankenversicherung Medicare für
Bezieher von Leistungen der Social Security. Deutlich weniger verankert ist hingegen ein auf individuellen Rechten basierendes Verständnis von Sozialhilfe als existenzielle Grundsicherung des Staates an jeden seiner Bürger, wie insbesondere die
unter Clinton initiierte Gesetzgebung zeigt. Das individualistisch-puritanische Erbe
hat hier tiefe Spuren hinterlassen960.
3. Schlussbetrachtung: Staat als sozialpolitischer Garant in Deutschland gegen
Staatsskepsis in den USA
Die Untersuchung der unterschiedlichen Entwicklung des Wohlfahrtsstaats in den
USA und in Deutschland lässt sich also mit folgendem Ergebnis auf den Punkt bringen: In den USA muss der (Zentral-)Staat bei seiner Sozialpolitik als Grundbedingungen zum einen den Primat der größtmöglichen Wahrung individueller Freiheiten
beachten und zum zweiten die dauerhaft größtmögliche Zurückhaltung materieller
Politikvorgaben gegenüber den Gliedstaaten praktizieren. Ausnahmen sind allein für
beitragsfinanzierte Sozialleistungen möglich. In Deutschland hingegen gilt der Staat
seit dem 19. und 20. Jahrhundert als Garant für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und die Erfüllung existenzieller Bedürfnisse seiner Bürger961.
III. Sozialstaat und Verfassung
Aus dem Text einer Verfassung lassen sich keine gesicherten Rückschlüsse auf das
Maß an Sozialstaatlichkeit in einem Land ziehen962. Daher ist der Analyse des Verfassungstextes die Darstellung der unterschiedlichen Traditionen des Wohlfahrtsstaats in Deutschland und den USA vorangestellt worden. Allerdings findet sich
beim Vergleichspaar dieser Untersuchung eine Entsprechung des tatsächlich vorhandenen Maßes an Wohlfahrtsstaatlichkeit und der Verankerung sozialer Verantwortung des Staates in der jeweiligen Verfassung. Während in Deutschland vor
960 Vgl. auch Prätorius, USA, 1997, S. 201: „Sie (die nicht arbeitenden Wohlfahrtsempfänger,
Verfasserin) befolgen nicht die dominante Arbeitsethik und sie gehen nicht auf unabhängige
Distanz zum Staat.“
961 Pointiert Roller, in: Gerhards, Vermessung kultureller Unterschiede, 2000, S. 89, 107: „für
soziale Gerechtigkeit, aber so wenig wie möglich Staat“ (USA), „soziale Gerechtigkeit in
erster Linie oder ausschließlich durch den Staat“ (Deutschland).
962 Gröschner, in: Dreier, GG-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 14.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Untersuchung geht der Frage nach, wie sich gleichheitsrechtlich geprägtes, modernes Antidiskriminierungsrecht für Menschen mit Behinderung und das traditionell sozialrechtlich geprägte Recht der beruflichen Rehabilitation zueinander verhalten. Als Vorbild eines speziellen antidiskriminierungsrechtlichen Regulierungsmodells zur verbesserten beruflichen Integration von Behinderten werden immer wieder die USA genannt, wo man seit den 1970er Jahren Erfahrungen mit diesem Ansatz sammeln konnte.
Eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Grundannahmen des U.S.-amerikanischen Sozialsystems macht jedoch deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht dort häufig nur als Lückenbüßer dient.
Dieser Befund kann nicht ohne Konsequenz für das sozialstaatlich beeinflusste deutsche Rechtssystem sein. Zwar liefert der Rechtsvergleich mit den USA wichtige Anhaltspunkte für ein vertieftes Verständnis der europäischen antidiskriminierungsrechtlichen Vorgaben insbesondere für das Merkmal Behinderung. Allerdings werden auch die Grenzen dieses Ansatzes gegenüber der klassischen beruflichen Rehabilitation deutlich.
Die Arbeit wurde mit dem Zarnekow-Förderpreis 2009 ausgezeichnet.