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5. Teil. Neukoordinierung der Gläubigerbeteiligung
- Änderungsvorschläge de lege ferenda
In den vorhergehenden Teilen wurde herausgearbeitet, in welchen Fällen eine Korrektur der deutschen Regelungen ratsam erscheint (2. Teil) und welche Regelungen
des italienischen Rechts in das deutsche Recht grundsätzlich übertragbar erscheinen
(4. Teil.II.). Im Folgenden sollen die gewonnen Erkenntnisse zu konkreteren Änderungsvorschlägen de lege ferenda herangezogen werden.
Die folgenden Vorschläge sind insoweit voneinander unabhängig als sie sich auch
jeweils eigenständig umsetzen lassen. Da sie nur am Rande Berührungspunkte aufweisen, lassen sie sich aber auch unproblematisch in ihrer Gesamtheit umsetzen.
A. Beseitigung von Wertungswidersprüchen
Bei der Darstellung der Beteiligungsrechte von Gläubigern im deutschen Regelinsolvenzverfahren fiel auf, dass die bestehenden Regelungen der Beteiligung der absonderungsberechtigten Gläubiger kein kohärentes System bilden. Zum einen bestehen Wertungswidersprüche zwischen den Regelungen der §§ 71, 76 und 78 InsO.
Zum anderen werden die Interessen der absonderungsberechtigten Gläubiger durch
die Zuweisung von Stimmrechten einerseits und die Regelungen in den §§ 169, 172
InsO in den Entscheidungsprozessen der Gläubiger doppelt berücksichtigt. Die Beseitigung dieser Wertungswidersprüche und die Doppelberücksichtigung der Interessen der absonderungsberechtigten Gläubiger lassen sich auf zwei unterschiedliche
Weisen bewerkstelligen.
Die erste Alternative besteht darin, die Regelungen der §§ 169, 172 InsO zu streichen und die Regelungen zu den Stimmrechten der absonderungsberechtigten Gläubiger beizubehalten. Sie müssen dann aber gleichzeitig – soweit die Gläubigerbeteiligung nicht grundsätzlich neugeordnet wird –1308 in den Schutzbereich des
§ 78 InsO einbezogen werden.
Die zweite Alternative besteht darin, die Stimmrechte der absonderungsberechtigten Gläubiger auf den Betrag der Forderung zu beschränken, für den sie voraussichtlich keine Befriedigung aufgrund ihrer Sicherheiten erlangen. Um tatsächlich alle
Interessen der absonderungsberechtigten Gläubiger in dem Entscheidungsprozess
des Regelinsolvenzverfahrens zu internalisieren, muss der Schutzbereich der §§ 169,
172 InsO gegebenfalls erweitert werden. Denn §§ 169, 172 InsO tragen nicht jedem
Interesse der absonderungsberechtigten Gläubiger Rechnung.1309 Es ist allerdings zu
1308 Siehe dazu unten S. 252 ff.
1309 Siehe oben S. 60 ff.
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beachten, dass eine pauschalisierte Abgeltung von Interessen (etwa in Gestalt eines
fixen Prozentsatzes, mit dem die Forderung verzinst wird) auch deswegen ratsam
sein kann, weil die Berücksichtigung einer Vielzahl von Einzelinteressen hohe Kosten verursachen kann.
Die zweite Alternative erscheint vorzugswürdig. Denn durch die Beseitigung der
Regelungen in §§ 169, 172 InsO, die die erste Alternative vorsieht, würde der Interessengegensatz zwischen den ungesicherten und den gesicherten Gläubigern verschärft. Die Folge wäre, dass sich in den Fällen, in denen eine große Stimmmacht
der absonderungsberechtigten Gläubiger besteht, die Gefahr einer in manchen Fällen
suboptimalen Zerschlagung vergrößern würde. In allen Fällen, in denen umgekehrt
eine solche Stimmmacht nicht besteht, würden Sicherungsrechte weitgehend entwertet werden.
B. Modell einer gestuften Gläubigerbeteiligung
Das deutsche Recht bietet in seiner heutigen Fassung einen flexiblen Rahmen, in
dem der Entscheidungsträger je nach Beteiligung und Gestaltung der Gläubiger
wechselt. So entscheidet allein der Insolvenzverwalter, wenn sich die Gläubiger überhaupt nicht beteiligen. Bei einer geringen bis mittleren Gläubigerbeteiligung treffen die jeweils in der Versammlung anwesenden Gläubiger die wesentlichen Entscheidungen. Bei großen Verfahren wird diese Entscheidungskompetenz teilweise
auf den Ausschuss verlagert. Insbesondere die Fälle der geringen bis mittleren Gläubigerbeteiligung bergen die Gefahr, dass die anwesenden Gläubiger den Einfluss,
den ihnen die Insolvenzordnung einräumt, dazu nutzen, in dem Verfahren ihre Sonderinteressen auf Kosten der ausbleibenden Gläubiger durchzusetzen. Durch die
Entscheidung von Gläubigern, die nur zum Teil die Auswirkungen ihrer Entscheidung zu tragen haben, entstehen externe Effekte.1310 § 78 InsO stellt (selbst wenn
man für den Insolvenzverwalter durch eine Haftung einen Anreiz schafft, einen
Aufhebungsantrag nach § 78 InsO zum Schutz von nicht erschienen Minderheiten
zu stellen) für dieses Problem keine adäquate Lösung dar. Denn diese Vorschrift
greift (ebenso wie die Haftung des Insolvenzverwalters als Anreiz, den Aufhebungsantrag zu stellen) überhaupt nur in den Fällen, in denen die Nachteilhaftigkeit einer
Entscheidung quantifizierbar ist.1311 Daher gilt es, ein System zu finden, das einerseits die beschriebenen Externalitäten vermeidet und ein adäquates Kontrollinstrumentarium zum Schutz der nicht anwesenden Gläubiger bietet. Andererseits müssen
aber die Kosten von Beteiligungen und Kontrolle in einem angemessenen Verhältnis
zu der jeweiligen Masse stehen. Diesen Erwägungen könnte ein gestuftes System
der Gläubigerbeteiligung Rechnung tragen – wie es in Ansätzen bereits aus der Diskussion um die Gläubigerbeteiligung bei masseunzulänglichen Verfahren bekannt
1310 Siehe dazu bereits oben S. 233.
1311 Siehe dazu oben S. 238 ff.
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References
Zusammenfassung
Die umfassende Gläubigerbeteiligung hat eine lange Tradition im deutschen Insolvenzrecht. In der Praxis beteiligen sich die Gläubiger jedoch häufig nicht. Dieser Umstand und unausgewogene Entscheidungen der Gläubiger können das Verfahrensziel, die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger, gefährden. Die Untersuchung vergleicht die Gläubigerbeteiligung nach der deutschen Insolvenzordnung mit der durch das decreto legislativo 9 gennaio 2006, n. 5 und das decreto legislativo 12 Settembre 2007, n. 169 reformierten legge fallimentare. Die Arbeit erörtert umfassend aktuelle juristische Fragen. Der rechtsvergleichende Teil bezieht Ansätze der ökonomischen Analyse des Rechts und der Verhaltensökonomik ein, um konkrete Änderungsvorschläge zu erarbeiten.