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2. Ungeschriebene Kompetenzen?
Über die sich aus dem Gesetz ergebenden Kompetenzen hinaus hat der Gläubigerausschuss keine weiteren Rechte.465 Insbesondere hat er über die in § 160 InsO geregelten Fälle keinen Einfluss auf die Geschäftsführung des Insolvenzverwalters466
und er hat auch gegenüber dem Verwalter keine Weisungskompetenz.467
IV. Verfahren und Beschlussfassung, 72 InsO
Das Verfahren (dazu 1.), die Beschlussfähigkeit (dazu 2.) und die Beschlussfassung
(dazu 3.) sind nur teilweise in § 72 InsO geregelt.
1. Verfahren
Der Ausschuss kann sich aber selbst organisieren und sich insbesondere eine Geschäftsordnung geben.468 Dahinter stand ursprünglich der Gedanke, dass die Mitglieder des Ausschusses frei sein sollten, die eigenen internen Regelungen zu gestalten, diese aber auch nicht die Unwirksamkeit eines Beschlusses zur Folge haben
sollten.469 Die Vorstellung, dass Verstöße gegen das Binnenrecht keine Unwirksamkeit zur Folge haben, hat sich, wie noch zu zeigen sein wird, gewandelt. Folgt man
dieser gewandelten Auffassung, erlangen auch die Regelungen der Geschäftsordnung einen anderen Stellenwert.
In der Geschäftsordnung können etwa die Wahl des Vorsitzenden, die Einladungen zu den Sitzungen und die Form der Beschlussfassung geregelt werden.470 Ob
465 A.A.: Oelrichs, Gläubigermitwirkung und Stimmverbote, S. 70.
466 BT-Drucks. 12/2443, S. 174: „Soweit Rechtshandlungen von besonderer Bedeutung nicht
vorgenommen werden, hat der Gläubigerausschuss keinen Einfluss auf die Geschäftsführung
durch den Verwalter.“.
467 Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl, Insolvenzordnung, § 69 RN 11; Blersch, in: Breutigam/Blersch/Goetsch, Insolvenzrecht, § 69 RN 3; Delhaes, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.),
Insolvenzordnung, § 68 RN 1; Frind, in: Schmidt (Hrsg.), Hamburger Kommentar-InsO, § 69
RN 2; Kind, in: Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 69 RN 4; Gundlach/Frenzel/Jahn, ZInsO 2007, 1028 (1029); Vallender, WM 2002, 2040 (2046).
468 Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl, Insolvenzordnung, § 69 RN 4; Gundlach/Frenzel/Schmidt,
NZI 2005, 304 (305); Hess, in: Hess/Weis/Wienberg, Insolvenzrecht, § 72 RN 1; Kind, in:
Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 72 RN 2; Schmid-Burgk, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 72 RN 5; Pape, Gläubigerbeteiligung,
RN 328; Uhlenbruck, ZIP 2002, 1373 (1375); Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.), Insolvenzverwaltung, § 21 RN 330.
469 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 286.
470 Einzelheiten bei Gundlach/Frenzel/Schmidt, NZI 2005, 304 ( 305 ff.); Uhlenbruck, ZIP 2002,
1373 (1375); Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.), Insolvenzverwaltung, § 21 RN 330; Vallender, WM 2002, 2040 (2044).
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darin auch festgelegt werden kann, dass der Insolvenzverwalter den Ausschuss einberufen kann, ist streitig,471 sollte aber mit Rücksicht auf die Belange der Praxis bejaht werden.472 Beschlussfassungen sind im Umlaufverfahren473 oder per Telefonoder Videokonferenz möglich.474 Durch die Geschäftsordnung können aber nicht die
Bestimmungen des § 72 InsO geändert werden.475
2. Beschlussfähigkeit
Aus § 72 InsO lässt sich schließen, dass der Gläubigerausschuss beschlussfähig ist,
wenn die Mehrheit seiner Mitglieder an der Beschlussfassung teilnimmt.
Nicht ganz geklärt ist, wann die Beschlussfähigkeit vorliegt, wenn Mitglieder des
Gläubigerausschusses befangen sind. Zählen auch befangene Mitglieder bei der Berechnung der nach § 72 InsO erforderlichen Mehrheit mit (Bsp.: Bei einem Ausschuss von fünf Mitgliedern ist dieser auch dann beschlussfähig, wenn zwei abwesend und zwei befangen sind)?476 Oder zählen die befangenen Mitglieder nicht zu
der Mehrheit im Sinne des § 72 InsO?477 Dann muss man sich die weitere Frage stellen, ob man die Mehrheit anhand der tatsächlichen Anzahl der Mitglieder des Ausschusses berechnet oder ob man die befangenen Mitglieder von der tatsächlichen
Höchstzahl herausrechnet478 (Bsp.: Sind bei einem fünfköpfigen Ausschuss zwei
Mitglieder befangen und tatsächlich anwesend nur ein befangenes und zwei unbe-
471 Dafür Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.), Insolvenzverwaltung, § 21
RN 331; dagegen Uhlenbruck, ZIP 2002, 1373 (1375) m.w.N. zur Gegenansicht; differenzierend Gundlach/Frenzel/Schmidt, NZI 2005, 304 (306).
472 In der Praxis sieht es häufig auch so aus, dass der Insolvenzverwalter die Organisation der
Ausschusssitzungen übernimmt, Kind, in: Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 69
RN 6.
473 Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, § 72 RN 3; bei Entscheidungen im Umlaufverfahren müssen selbstverständlich alle Mitglieder, nicht allein die Mehrheit des Ausschusses befragt werden, Kübler, in: Kübler/Prütting (Hrsg.), InsO, § 72 RN 4.
474 Andres, in: Andres/Leithaus/Dahl, Insolvenzordnung, § 72 RN 1; Delhaes, in: Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 72 RN 4; Frind, in: Schmidt (Hrsg.), Hamburger Kommentar-InsO, § 73 RN 6; Kübler, in: Kübler/Prütting (Hrsg.), InsO, § 72 RN 3; Pape,
Gläubigerbeteiligung, RN 328; vgl. Vallender, WM 2002, 2040 (2044); a.A.: Kind, in:
Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 72 RN 8.
475 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 286; Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der
Gläubigerautonomie, S. 106; Kübler, in: Kübler/Prütting (Hrsg.), InsO, § 72 RN 6; vgl. auch
Uhlenbruck, ZIP 2002, 1373 (1375 f.); Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr
(Hrsg.), Insolvenzverwaltung, § 21 RN 331 und 333.
476 Dafür Schmid-Burgk, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 72 RN
21.
477 So etwa Blersch, in: Breutigam/Blersch/Goetsch, Insolvenzrecht, § 72 RN 4; Delhaes, in:
Nerlich/Römermann (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 72 RN 2; Frind, in: Schmidt (Hrsg.), Hamburger Kommentar-InsO, § 72 RN 2.
478 In letzterem Sinne Frind, in: Schmidt (Hrsg.), Hamburger Kommentar-InsO, § 72 RN 2.
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fangene Mitglieder, so stellt sich die Frage, ob die Mehrheit von fünf oder die
Mehrheit von drei Mitgliedern für die Beschlussfähigkeit erforderlich ist).
Für eine Berücksichtigung der von der Abstimmung ausgeschlossenen Mitglieder
kann man nicht die Fassung des § 72 InsO abstellen,479 da die Insolvenzordnung überhaupt nicht zu Stimmverboten Stellung nimmt. Sinn des § 72 InsO ist es, Beschlüsse des Gläubigerausschusses auf eine breitere Stimmengrundlage zu stellen.
Die Auffassung, auch befangene Mitglieder zählten zu dem Quorum im Sinne des §
72 InsO, wird diesem Zweck nicht gerecht.
Für die sich daran anschließende Frage, ob die befangenen Mitglieder aus der für
das Quorum zu berechnenden Höchstzahl herausgerechnet werden sollen, muss man
abwägen, ob es eher im Sinne der Gläubiger ist, einen Beschluss mit einer geringeren Mehrheit fassen zu können oder ob die Höchstzahl im Interesse aller repräsentierten Gläubiger aufrechterhalten bleiben soll. Gegen die erste Auffassung spricht,
dass das Verfahren durch die umfassende Kompetenz des Insolvenzverwalters nicht
zum Erliegen kommt. Außerdem spricht gegen diese Auffassung, dass mit der Herausrechnung von befangenen Mitgliedern aus der Höchstzahl von Mitgliedern ein
weiterer Unsicherheitsfaktor ins Spiel kommt. Eine völlige Immobilität des Ausschusses können die Gläubiger außerdem durch die Bestellung von Ersatzmitgliedern vermeiden.
3. Beschlussfassung, § 72 InsO
Ein Beschluss ist nach § 72 InsO gefasst, wenn die Mehrheit der abgegebenen
Stimmen für ihn gestimmt hat. Dabei kommt es auf die Kopfmehrheiten an.480 Haben also von fünf Mitgliedern drei an der Beschlussfassung teilgenommen und
stimmen zwei für den Beschluss, so ist der Beschluss wirksam zustandegekommen.481 Die Regelung, dass es auf die Kopfmehrheit ankommt, dient – anders als
dies teilweise behauptet wird –482 nicht dazu, einer Majorisierung der Großgläubiger
vorzubeugen. Selbst wenn die Gläubiger Vertreter bestimmter Gläubiger oder Gruppen wären und selbst wenn der Ausschuss repräsentativ besetzt wäre, würden mit
den Kopfmehrheiten nur (wenn auch in vergröberter Form) die Stimmverhältnisse
der Gläubigerversammlung widergespiegelt. Entsprechend findet sich zu einer sol-
479 So aber Schmid-Burgk, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 72
RN 20.
480 Kind, in: Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 72 RN 10; Schmid-Burgk, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 72 RN 17 ff.; Pape, Gläubigerbeteiligung, RN 328; Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.), Insolvenzverwaltung, § 21 RN 333; Vallender, WM 2002, 2040 (2044).
481 Vgl. Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, § 72 RN 7.
482 Blersch, in: Breutigam/Blersch/Goetsch, Insolvenzrecht, § 72 RN 5; Frind, in: Schmidt
(Hrsg.), Hamburger Kommentar-InsO, § 72 RN 1; Hess, in: Hess/Weis/Wienberg, Insolvenzrecht, § 72 RN 1; Keller, Insolvenzrecht, RN 485; Uhlenbruck, InsO, § 72 RN 5; ähnlich
Kind, in: Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 72 RN 10.
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chen These in der Gesetzesbegründung auch nichts.483 Das Erfordernis einer Kopfmehrheit ist allein die notwendige Konsequenz der Gesetzeskonzeption, nach der die
Mitglieder Vertreter aller Gläubiger sind.484
Bei Stimmengleichheit gilt ein Antrag als abgelehnt.485
V. Rechtsfehlerhafte Beschlüsse
Das Gesetz enthält keine Regelung über die Unwirksamkeit von Beschlüssen.
1. Verfahrensmängel
Ungeklärt ist, welche Folge Verfahrensmängel haben. Lässt man die These außen
vor, dass die Anfechtungsregeln in Analogie zu den Regeln über die Fehlerhaftigkeit
einer Entscheidung der Hauptversammlung auf rechtsfehlerhafte Beschlüsse Anwendung finden,486 wegen der Andersartigkeit des entscheidenden Gremiums und
der damit verbundenen verschiedenartigen Qualität der in Rede stehenden Entscheidungen und ihrer potentiellen Wirkung, stehen sich im Wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber. Der Gesetzgeber der Konkursordnung ging davon aus, dass Verstöße gegen die von dem Ausschuss selbst aufgestellte Geschäftsordnung unbeachtlich seien und nur ein Verstoß gegen § 72 InsO Einfluss auf die Wirksamkeit haben
könne.487 Dies scheint auch der Auffassung des Gesetzgebers der Insolvenzordnung
zu entsprechen488 und wird daher auch noch heute vertreten.489 Demgegenüber sieht
die herrschende Auffassung einen Beschluss als unwirksam an, wenn er unter Verletzung der Normen zustande gekommen ist, die einer recht- und ordnungsgemäßen
Willensbildung dienen.490 Formfehler sollen aber durch einen einstimmigen Be-
483 Vgl. Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 283 ff.; BT-Drucks. 12/2443, S. 132; BT-Drucks.
12/7302, S. 163.
484 Siehe dazu oben S. 88 ff.
485 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 286; Kübler, in: Kübler/Prütting (Hrsg.), InsO, § 72
RN 5.
486 So insbesondere Kind, in: Braun/Bauch (Hrsg.), Insolvenzordnung, § 72 RN 14; Kind, in:
Wimmer (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, § 72 RN 14 ff.
487 Hahn, Materialien Konkursordnung, S. 286.
488 BT-Drucks. 12/2443, S. 132.
489 Oelrichs, Gläubigermitwirkung und Stimmverbote, S. 90 f.; Uhlenbruck, InsO, § 72 RN 2.
490 Vgl. Blersch, in: Breutigam/Blersch/Goetsch, Insolvenzrecht, § 72 RN 8; Eickmann, in:
Eickmann et al. (Hrsg.), HK-InsO, § 73 RN 5; Frind, in: Schmidt (Hrsg.), Hamburger Kommentar-InsO, § 72 RN 6; Gerhardt, in: Henckel/Gerhardt (Hrsg.), Jaeger Insolvenzordnung, §
72 RN 12; Heukamp, Verfahrensrechtliche Aspekte der Gläubigerautonomie, S. 305;
Schmid-Burgk, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner (Hrsg.), MünchKomm-InsO, § 72 RN 5; Pape,
Gläubigerbeteiligung, RN 328; Voigt-Salus/Pape, in: Mohrbutter/Ringstmeier/Bähr (Hrsg.),
Insolvenzverwaltung, § 21 RN 336; vgl. auch Gundlach/Frenzel/Schmidt, NZI 2005, 304
(307 f.); Runkel, in: Runkel (Hrsg.), Anwalts-Handbuch Insolvenzrecht, § 6 RN 237.
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References
Zusammenfassung
Die umfassende Gläubigerbeteiligung hat eine lange Tradition im deutschen Insolvenzrecht. In der Praxis beteiligen sich die Gläubiger jedoch häufig nicht. Dieser Umstand und unausgewogene Entscheidungen der Gläubiger können das Verfahrensziel, die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger, gefährden. Die Untersuchung vergleicht die Gläubigerbeteiligung nach der deutschen Insolvenzordnung mit der durch das decreto legislativo 9 gennaio 2006, n. 5 und das decreto legislativo 12 Settembre 2007, n. 169 reformierten legge fallimentare. Die Arbeit erörtert umfassend aktuelle juristische Fragen. Der rechtsvergleichende Teil bezieht Ansätze der ökonomischen Analyse des Rechts und der Verhaltensökonomik ein, um konkrete Änderungsvorschläge zu erarbeiten.