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I. Codice di Commercio von 1865
Der 1865 erlassene, für das gesamte Italien geltende Codice di Commercio, der auch
das Konkursrecht regelte, kannte kein von den Gläubigern gebildetes, dem Gläubigerausschuss ähnliches Gremium, das die Konkursverwaltung eines neutralen Dritten überwachte.599 Die Konkursmasse wurde, ähnlich dem französischen Recht,
stattdessen von zwei bis drei „sindaci“ verwaltet, die unter den Gläubigern ausgewählt und von einem beauftragten Richter überwacht wurden.600
Der Codice di Commercio von 1865 stieß aber insbesondere in den venezianischen Provinzen, in denen bis zu ihrer Annexion im Jahr 1866 die modernen deutschen Kodifikationen (insbesondere das ADHGB) gegolten hatten, auf Widerstand.601 Der Gesetzgeber des Jahres 1882 befand selbst, dass das auf den sindaci
basierende System mit Mängeln behaftet war. So sei es nicht selten zu Konfrontationen unter den verschiedenen sindaci und sogar häufig zu einer Kollision mit den
Interessen der Gläubigerschaft, die die sindaci repräsentierten, gekommen.602 Auch
sei es weder den anderen Gläubigern noch dem beauftragten Richter möglich gewesen, effizient die Verwaltung der Masse zu überwachen.603
II. Codice di Commercio von 1882
Daraufhin wurde der Codice di Commercio überarbeitet und im Jahr 1882, also in
einer Zeit, in der sich die Wirtschaftspolitik insgesamt an der von Deutschland zu
orientieren begann,604 unter Berücksichtigung der deutschen Regelungen (insbesondere der 1877 eingeführten Konkursordnung) neu erlassen.605 Zu den Neuerungen
gehörte nicht nur die Einsetzung eines neutralen Dritten (des sogenannten „curatore“), der die Masse verwaltete.606 Vielmehr übernahm man auch aus dem deutschen
Recht die Institution eines Gläubigerausschusses, der delegazione dei creditori.607 In
Abweichung vom deutschen Recht sollte der Insolvenzverwalter unter der Leitung
eines beauftragten Richters stehen, der aber (von Ausnahmefällen abgesehen) nicht
599 Brunetti, Diritto fallimentare, S. 223.
600 Regno d'Italia, Lavori preparatorii, II.1, S. 301; vgl. auch Calamandrei, Del fallimento, S. 2 f.
601 Ranieri, in: Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen
Privatrechtsgeschichte III/3, S. 3234.
602 Regno d'Italia, Lavori preparatorii, II.1, S. 301; vgl. auch Calamandrei, Del fallimento, S. 195
f.
603 Regno d'Italia, Lavori preparatorii, II.1, S. 301.
604 Procacci, Geschichte Italiens und der Italiener, S. 296.
605 Vgl. Kindler, Einführung in das italienische Recht, S. 108 f.; zu dem Codice di Commercio
von 1882 allgemein Ranieri, in: Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte III/3, S. 3234.
606 Regno d'Italia, Lavori preparatorii, II.1, S. 301; Calamandrei, Del fallimento, S. 196; vgl.
auch Ranieri, in: Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte III/3, S. 3241.
607 Brunetti, Diritto fallimentare, S. 223; Calamandrei, Del fallimento, S. 223.
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bei der Verwaltung des Ausschusses mitwirken sollte.608 Im Einzelnen sah der Codice di Commercio vor, dass die Gläubigerversammlung mit der Stimmenmehrheit
den durch das Gericht eingesetzten Verwalter durch einen Verwalter ihres Vertrauens ersetzen konnte.609 Ein Beurteilungsspielraum des Gerichts hinsichtlich der Ernennung des Insolvenzverwalters bestand nicht.610 Wie im deutschen Recht konnte
die Versammlung außerdem einen fakultativen Gläubigerausschuss einsetzen611 und
dessen Mitglieder wählen.612 Außerdem konnte sie über die Fortführung des schuldnerischen Unternehmens entscheiden.613 Daneben bestanden umfassende und weitreichende Verwaltungs- und Mitwirkungsbefugnisse des Ausschusses.614 In Bezug
auf den Ausschuss gab es freilich auch einige Unterschiede zum deutschen Recht; so
konnte etwa der Ausschuss nur aus drei oder fünf Mitgliedern bestehen.615
Der Codice di Commercio von 1882 zog aber auch eine Reihe von Schwierigkeiten nach sich. Die Wahlen der Gläubigerversammlung – soweit sie überhaupt stattfanden – empfand man als missbräuchlich,616 da wenige starke Gläubiger die Wahl
maßgeblich beeinflussen konnten. Daher repräsentierte der Gläubigerausschuss in
der Regel nur die Interessen dieser Gläubiger.617 Auch die Mitwirkungsrechte des
Ausschusses wurden bald als störend für den regulären Verlauf des Verfahrens insbesondere in der Phase der Verwertung empfunden.618
III. Das Gesetz vom 10. Juli 1930, Nr. 995
1930, also in dem Jahr, in dem die Weltwirtschaftskrise sich besonders deutlich in
Italien bemerkbar machte,619 kam es (nach Jahren einer liberaleren Wirtschaftspoli-
608 Calamandrei, Del fallimento, S. 233.
609 Art. 719 Codice di Commercio lautete: „Qualora i creditori nell’adunanza di chiusura del
processo verbale di verificazione dei crediti, o successivamente, domandino che al curatore
nominato dal tribunale venga surrogato un curatore di loro fiducia, sebbene non compreso
nel ruolo degli eleggibili od interessato nel fallimento, e la domanda sia appoggiata dalla
maggioranza richiesta per la validità del concordato, la surrogazione dev’essere accordata.”; vgl. dazu auch die Gesetzesbegründung in: Regno d'Italia, Lavori preparatorii, II.1, S.
302.
610 Calamandrei, Del fallimento, S. 719.
611 Vgl. dazu Navarrini, Le nuove disposizioni in materia fallimentare, S. 68: “Tant’è che la pratica ha reso finora [1931] facoltativo l’organo [la delegazione dei creditori]”.
612 Regno d'Italia, Lavori preparatorii, II.1, S. 303; Bozza, Il fallimento 2005, 1051 (1062); vgl.
auch Calamandrei, Del fallimento, S. 222 f.; Proto, Il fallimento, 1001.
613 Brunetti, Diritto fallimentare, S. 229; Bozza, Il fallimento 2005, 1051 (1062).
614 Calamandrei, Del fallimento, S. 225 f.; Schiavon, in Jorio/Fabiani (Hrsg.), Il nuovo diritto
fallimentare, I, S. 668; vgl. im Einzelnen auch Bozza, Il fallimento 2005, 1051 (1062).
615 Vgl. Calamandrei, Del fallimento, S. 223 f.
616 Vgl. dazu Gallesio-Piuma, in: Panzani (Hrsg.), Il fallimento, III, S. 105.
617 Vgl. Caselli, in: Bricola/Galgano/Santini (Hrsg.), Commentario Scialoja-Branca, S. 244 f.
618 Schiavon, Il comitato dei creditori, S. 1; Schiavon, in Jorio/Fabiani (Hrsg.), Il nuovo diritto
fallimentare, I, S. 667.
619 Procacci, Geschichte Italiens und der Italiener, S. 365.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die umfassende Gläubigerbeteiligung hat eine lange Tradition im deutschen Insolvenzrecht. In der Praxis beteiligen sich die Gläubiger jedoch häufig nicht. Dieser Umstand und unausgewogene Entscheidungen der Gläubiger können das Verfahrensziel, die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger, gefährden. Die Untersuchung vergleicht die Gläubigerbeteiligung nach der deutschen Insolvenzordnung mit der durch das decreto legislativo 9 gennaio 2006, n. 5 und das decreto legislativo 12 Settembre 2007, n. 169 reformierten legge fallimentare. Die Arbeit erörtert umfassend aktuelle juristische Fragen. Der rechtsvergleichende Teil bezieht Ansätze der ökonomischen Analyse des Rechts und der Verhaltensökonomik ein, um konkrete Änderungsvorschläge zu erarbeiten.