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Eine Übertragung der durch Identifikationssysteme erfassten Daten kann nicht nur in
die bereits erläuterten ERP- und SCM-Systeme erfolgen sondern auch in eine spezielle Anwendungssoftware für Logistik im Katastrophenmanagement. Soche Anwendungssysteme sind Gegenstand des nachfolgenden Abschnitts.
6.4 Spezielle Software für Logistik und SCM im internationalen Katastrophenmanagement
Nach einem Tsunami in Nicaragua im Jahr 1992 wurde mit SUMA (Humanitarian
Supply Management System) eine spezielle Software für Logistik und SCM im
internationalen Katastrophenmanagement erstmals offiziell eingesetzt. Initiator der
Entwicklung war das Rote Kreuz bzw. die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung IFRC; unterstützt wurde die Entwicklung durch die Pan American
Health Organization sowie die niederländische Regierung. Die Grundidee der Entwicklung bestand darin, das Management der Logistik für medizinische Produkte
und andere Hilfsgüter durch den Einsatz einer Software zu unterstützen. Über mehrere Jahre und Katastropheneinsätze ist der Einsatz von SUMA dokumentiert worden.879 Eine Lagerbestandssoftware (SUMA Inventory Software bzw. Warehouse
Management) bildet während eines Katastropheneinsatzes das Zentrum in der informatorischen Vernetzung der unterschiedlichen Wertschöpfungsketten mehrerer
Hilfsorganisationen und Geldgeber. Insgesamt setzt sich SUMA aus drei Modulen
zusammen, zwischen denen bei Bedarf Daten und Dateien über das Internet ausgetauscht werden können:880
? SUMA Central wird durch das jeweilige Hauptquartier während eines Katastropheneinsatzes eingesetzt. Es dient unter anderem der Koordination zwischen
den unterschiedlichen beteiligten Akteuren. ? Die SUMA Field Units werden vor Ort in den Katastrophengebieten an wichtigen Knotenpunkten eingesetzt und erfassen dort wichtige Informationen zu logistischen Knotenpunkten. Hierzu zählen unter anderem (Flug-) Häfen, Zentralund Regionalläger. Ist der Computereinsatz vor Ort nicht möglich, so werden
zunächst manuelle Formblätter zur Datenerfassung verwendet, die zu einem
späteren Zeitpunkt bzw. an einem anderen Ort verarbeitet werden. ? Über SUMA Warehouse Management werden Informationen über Lagereingänge und Lagerabgänge sowie Bestände unterschiedlicher Standorte erfasst und
ausgewertet. Informationen aus SUMA Central und SUMA Field Units werden
hierbei berücksichtigt und zusammengefasst.
879 Vgl. Tomasini, Rolando M. / Wassenhove, Luk N. van (2003), S. 14-15.
880 Vgl. Tomasini, Rolando M. / Wassenhove, Luk N. van (2003), S. 11.
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„The software enables managers to gather the information from all these chains and get a more
accurate assessment of what needs remain undressed, the amount of the incoming goods and
how they should be managed.“881
Knapp zehn Jahre nach dem ersten offiziellen Einsatz des speziell auf Logistik und
Supply Chain Management zugeschnittenen Systems SUMA initiierte das IFRC mit
der Humanitarian Logistics Software (HLS) eine weitere Entwicklungsstufe, die
gemeinsam mit Programmierern des Fritz Institute umgesetzt wurde.882 Über die
Abbildung der lagerbezogenen Logistikprozesse hinaus sollten in dieser Entwicklungsstufe sämtliche Einkaufs- und Logistikprozesse abgebildet und unterstützt
werden.883 Erste Überlegungen der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, eines der führenden Standard-ERP-Systeme für die Logistik umzusetzen,
wurden mit der Begründung verworfen, dass diese Umsetzung zum einen zu hohe
Kosten verursachen würde und zum anderen die spezifischen logistischen Prozesse
des internationalen Katastrophenmanagements nicht angemessen abgebildet würden.
Aus diesem Grund entschied sich das IFRC zwar für die Umsetzung des Personalwesens innerhalb eines standardisierten ERP-Systems, das Finanzwesen und die
Logistik sollten aber Bestandteil speziell auf die Anforderungen des Katastrophenmanagements zugeschnittener Systeme (CODA für das Finanzwesen und HLS für
die Logistik) sein.884
Die Webbasierte Humanitarian Logistics Software unterstützt die erforderliche Informationsintegration und bildet über eine Datenbank sowohl historische Daten als
auch Echtzeitdaten der Logistik über die folgenden Module ab:
? General module: Dieses übergreifende Modul unterstützt das Anlegen von allgemeinen und übergreifenden (Stamm-) Daten, z. B. zu einzelnen Operationen
und Hilfsgütern. ? Mobilization module: Durch dieses Modul erfolgt auf der Grundlage der Informationen und Anfragen aus den betroffenen Gebieten die Identifizierung der
benötigten Hilfsgüter und Dienstleistungen. Sachspenden und Lagerbestände
werden „mobilisiert“ und weitere Bedarfe ermittelt. ? Procurement module: Das Beschaffungsmodul unterstützt an der Schnittstelle
zu den Lieferanten unter anderem Angebotsanfragen und -vergleiche, die Bearbeitung der Angebote sowie die Abwicklung der Beschaffungsprozesse vom
Wareneingang bis zur Rechnungsbearbeitung.
881 Tomasini, Rolando M. / Wassenhove, Luk N. van (2003), S. 9.
882 Vgl. Kopczak, Laura R. / Johnson, Eric M. (2004), S. 9. “The projected cost of the ERP
system was $ 12 million.” “… logistics would not be well-served by an ERP system. Kopczak, Laura R. / Johnson, Eric M. (2004), S. 11. Vgl. auch www.reliefweb.int, Pressemeldung
vom 22. Mai 2002: “Humanitarian Logistics Software being designed for Red Cross Red
Crescent”.
883 “While IFRC would have like to have a standardized process for managing information
across all major operations (and ideally across all procurement and logistics activities), this
was not the case.” Kopczak, Laura R. / Johnson, Eric M. (2004), S. 8.
884 Vgl. Kopczak, Laura R. / Johnson, Eric M. (2004), S. 11
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? Logistics Tracking module: Die Sendungsverfolgung der (Hilfs-) Güter wird
über mehrere Akteure, Orte und Prozesse unterstützt. Auf diese Weise soll die
tatsächliche Auslieferung der Hilfsgüter am Ort der Katastrophe gewährleistet
werden.
Ergänzend lassen sich durch HLS die erforderlichen Berichte für unterschiedliche
Adressatenkreise generieren. Die folgende Abbildung 78 bildet die komplexen Informationsströme zwischen den Akteuren des Katastrophenmanagements ab, die
Gegenstand der benannten vier Module der HLS sind.
Changes in Shipping
Instructions
Field Logistics Requisition
and Shipping Details
Competitive Bid Analysis
Stock Report
Stock Movement Report
Consignment Tracking
Inquiry
Good Receipt Note
Bid
Shipping Documents
Purchase Invoice
Consignment Tracking
Feedback
Commodity Tracking No.
Mobilization Table
Shipping Instructions
Shipping Details
Consignment Tracking
Feedback
Request for
Quotation
Shipment Order
Consignment
Tracking Inquiry
Logistics Requisition for
budgetary approval
Purchase Order
Purchase Invoice
Request for Quotation
Shipping Instructions
Purchase Order
Consignment Tracking Inquiry
Shipping Documents +
Invoice, Consignment
Tracking Feedback
Logistics
Requisition
Approval Status
Soft Pledge
Shipping Documents
Consignment
Tracking Feedback
Acceptance Letter
Shipping Instructions
Commodity Tracking No.
Donor Report
Consignment Tracking
Inquiry Logistics Requisition
Logistics Requisition
Status
Copy of Purchase Order
Humanitarian
Logistics
Software
HLS
Donor Desk Officer
3PL
(Third Party
Logistics)
Finance
Supplier
Field
Delegation
Abbildung 78: Datenflüsse in einer Humanitarian Logistics Software885
885 Mit wenigen Anpassungen übernommen aus Kopczak, Laura R. / Johnson, Eric M. (2004), S.
10.
307
Die vielfältigen Informationsbeziehungen der HLS geben einen Eindruck darüber,
dass die Software im Vergleich zu SUMA eine deutliche Integrations- und Funktionserweiterung einer spezifischen Logistiksoftware für das Katastrophenmanagement darstellt. Dieses Humanitarian Logistics System ist durch das Fritz Institut in
den vergangenen Jahren zur Logistik- und SCM-Software Helios weiterentwickelt
worden.886 Die folgende Startseite von Helios stellt den modularen Aufbau des aktuellen Systems dar, der im Wesentlichen dem des ursprünglichen HLS-Systems entspricht. Die Symbole bieten einen direkten Zugang zu den wichtigsten Modulen
Mobilization, Procurement, Logistics and Tracking, Request Processing sowie Warehouse; die Symbolleiste deutet die Zusatzfunktionalitäten des Systems an, die
beispielsweise das Projektmanagement, Berichte und Werkzeuge umfassen.
Mobilization Procurement Tracking Warehouse
General Projekt Request Mobilization Procurement Logistics Warehouses ToolBox Reports Admin.
Maint. Proc. & Tracking
Request Processing
Abbildung 79: Startseite Helios887
Ebenso wie HLS unterstützt Helios sowohl die täglichen logistischen Routineprozesse in Echtzeit (ein Beispiel stellt die Sendungsverfolgung dar, vgl. hierzu
Abbildung 80) als auch die Informationsintegration und Abstimmung zwischen
mehreren Akteuren des internationalen Katastrophenmanagements.888 Eine Integration mit ERP-Systemen oder anderen Softwaresystemen (z. B. Systeme, die die
Beschaffung, das Lagermanagement, das Personalwesen und das Finanzwesen abbilden) wird über standardisierte XML-Schnittstellen unterstützt.889
Helios wird seit dem Jahr 2007 durch Pilotprojekte der Organisationen World Vision und Oxfam sowie seit dem Jahr 2008 durch International Medical Corps – vor-
886 Vgl. www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology,
”Helios”.
887 www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology, ”Helios”.
888 Vgl. www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology,
”Helios”, “Helios Benefits” und “Helios Overview”.
889 Vgl. www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology,
”Helios”.
889 www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology, ”Helios”.
889 Vgl. www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology,
”Helios”, “Helios Technical Specifications”.
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wiegend in Einsatzgebieten in Afrika und Indonesien – getestet und auf Basis der
Erfahrungen weiterentwickelt.890
Das Fritz Institute weist mit der folgenden Aussage auf weitere erforderliche Entwicklungen des Systems Helios hin.
„The goal we are working towards is to make the engagement of organizations large and small
as smooth and efficient as possible, and for the HELIOS software to continue to grow and improve with the input of the whole user group.”891
Abbildung 80: Helios – Logistics and Tracking892
Die Stärken des Systems liegen bislang im Bereich der Datenerfassung und Datenintegration zwischen mehreren logistischen Funktionen, Akteuren und Prozessen. Mit
dieser Datengrundlage werden die Voraussetzungen geschaffen, logistische Methoden sowie Konzepte des Supply Chain Management, die Gegenstand der Kapitel 4
und 5 dieses Buches sind, mit den erforderlichen Daten zu versorgen. Bislang ist das
Modul „Logistics and Tracking“ ausschließlich mit der Funktionalität der Sendungsverfolgung ausgestattet, und die „ToolBox“ enthält lediglich einfache Werkzeuge, wie z. B. einen Zeit- und Aktivitätenplaner.
890 www.fritzinstitute.org, Link “Press Room”, “2007 Press Release Archive”, 13.9.2007.
891 www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology, ”Helios”,
Helios Overview”.
892 www.fritzinstitute.org, Link “Supply Chain Solutions”, “Programs”, “Technology, ”Helios”.
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Durch die Erweiterung des Systems um logistische Methoden könnte das Management ergänzend im Bereich der Planung logistischer Prozesse unterstützt werden.
Beispielsweise ließe sich das Modul „Warehouse“ um eine ABC-XYZ-Analyse
ergänzen, um das Management bei der Auswahl geeigneter Beschaffungskonzepte
zu unterstützen (vgl. hierzu Abschnitt 4.1). Durch den Einsatz der „Netzplantechnik“ im Modul Projektmanagement könnten z. B. Zeiten für die einzelnen Vorgänge
in der Katastrophenbewältigung geplant, Vorgänge auf dem kritischen Pfad identifiziert und bei Bedarf Anpassungen vorgenommen werden (vgl. Abschnitt 4.3.2).
Ebenfalls ist eine Erweiterung des Moduls „Logistics and Tracking“ um weitere
logistische Methoden – wie die in Abschnitt 4.2 vorgestellte Tourenplanung – denkbar. Als Erweiterung des Moduls „Procurement“ ließe sich das Management bei der
Auswahl der Lieferanten oder Dienstleister durch eine Nutzwertanalyse unterstützen
(vgl. Abschnitt 5.4). Diese Methoden lassen sich nach einem Datenexport aus Helios
auch systemunabhängig umsetzen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.