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Ebene der Materialflüsse
Ebene der Informationsflüsse
Ebene der Koordination
Abbildung 58: Integration Materialfluss-, Informations- und Koordinationsebene547
5.2 Referenzmodelle und Konzepte
5.2.1 Referenzmodelle des SCM im internationalen Katastrophenmanagement
5.2.1.1 Das SCOR-Modell
Sowohl Referenzmodelle als auch Konzepte des Supply Chain Management wurden
entwickelt, um dem Bullwhip-Effekt entgegenzuwirken und die unternehmensübergreifende Wertschöpfungskette zielgerichtet zu gestalten.
Referenzmodelle werden als allgemeingültige Beschreibungs- und Informationsmodelle eingesetzt, die sich um Analyse- und Optimierungsinstrumente erweitern
lassen. Sie sollten abstrakt, robust gegenüber Veränderungen von Rahmenbedingungen, anpassungs- und erweiterungsfähig sowie konsistent aufgebaut sein.548
Für das Supply Chain Management wurde durch das im Jahr 1996 gegründete
Supply Chain Council ein branchenübergreifendes Standard-Prozess-Referenzmodell entwickelt – das SCOR™-Modell.549 Das SCOR-Modell (Supply Chain Operations Referenzmodel) lässt sich als Referenzmodell heranziehen, um die Wertschöpfungskette standardisiert zu visualisieren und auf Basis von Kennzahlenwerten
547 Eigene Darstellung, in Anlehnung an Sucky, Eric (2004), S. 28, 37 und 38.
548 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 15-17; Poluha,
Rolf G. (2006), S. 105; Schulte, Christof (2005), S. 530
549 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 16;
www.supply-chain.org.
211
sowie Best-Practice-Analysen zu analysieren.550 Durch die einheitliche, vergleichbare und bewertbare Darstellung der unternehmensübergreifenden Prozesse auf der
operativen Ebene und der Planungsebene erfüllt es die beschriebenen charakteristischen Elemente des SCM: Das SCOR-Modell bildet die Prozesse kundenorientiert
ab und erfüllt durch den standardisierten Aufbau die Integrationsanforderungen des
Supply Chain Management auf der Informations- und Koordinationsebene.551
Das SCOR-Modell stellt ein prozessbezogenes Rahmenwerk, die Standardterminologie, die gemeinsame Beschreibung von Kennzahlen und die entwickelten Softwareanwendungen zur Verfügung.552 Durch diese Bestandteile bildet das SCOR-
Modell einen Ansatz mit den folgenden Aufgabenstellungen:553
? Prozesse der Wertschöpfungsketten lassen sich mit ihren Verbindungen untereinander standardisiert beschreiben. „Dadurch können ungleichartige Branchen
verknüpft werden, um gleichsam die Tiefe und Weite einer beliebigen Lieferkette zu beschreiben.“554 ? Die Leistungsfähigkeit der Prozesse und Wertschöpfungsketten lässt sich bewerten und vergleichen. ? Durch den Einsatz weiterer Analyse- und Gestaltungsinstrumente lassen sich
die Wertschöpfungsketten über die Partner der Wertschöpfungskette hinweg
gestalten. Dies kann zu einer Reduzierung der (Logistik-) Kosten und zu einer
Erhöhung des (Logistik-) Service beitragen.555 ? Einsatzbereiche für eine Softwareunterstützung lassen sich auf der Grundlage
des SCOR-Modells identifizieren und mit der erforderlichen Funktionalität
bestimmen.
Mit diesen Aufgabenstellungen des SCOR-Modells kann das Referenzmodell gegebenenfalls auch für die unternehmensübergeifende Zusammenarbeit im Katastro-
550 Vgl. z. B. Arnold, Ulli / Warzog, Frank (2001), S. 26-29; Corsten, Hans / Gössinger, Ralf
(2008), S. 148-160; Murphy, Paul R. / Wood, Donald F. (2004), S. 38-39; Schulte, Christof
(2005), S. 530-538. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches lag das SCOR-
Modell in der Version 8.0 vor. Eine Kurzbeschreibung des Modells findet sich in Supply-
Chain Council (Hrsg.) (2006).
551 Vgl. Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 149; Kuhn, Axel (2008), S. 227; Poluha, Rolf
G. (2006), S. 66-67; Sürie, Christopher / Wagner, Michael (2008), S. 41.
552 Vgl. Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 149; Poluha, Rolf G. (2006), S. 66. Ebenfalls
auf S. 66: “Ein großer Nutzen des SCOR-Modells liegt in der Definition einer gemeinsamen
Sprache zur Kommunikation zwischen den verschiedenen innerbetrieblichen Funktionen und
den außerbetrieblichen Partner der Lieferkette.“
553 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 149; Poluha,
Rolf G. (2006), S. 81.
554 Poluha, Rolf G. (2006), S. 103.
555 Die dadurch erzielbaren Potenziale quantifiziert beispielsweise Poluha, Rolf G. (2006), S.
109-114. Die Verbesserungspotenziale betreffen sowohl die Logistikkosten (z. B. Reduzierung der Beschaffungskosten, der Distributionskosten, des Gesamtressourceneinsatzes) als
auch den Logistikservice (z. B. Erhöhung der Durchlaufzeiten, der Prognosegenauigkeit und
der Lieferleistung sowie Reduzierung der Qualitätsmängel).
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phenmanagement geeignet sein. Staatliche und nicht-staatliche Akteure unterschiedlicher Branchen, z. B. aus unterschiedlichen Industriebereichen, Handelsunternehmen, Logistikdienstleister und weitere Dienstleister sowie Hilfsorganisationen
arbeiten im internationalen Umfeld zusammen. Setzen diese jeweils unternehmensoder branchenbezogene Modelle für die Beschreibung, Bewertung und Gestaltung
der Prozesse ein, so kann eine unternehmensübergreifende Darstellung, Abstimmung und Bewertung der Abläufe nicht bzw. nur unter Einsatz weiterer Anpassungen und Vereinheitlichungen erfolgen. Das Referenzmodell bietet den Akteuren des
Katastrophenmanagements ein Rahmenwerk, durch das ein gemeinsames Grundverständnis über Begriffe, Abläufe, Analyseinstrumente in Form von Kennzahlen und
die entsprechende Datengrundlage geschaffen werden kann.
Standardisierte Referenzmodelle weisen Grenzen auf, die ebenfalls zu beachten sind,
wenn über den Einsatz eines solchen Modells im internationalen Katastrophenmanagement entschieden wird.556 So ist zu prüfen, ob das Modell in der Lage ist, die
Individualität in der Leistungserstellung der einzelnen Akteure – auch der nicht
privatwirtschaftlich ausgerichteten Akteure – in geeigneter Weise abzubilden. Die
nachfolgenden Erläuterungen über das Begriffs- und Prozessverständnis sowie die
Detaillierungsebenen des hierarchisch aufgebauten SCOR-Modells sollen nun die
Fragestellung klären, ob der Einsatz des SCOR-Modells für Akteure des internationalen Katastrophenmanagements empfohlen werden kann.
Das SCOR-Modell spezifiziert eine Wertschöpfungskette über mehrere hierarchisch
aufgebaute Ebenen und lässt sich darüber hinaus um weitere unternehmensindividuell gestaltete Ebenen ergänzen. Auf der Ebene 1, die am höchsten aggregiert ist,
werden die Kernprozesse abgebildet (vgl. Abbildung 59).
Bei den fünf Kernprozessen handelt es sich um „Plan“ (Planen), „Source“ (Beschaffen), „Make“ (Produzieren), „Deliver“ (Ausliefern) und „Return“ (Rückführen). Das
Begriffsverständnis des Supply-Chain Council entspricht den in diesem Buch bereits
vorgestellten Begriffen der Planung und der logistischen Funktionen Beschaffung,
Produktion und Distribution, sodass diese nicht nochmals erläutert werden müssen.557 Aus Abbildung 59 lässt sich erkennen, dass die Funktionen durch das Prozess-Referenzmodell integriert abgebildet werden, und zwar über alle Akteure einer
Wertschöpfungskette. Das SCOR-Modell erstreckt sich von den Lieferanten der
eigenen Lieferanten bis zu den Kunden der eigenen Kunden und lässt sich demnach
556 Schwächen und Grenzen des Modells beschreibt beispielsweise Poluha, Rolf G. (2006), S.
114-118: Das SCOR-Modell unterliegt Veränderungen und damit einer Dynamik, die sowohl
Vor- als auch Nachteile mit sich bringt, ergänzende individuelle Beschreibungen sind im
SCOR-Modell zwingend erforderlich, und bestimmte Funktionsbereiche werden in der Organisationsstruktur vorausgesetzt.
557 Vgl. „Grundlagen der Logistik” in Abschnitt 3.1. Vgl. zum Begriffsverständnis des Supply-
Chain Council: Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 19;
Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 150; Schulte, Christof (2005), S. 533.
213
flussauf- und -abwärts beliebig ergänzen.558 Der Kernprozess „Plan“ erfolgt übergreifend und bezieht mehrere Funktionen, Prozesse und Akteure übergreifend ein.
Plan
Plan Plan
Make Source Make Deliver Source Make Deliver Source Make Deliver
Return Return Return Return Return Return
Your Company Customer Supplier
Abbildung 59: Ebene 1 des SCOR-Modells559
Ebene 1 des SCOR-Modells erfüllt die in diesem Kapitel definierten Anforderungen
an das Supply Chain Management – auch an das SCM im internationalen Katastrophenmanagement: Die Wertschöpfungskette wird durch das SCOR-Modell prozess-,
kunden- und integrationsbezogen dargestellt und umfasst sowohl die Material- und
Informationsströme als auch die Akteure bzw. Institutionen.560 Durch den Kernprozess der „Rückführung“ ist das Modell auch in der Lage, die Prozesse der „Nachkombination“ im internationalen Katastrophenmanagement zu modellieren. Für das
Katastrophenmanagement deutet sich auf der Ebene 1 des Modells bereits ein Anpassungsbedarf für eine Vielzahl der beteiligten Akteure an: Der Kernprozess des
„Produzierens“ ist nicht im Sinne einer Produktion von Sachleistungen zu verstehen.
Vielmehr ist für die Produktion von Dienstleistungen – entsprechend der Prozessdarstellung zur Produktion katastrophenlogistischer Dienstleistungen in Abschnitt
4.3.1 – eine gemeinsame Modellierung der Kernprozesse „Produzieren“ und „Ausliefern“ erforderlich. Diese erforderlichen Anpassungen sind bereits für eine Vielzahl anderer Dienstleistungsunternehmen realisiert worden und können für die standardisierte Leistungserstellung im Katastrophenmanagement eine Grundlage darstellen.561
Die fünf Kernprozesse werden auf der zweiten Ebene des SCOR-Modells in 30
Prozesskategorien differenziert. Auf der Planungs-Ebene wird sowohl die Planung
558 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 19; Poluha, Rolf
G. (2006), S. 86.
559 Vgl. Supply-Chain Council (Hrsg.) (2006), S. 3.
560 Vgl. hierzu Abschnitt 5.1.2.
561 Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007) beschreiben in ihrem
„Praxishandbuch zur Optimierung mit SCOR“ ein Fallbeispiel zur Umsetzung des SCOR-
Modells (Logistik AG).
214
innerhalb der einzelnen Funktionen und Prozesse (P2 bis P5) als auch die übergreifende Planung (P1) abgebildet. In der Modellierung der Materialflüsse erfolgt standardisierte Gruppierung, wie etwa nach Lager-, Kundenauftrags- oder Spezialfertigung (z. B. S1 Source Stocked Products und D2 Deliver Make-to-Order-Product),
und unter dem Begriff „Enable“ werden weitere unterstützende Prozesse erfasst, die
unter anderem übergreifende Informationen über Managementaufgaben, Verträge
und Finanzierung enthalten.562
Die zweite Ebene des SCOR-Modells enthält ergänzend ebenfalls Empfehlungen zu
geeigneten übergreifenden Maßgrößen, die als Attribute bezeichnet werden, und die
auf den weiteren Detaillierungsstufen zu Kennzahlen differenziert werden. In der
Version 8.0 des SCOR-Modells handelt es sich um fünf Attribute:
? „Reliability“ (Lieferzuverlässigkeit), ? „Responsiveness“ (Reaktionsfähigkeit), ? „Flexibility“ (Anpassungsfähigkeit), ? „Cost“ (Kosten) und ? „Asset Management“ (Kapitaleinsatz).563
Da die Leistungsattribute des SCOR-Modells an den Zielgrößen der Logistik und
des Supply Chain Management ausgerichtet sind, die auch für das internationale
Katastrophenmanagement gelten, ist eine Übertragung der Leistungsattribute auf das
hier zu untersuchende Anwendungsfeld möglich und sinnvoll. In Kapitel 3 dieser
Arbeit wurde das Strategie- und Zielsystem für Akteure des Katastrophenmanagements aus der übergreifenden Vision und Strategie abgeleitet. Dieses auf Logistik
und Supply Chain Management ausgerichtete Zielsystem mündet auf einer weiteren
Differenzierungsstufe in Entscheidungskriterien und exemplarischen Kennzahlen,
die an die durch das Fritz Institute und das IFRC entwickelten „Key Performance
Indikatoren“ angelehnt sind. Diese betreffen die zeitliche Verfügbarkeit, die Zuverlässigkeit, die (Logistik-) Kosten und das Budget und lassen sich demnach mit den
oben angegebenen Attributen des SCOR-Modells in Abstimmung bringen und durch
dieses ergänzen.564
Eine weitere Untergliederung der Prozesskategorien erfolgt durch die dritte Ebene
des SCOR-Modells, durch die einzelne Geschäftsprozesse bzw. Prozesselemente
562 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 20; Corsten,
Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 152; Poluha, Rolf G. (2006), S. 87-89; Schulte, Christof
(2005), S. 533; Supply-Chain Council (Hrsg.) (2006), S. 9.
563 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 81; Corsten,
Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 152; Poluha, Rolf G. (2006), S. 94-102. Die Bedeutung
ähnlicher Maßgrößen bzw. Attribute wird beispielsweise auch in Speh, Thomas W. (2008), S.
247-253 hervorgehoben.
564 Vgl. Abschnitt 3.2.5.
215
festgelegt sowie mit ihren In- und Outputbeziehungen beschrieben werden.565 Beispielsweise lässt sich die Prozesskategorie „Zugekauftes Material beschaffen“ (S1
Source Stocked Products) durch das SCOR-Modell standardisiert in die folgenden
Prozesselemente aufteilen:566
? S1.1 Materiallieferung terminieren, ? S1.2 Material annehmen, ? S1.3 Material prüfen, ? S1.4 Material transferieren und ? S1.5 Bezahlung des Lieferanten veranlassen.
Diese standardisiert beschriebenen Prozesselemente sind trotz der hohen Detaillierungsstufe gerade noch so allgemein formuliert, dass sie sich durch unterschiedliche
Branchen – und somit auch für die unterschiedlichen Akteure des Katastrophenmanagements – umsetzen lassen. Jedes Prozesselement wird
? definiert und inhaltlich beschrieben, ? mit seinen Informations- In- und -Outputbeziehungen dargestellt, ? mit relevanten Leistungsattributen und Kennzahlenwerten beschrieben und
bewertet, ? sofern möglich Best Practices und Benchmarks gegenübergestellt und ? mit Best-Practice-Systemfähigkeiten und verfügbaren Softwareanwendungen
beschrieben.567
Bezogen auf das oben angegebene Prozesselement S.1.1 „Materiallieferung terminieren“ stellt z. B. ein Beschaffungsplan einen Informationsinput dar und das auslösende Beschaffungssignal einen Informationsoutput.568 Für das internationale Katastrophenmanagement, insbesondere für die Katastrophenbewältigung, können auch
die Information über ein katastrophenauslösendes Ereignis mit Angaben über die Art
und das Ausmaß, die geographische Lage und der daraus abgeleitete Bedarf der
Bevölkerung einen Informationsinput für S1.1 bilden.
Für jedes Prozesselement wird des Weiteren angegeben, welche der fünf übergreifenden Leistungsattribute durch das Prozesselement beeinflusst werden. Mit der
weiteren Detaillierung auf der dritten Ebene des SCOR-Modells werden zudem
Kennzahlenwerte generiert und den Leistungsattributen zugeordnet. Beispielsweise
565 Vgl. Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 153; Poluha, Rolf G. (2006), S. 90; Schulte,
Christof (2005), S. 533-534; Supply-Chain Council (Hrsg.) (2006), S. 10; Sürie, Christopher /
Wagner, Michael (2008), S. 44.
566 Vgl. Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 154-155; Schulte, Christof (2005), S. 534;
Supply-Chain Council (Hrsg.) (2006), S. 10.
567 Vgl. Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 155; Supply-Chain Council (Hrsg.) (2006), S.
12-13.
568 Vgl. Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 155; Sürie, Christopher / Wagner, Michael
(2008), S. 45.
216
lässt sich bezogen auf das Prozesselement S1.1 der „Anteil der Kosten des Materialmanagements an den Materialkosten“ generieren. Diese für das internationale
Katastrophenmanagement relevante Kennzahl lässt sich dem Leistungsattribut „Kosten“ und ergänzend dem „Budget“ zuordnen; die Kennzahl „Anteil qualitativ nicht
akzeptabler Lieferungen an den Gesamtlieferungen“ lässt sich dem Leistungsattribut
Zuverlässigkeit“ zuordnen.569
Mit Unternehmen der gleichen oder anderer Branchen lässt sich auf der Grundlage
der generierten Kennzahlenwerte gegebenenfalls ein Vergleich durchführen (wettbewerbsorientiertes bzw. branchenübergreifendes externes Benchmarking); auch die
Kennzahlenwerte unterschiedlicher Abteilungen oder Regionen eines Unternehmens
lassen sich gegenüberstellen (unternehmensinternes Benchmarking).570 Für das internationale Katastrophenmanagement lassen sich beispielsweise Kennzahlenwerte
für unterschiedliche Katastropheneinsätze, für unterschiedliche Katastrophenarten
und -gebiete generieren und einem Vergleich unterziehen. Die besten Kennzahlenwerte bilden jeweils die „Best Practice“. Das SCOR-Modell enthält Erläuterungen
zur „Best Practice“ sowie den erforderlichen Softwarefunktionalitäten und Softwareanbietern. Mit Blick auf das exemplarisch beschriebene Prozesselement S1.1
zählt beispielsweise die „Nutzung von EDI-Transaktionen“ zu den Best Practices
(EDI: Electronic Data Interchange bzw. elektronischer Geschäftsdatenaustausch),
deren Umsetzung EDI-Schnittstellen erfordern.571 Der Vergleich eigener Ist-
Kennzahlenwerte und Prozessumsetzungen mit der „Best Practice“ liefert die
Grundlage für weitere Analysen. Ausschlaggebend für eine Abweichung von der
Best Practice können unveränderbare Rahmenbedingungen sein. Abweichungsanalysen können als Ergebnis aber auch Verbesserungspotenziale offen legen und damit
Maßnahmen auslösen, die zu höheren Zielerreichungsgranden führen.572
Die Notwendigkeit zur Umsetzung von Kennzahlensystemen und -vergleichen ist
durch Akteure des internationalen Katastrophenmanagements bereits erkannt und in
Ansätzen umgesetzt worden. Die in diesem Buch bereits angesprochenen Studien
des Fritz Institute mit vergleichbaren Kennzahlen zu Katastropheneinsätzen (zum
Erdbeben in Pakistan, Hurrikane Katrina in den USA und dem Tsunami in Asien)573
sowie die Entwicklung der Key Performance Indikatoren für internationale Katastropheneinsätze574 bilden erste Ansätze zur Umsetzung zielbezogener Kennzahlen-
569 Ausführliche Erläuterungen zu den Kennzahlen des SCOR-Modells enthält beispielsweise
Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 81-94; Sürie, Christopher / Wagner, Michael (2008), 45-61.
570 Ausführliche Erläuterungen zur Erstellung von Vergleichstabellen, Konkurrenzvergleichen
und Leistungsvergleichen enthält beispielsweise Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. /
Poluha, Rolf G. (2007), S. 95-129.
571 Vgl. Schulte, Christof (2005), S. 534.
572 Schwachstellenanalysen und die darauf aufbauende Definition von Soll-Prozessen werden
ausführlich an einem Beispiel in Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G.
(2007), S. 95-340 erläutert.
573 Vgl. Abschnitt z. B. Abschnitt 2.1.3 und 3.2.5.3.
574 Vgl. Abschnitt 3.2.5.3.
217
bewertungen und -vergleiche. In der weiteren Differenzierung dieser Kennzahlensysteme sollte geprüft werden, ob eine Umsetzung des SCOR-Modell sinnvoll ist.
Das standardisierte Modell enthält bereits eine Vielzahl der für die Akteure des
Katastrophenmanagements relevanten Kennzahlen in einer einheitlichen branchen-
übergreifenden Begriffswelt. Aus diesen Kennzahlen lässt sich eine Auswahl treffen
(nicht relevante Kennzahlen, z. B. zu Prozesselementen der Produktion sowie eine
Vielzahl der umsatzbezogenen Kennzahlen lassen sich vernachlässigen) und auf den
weiteren Detaillierungsebenen des SCOR-Modells auf die spezifischen Anforderungen des internationalen Katastrophenmanagements ausrichten.
Insgesamt ist das SCOR-Modell auf eine Detaillierung bis zu einer sechsten Stufe
ausgerichtet. Dabei widmet sich Stufe 4 den Aufgaben (Tasks), die Stufe 5 den
Tätigkeiten (Activities) und die Stufe 6 den Arbeitsanweisungen (Instructions).
Das Supply Chain Council nimmt die vierte und die folgenden Ebenen bewusst nicht
in die Modell-Dokumentation auf, da der Detaillierungsgrad ab dieser Ebene zu
hoch ist und demnach der Anspruch eines branchenunabhängigen Referenzmodells
nicht mehr erfüllt werden kann.575 So lassen sich beispielsweise die detaillierten
individuellen Informationen aus einer Beschreibung der elementaren logistischen
Leistungsprozesse (vgl. hierzu Abschnitt 4.3.1) ergänzend aufnehmen.
Insbesondere für die Ebenen 1 und 2 stellt das SCOR-Modell ergänzend zu den
bereits beschriebenen Bestandteilen standardisierte Darstellungsformen zur Verfügung. Beispielsweise lassen sich auf Karten Standorte und Verbindungsstrecken
zwischen den Standorten skizzieren und mit Informationen über die Ebene 1 und 2
des Modells verbinden.576 Die vertikale und horizontale Distributionsstruktur – und
damit auch Ergebnisse der Standort-, Transport- und Tourenplanung (vgl. hierzu
Abschnitt 4.2) – lassen sich unter Einsatz dieser Darstellungsformen nach unterschiedlichem Detaillierungsgrad skizzieren und mit Informationen zu den Kernprozessen und Prozesskategorien verbinden. Dabei richten sich die Darstellungsformen
des SCOR-Modells nicht nur auf ein einzelnes Unternehmen sondern auch auf eine
Visualisierung der unternehmensübergreifenden Standorte, Transportrelationen und
Leistungen.577
Abschließend kann festgestellt werden, dass das SCOR-Modell mit den in diesem
Abschnitt beschriebenen Inhalten für Akteure des Katastrophenmanagements
Einsatzpotenziale bietet. Für die Darstellung, Beschreibung, Bewertung und den
Vergleich von Prozessen im internationalen Katastrophenmanagement liefert das
Modell wertvolle Hinweise, z. B. zu Kennzahlen und deren Datengrundlage, zur
575 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 137.
576 Die detaillierten Informationen ab der dritten Ebene lassen sich aufgrund der Vielzahl der
Prozesselemente und ergänzenden Informationen nicht mehr übersichtlich darstellen.
577 Beispiele für geografische Karten werden beispielsweise in Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum,
Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 147 und 149 dargestellt; die Darstellung einer „Prozess-Map“ findet sich beispielsweise in Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 154 und
beide Darstellungsformen werden beispielsweise in Sürie, Christopher / Wagner, Michael
(2008), S. 48 miteinander verbunden.
218
Visualisierung von Prozessen, zu einer branchenübergreifenden Begriffswelt. Jedes
Referenzmodell weist jedoch auch Grenzen auf, da sich individuelle Unternehmen
unterschiedlicher Branchen mit ihren individuellen Prozessen nicht standardisiert
beschreiben lassen.578 Gegebenenfalls werden nicht alle Prozesse und Kennzahlen in
geeigneter Form abgebildet, sodass individuelle Anpassungen ergänzend erforderlich sind. Akteure des Katastrophenmanagements müssen sich gemeinsam mit den
Partnern der Wertschöpfungskette entscheiden, ob sie das SCOR-Modell im Standard des Supply-Chain Council mit den zur Verfügung stehenden Funktionalitäten
und Anwendungen einsetzen wollen oder ob sie geeignete Inhalte des Modells auf
eigene Referenzmodelle und darauf aufbauende Methoden, Instrumente und Anwendungen übertragen werden.579
5.2.1.2 Efficient Consumer Response (ECR)
Während das SCOR-Modell vornehmlich durch Industrieunternehmen entwickelt
wurde und mit den übergreifenden Kernprozessen Beschaffen, Produzieren, Liefern
und Planen auf diese ausgerichtet ist,580 wurden durch Handelsunternehmen parallel
ebenfalls Referenzmodelle entwickelt. Diese richten sich vornehmlich auf Distributionsprozesse und berücksichtigen in besonderem Maße die Besonderheiten der
Produktion von Dienstleistungen.581
Efficient Consumer Response (ECR) ist ähnlich wie das SCOR-Modell durch einen
Zusammenschluss mehrerer Interessenvertreter (insbesondere aus dem Handel und
der Konsumgüterindustrie) entwickelt und standardisiert worden.582 Im Jahr 1994
wurde die Initiative ECR Europe gegründet.583 Das Referenzmodell bildet 4 Basisstrategien ab, von denen das „Efficient Replenishment“ den stärksten Bezug zur
Logistik aufweist. „Efficient Assortment“, „Efficient Promotion“ und „Efficient
Product Introduction“ befassen sich in der angegebenen Reihenfolge zunehmend mit
Marketing und abnehmend mit logistischen Fragestellungen und werden gemeinsam
dem „Category Management“ zugeordnet.
Für das internationale Katastrophenmanagement bietet das Efficient Consumer Response als Referenzmodell nur begrenzt Einsatzpotenziale. Insbesondere das Catego-
578 Vgl. zu den Grenzen des Modells z. B. Poluha, Rolf G. (2006), S. 361-368.
579 Vgl. hierzu z. B. Tufinkgi Philippe (2006). Die Darstellung eines logistischen Referenzmodells für Katastrophenfälle erfolgt auf den Seiten 203-276. Eine methodische Einbindung von
Kennzahlen und Benchmarking ist hier nicht vorgesehen, lässt sich aber auf Grundlage des
SCOR-Modells ergänzen.
580 Vgl. Arnold, Ulli / Warzog, Frank (2001), S. 26-28. Das SCOR-Modell wurde zwar aus Sicht
der Industriebranche entwickelt, wird aber auch durch Handelsunternehmen und andere
Dienstleister eingesetzt.
581 Die Abgrenzung der Produktion von Sach- und Dienstleistungen ist bereits in den Kapiteln 3
und 4 dargelegt worden.
582 Vgl. Auffermann, Christiane (2008), S. 528.
583 Vgl. www.ecr-europe.com sowie www.ecr.de.
219
ry Management ist stark auf den „kaufenden“ bzw. „zahlenden“ Endkunden gerichtet. Damit ist es auf Marketingstrategien und -ziele ausgerichtet, die für das internationale Katastrophenmanagement mit den zu berücksichtigenden „Kunden“ Geldgeber und bedürftige Menschen nicht übertragbar sind. Aus diesem Grund wird nicht
das gesamte Referenzmodell vorstellt sondern diejenigen Konzepte und Instrumente
des Logistik- und SCM-orientierten „Efficient Replenishment“, die für das internationale Katastrophenmanagement einsetzbar sind. Diese werden in den nachfolgenden
Abschnitt aufgenommen, der sich den Konzepten des Supply Chain Management
und seinen Potenzialen für das internationale Katastrophenmanagement widmet.584
5.2.2 Konzepte des SCM im internationalen Katastrophenmanagement
5.2.2.1 Einleitung
Referenzmodelle des Supply Chain Management sind darauf ausgerichtet, Wertschöpfungsprozesse mit den charakteristischen Elementen des SCM standardisiert
zu beschreiben, darzustellen und bei Bedarf einheitlich zu bewerten. Konzepte zur
Umsetzung des Supply Chain Management wurden im Wesentlichen aus diesen
Referenzmodellen der Industrie- und Handelsunternehmen heraus entwickelt und
sind auf höhere Zielerreichungsgrade in der Supply Chain ausgerichtet.
Hierzu zählen unter anderem die Konzepte Cross Docking, Vendor Managed Inventory, Collaborative Forecasting Planning and Replenishment und Postponement, die
nachfolgend mit ihren Einsatzpotenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt werden.585 Dabei werden sowohl die charakteristischen Zielsetzungen der Akteure des Katastrophenmanagements als auch ausgewählte Erkenntnisse und Ergebnisse der vorangehenden Kapitel besondere Berücksichtigung finden.
584 Die Fragestellung, ob ECR Bestandteil des SCM ist oder SCM ein Bestandteil des ECR soll
an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Vgl. hierzu Arnold, Ulli / Warzog, Frank (2001),
S. 30-37; Auffermann, Christiane (2008), S. 528-529; Schulte, Christof (2005), S. 491-493.
Im Rahmen dieses Buches wird ECR als Bestandteil des SCM behandelt.
585 Eine Übersicht über weitere Konzepte gibt beispielsweise in Arnold, Ulli / Warzog, Frank
(2001), S. 32-34 sowie Vahrenkamp, Richard (2007), S. 357-382.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.