219
ry Management ist stark auf den „kaufenden“ bzw. „zahlenden“ Endkunden gerichtet. Damit ist es auf Marketingstrategien und -ziele ausgerichtet, die für das internationale Katastrophenmanagement mit den zu berücksichtigenden „Kunden“ Geldgeber und bedürftige Menschen nicht übertragbar sind. Aus diesem Grund wird nicht
das gesamte Referenzmodell vorstellt sondern diejenigen Konzepte und Instrumente
des Logistik- und SCM-orientierten „Efficient Replenishment“, die für das internationale Katastrophenmanagement einsetzbar sind. Diese werden in den nachfolgenden
Abschnitt aufgenommen, der sich den Konzepten des Supply Chain Management
und seinen Potenzialen für das internationale Katastrophenmanagement widmet.584
5.2.2 Konzepte des SCM im internationalen Katastrophenmanagement
5.2.2.1 Einleitung
Referenzmodelle des Supply Chain Management sind darauf ausgerichtet, Wertschöpfungsprozesse mit den charakteristischen Elementen des SCM standardisiert
zu beschreiben, darzustellen und bei Bedarf einheitlich zu bewerten. Konzepte zur
Umsetzung des Supply Chain Management wurden im Wesentlichen aus diesen
Referenzmodellen der Industrie- und Handelsunternehmen heraus entwickelt und
sind auf höhere Zielerreichungsgrade in der Supply Chain ausgerichtet.
Hierzu zählen unter anderem die Konzepte Cross Docking, Vendor Managed Inventory, Collaborative Forecasting Planning and Replenishment und Postponement, die
nachfolgend mit ihren Einsatzpotenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt werden.585 Dabei werden sowohl die charakteristischen Zielsetzungen der Akteure des Katastrophenmanagements als auch ausgewählte Erkenntnisse und Ergebnisse der vorangehenden Kapitel besondere Berücksichtigung finden.
584 Die Fragestellung, ob ECR Bestandteil des SCM ist oder SCM ein Bestandteil des ECR soll
an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Vgl. hierzu Arnold, Ulli / Warzog, Frank (2001),
S. 30-37; Auffermann, Christiane (2008), S. 528-529; Schulte, Christof (2005), S. 491-493.
Im Rahmen dieses Buches wird ECR als Bestandteil des SCM behandelt.
585 Eine Übersicht über weitere Konzepte gibt beispielsweise in Arnold, Ulli / Warzog, Frank
(2001), S. 32-34 sowie Vahrenkamp, Richard (2007), S. 357-382.
220
5.2.2.2 Cross Docking
Cross Docking stellt ein Konzept zur Abwicklung von Umschlagvorgängen in Distributionszentren dar. Anlieferungen vorgelagerter Wertschöpfungsstufen (der Lieferanten) werden nicht eingelagert sondern direkt umgeschlagen und sortiert, sodass
eine Bereitstellung für den Warenausgang ohne Zwischenlagerung erfolgen kann.
Durch die Integration der Material- und Informationsflüsse zwischen Lieferant und
nachfolgender Wertschöpfungsstufe lassen sich Bestände (und damit Bestandskosten) vermeiden bzw. reduzieren und Lieferzeiten verkürzen; dem Bullwhip-Effekt
wird entgegengewirkt.586
Im internationalen Katastrophenmanagement wird Cross Docking bereits an mehreren Knoten der Distributionsstruktur umgesetzt.587 Ein Beispiel stellen die in der
Katastrophenbewältigung genutzten Flug- und Seehäfen dar, an denen die über den
Luftverkehr ankommenden Hilfsgüter nicht zwischengelagert sondern – sofern die
politischen Rahmenbedingungen und die Infrastruktur dies erlauben – über einen
Knoten direkt auf Transportmittel umgeschlagen und zum nächsten Knoten der
Distributionsstruktur transportiert werden. Auch auf den nachfolgenden Stufen wird
Cross Docking realisiert, insbesondere auf den Stufen der „Quick Rotation Warehouses“ und der „Temporary Collection Sites“. Bereits die englischen Bezeichnungen der Regional- und Auslieferungslager – mit den Begriffen schnell (quick) und
temporär (temporary) – weisen auf ein angestrebtes Cross Docking hin.588 Eine
Darstellung der Grundstruktur des Cross-Docking erfolgt in Abbildung 60.
In der bereits mehrfach erläuterten Aufteilung des Katastrophenmanagements in die
Bestandteile der Katastrophenvorsorge und -bewältigung lässt sich das Cross-
Docking beiden Bereichen zuordnen: Die mittel- bis langfristig ausgerichtete vorbeugende Einrichtung der Umschlagspunkte – auch auf der Grundlage von Informationen aus dem Monitoring, der Frühwarnung und der Risikoanalyse – stellen Maßnahmen der Katastrophenvorsorge dar; die kurzfristig ausgerichtete Umsetzung des
Cross-Docking im Rahmen der Rettungsmaßnahmen und der humanitären Hilfe
lässt sich der Katastrophenbewältigung zuordnen. Aus den Erfahrungen in der Umsetzung des Cross-Docking, Soll-Ist-Vergleichen und darauf aufbauenden Abweichungs- und Risikoanalysen schließt sich der bekannte Kreislauf des Katastrophenmanagements für das Cross-Docking.
586 Vgl. z. B. Arnold, Ulli / Warzog, Frank (2001), S. 32-33; Chopra, Sunil / Meindl, Peter
(2004), S. 413 und 423; Christopher, Martin (2005), S. 189; Corsten, Hans / Gössinger, Ralf
(2008), S. 128-130; Schulte, Christof (2005), S. 493-497.
587 Dabei wird üblicherweise nicht der aus der Handelsbranche verwendete Begriff des Cross-
Docking eingesetzt.
588 Zur Distributionsstruktur und zur Bezeichnung sowie Erläuterung der Knotenpunkte vgl.
Abschnitt 4.2.
221
Transit-Terminal:
Auflösungs-, Sortier- u. Umschlagspunkt,
z. B. an einem internationalen Flughafen
Anlieferung 1
Anlieferung 2
Warenannahme
Warenauslieferung
Auslieferung 1
Anlieferung 3
Anlieferung 4
Anlieferung 5
Auslieferung 2
Auslieferung 3
Auslieferung 4
Auslieferung 5
Auslieferung 6
Auflösen
Umschlagen
Sortieren
Abbildung 60: Cross-Docking589
Die mit der Umsetzung des Cross Docking verbundenen Zielerreichungsgrade in
Bezug auf Kosten und Service lassen sich im internationalen Katastrophenmanagement gegebenenfalls verbessern, indem logistische Methoden eingesetzt werden,
von denen einige exemplarisch in Kapitel 4 vorgestellt wurden: Methoden der
Standortplanung lassen sich einsetzen, um die Anzahl und Standorte der Umschlagspunkte für das Cross Docking im internationalen Katastrophenmanagement
zu bestimmen.590 Dies gilt sowohl für langfristig aufgebaute Knotenpunkte (z. B. an
Flughäfen) als auch für kurzfristig nach einer Katastrophe aufzubauende Temporary
Collection Sites. Methoden der Tourenplanung lassen sich einsetzen, um die Beladung und Auslastung der Transportmittel sowie die Stecken der Auslieferung im
Rahmen des Umschlags von einem Transportmittel auf ein weiteres zielgerichtet zu
bestimmen.591 Welche Art des Cross-Docking und welche Methoden der Transportund Tourenplanung zum Einsatz kommen, hängt unter anderem von der jeweiligen
Distributionsstufe sowie der Art und Menge der zu verteilenden Hilfsgüter ab. Je
näher sich die Transporte und Touren an den bedürftigen Menschen befinden desto
geringer sind die Mengen, die an jeden einzelnen Empfänger auszuliefern sind. Das
bedeutet, dass auf der Stufe der „Temporary Collection Sites“ tendenziell eher ein
Pack-Cross-Docking und ein Tourenplan mit mehreren Empfängern umzusetzen ist,
während auf den vorgelagerten Stufen auch ein sortenreines Cross-Docking mit
nachfolgenden Transporten umgesetzt wird. Im Rahmen des Pack-Cross-Docking
werden artikelreine Ladungsträger (mit jeweils nur einem Hilfsgut) an den Umschlagspunkt geliefert, dort empfängerbezogen umsortiert sowie gebündelt und zur
folgenden Distributionsstufe bzw. zu den bedürftigen Menschen geliefert. Im Gegensatz dazu werden beim sortenreinen Cross-Docking die artikelreinen Ladungsträger (z. B. Paletten) an den Empfänger ohne Anbruch ausgeliefert. Der Umschlag
589 In Anlehnung an Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 129.
590 Vgl. zur Standortplanung Abschnitt 4.2.2.
591 Zur Transport- und Tourenplanung vgl. Abschnitt 4.2.3.
222
betrifft in diesem Fall die Beladung der Transportmittel mit Hilfsgütern, die sich vor
und nach dem Cross-Docking unterscheidet.592
Cross-Docking weist jedoch auch Grenzen auf. Nicht alle Hilfsgüter lassen sich
ausschließlich über Cross-Docking von den Herstellern über die Stufen der Wertschöpfungskette zu den bedürftigen Menschen bringen. Die Transportwege und
damit verbundenen -zeiten sind häufig zu lang, sodass eine zeitnahe Versorgung
nicht mehr möglich ist. Zentrallager und gegebenenfalls Lager weiterer Stufen müssen Hilfsgüter in der Nähe der Katastrophengebiete bevorraten, damit die betroffene
Bevölkerung innerhalb einer akzeptablen Zeit versorgt werden kann. Bei der Auswahl der Hilfsgüter, die bevorratet werden sollten, und der Lagerorte können die
Ergebnisse der ABC-XYZ-Analyse eine erste Entscheidungsgrundlage darstellen:593
? Aus der ABC-Klassifizierung eignen sich insbesondere die hochwertigen Güter
(A-Güter) und ggf. auch mittelwertige B-Güter für ein Cross-Docking: Der
Abbau der Lagerbestände führt bei diesen Gütern zum Abbau hoher Werte und
damit zum Abbau vergleichsweise hoher Kapitalbindungskosten. A-Regionen,
in denen Menschen besonders häufig zu Katastrophen betroffen sind, eignen
sich als Standorte für die zu bevorratenden C-Güter. ? Aus der XYZ-Klassifizierung eigenen sich insbesondere die regelmäßig benötigten X-Güter (ggf. auch Y-Güter) für eine Bevorratung. Diese sollten vorrangig in denjenigen Regionen bevorratet werden, in denen die Regelmäßigkeit betroffener Menschen mit einem Bedarf an diesen Hilfsgütern besonders hoch ist
(X-Region). Cross-Docking eignet sich insbesondere für unregelmäßige Bedarfe
(Z-Güter und Z-Regionen). ? Weitere Klassifizierungen, z. B. zum Beitrag für das Überleben und die Gesundheit der Menschen, zum Volumen und zur Haltbarkeit liefern weitere Entscheidungsgrundlagen für die Umsetzung eines Cross-Docking. Je wichtiger die
Hilfsgüter für das Leben und die Gesundheit der betroffenen Menschen sind, je
geringer das Volumen ist und je länger die Haltbarkeit der Hilfsgüter ist, desto
eher eignet sich tendenziell eine bewusste Lagerhaltung, während im anderen
Fall ein Cross-Docking geeignet sein kann.
Ebenfalls ist zu beachten, dass das Cross-Docking nicht geeignet ist, wenn aufgrund
voll ausgelasteter Transportmittel über einen Knoten der Distributionsstruktur hinweg ein Umschlag nicht erforderlich ist. In diesem Fall ist sowohl aus Sicht der
kosten- als auch der servicebezogenen Entscheidungskriterien eine Direktbelieferung dem Cross-Docking vorzuziehen.594
592 Zum Pack-Cross-Docking und sortenreinen Cross-Docking vgl. z. B. Vahrenkamp, Richard
(2007), S. 363. Ergänzende Erläuterung zur ein-, zwei- und mehrstufigen Umsetzung des
Cross Docking enthält z. B. Auffermann, Christiane (2008), S. 527.
593 Zur ABC-XYZ-Analyse vgl. Abschnitt 4.1.
594 Zur Direktbelieferung bzw. Direct Store Delivery vgl. z. B. Auffermann, Christiane (2008),
S. 528; Vahrenkamp, Richard (2007), S. 363.
223
Ergänzend lassen sich Ergebnisse einer Netzplantechnik als Entscheidungsgrundlage
für die Umsetzung eines Cross-Docking nutzen. Wenn ein Cross-Docking beispielsweise anstelle der Haltung von Lagerbeständen umgesetzt werden soll, um die
Zeiten der Versorgung betroffener Menschen in einem Katastrophengebiet zu verkürzen, so eignet sich diese Maßnahme nur für Vorgänge (Prozesse, Prozesselemente), die auf dem kritischen Pfad liegen. Nur für diese Vorgänge wirken sich Verkürzungen der Vorgangszeiten auch direkt und in vollem Umfang auf die gesamte Projektzeit – und damit auf die Zeit bis zur Versorgung der betroffenen Bevölkerung –
aus.595
5.2.2.3 Vendor Managed Inventory
Bei der Umsetzung eines Vendor Managed Inventory (VMI) erfolgt die Disposition
der Lager- bzw. Filialbestände durch die vorgelagerte Wertschöpfungsstufe,596 so
übernimmt beispielsweise ein Industrieunternehmen die Disposition der Lagerbestände im Zentrallager eines Handelsunternehmens.597 Die zielgerichtete Umsetzung
setzt die Kenntnis der für die Disposition verantwortlichen Wertschöpfungsstufe
über Lagerbestände, Abverkaufsdaten und / oder -prognosen – und damit eine Informationsintegration – voraus.598 Eine Reduzierung des Bullwhip-Effektes wird
durch die Vermeidung doppelter Sicherheitsbestände angestrebt, und darüber hinaus
werden steigende Servicegrade durch die Vermeidung von „out-of-stock“-Situationen angestrebt. Weitere Kosteneinsparungen lassen sich ggf. auf der nachgelagerten Wertschöpfungsstufe durch den reduzierten Dispositionsaufwand sowie auf der
vorgelagerten Wertschöpfungsstufe durch verbesserte Planungsdaten für die Produktionsplanung und Transporte (und folglich höhere Kapazitätsauslastungen) erzielen.599
Eine erfolgreiche Umsetzung des VMI wird beispielsweise durch „L’Oréal“ und die
„dm-drogerie markt“-Kette beschrieben. Durch die Übertragung der Bestandsverantwortung für das Zentrallager von dm an den Lieferanten L’Oréal ließen sich bei
„dm“ zusätzlich zum Wegfall des Dispositionsaufwandes Bestandskosten im Zent-
595 Zur Netzplantechnik und zum kritischen Pfad vgl. Erläuterungen in Abschnitt 4.3.2.
596 Vgl. z. B. Arnold, Ulli / Warzog, Frank (2001), S. 33; Christopher, Martin (2005), S. 133-
134; Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 128; Murphy, Paul R. / Wood, Donald R.
(2004), S. 284-285; Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 126.
597 Die Umsetzung eines VMI am Beispiel der Drogeriemarktkette dm mit einem Lieferanten
wird beispielsweise beschrieben in Friedrich v. d. Eichen, Brigitta / Friedrich v. d. Eichen,
Stephan (2004), S. 175-195; vgl. auch Bölsche, Dorit (2006), S. 254-257.
598 Vgl. Hegemanns, Tobias / Maaß, Jan-Christoph / Toth, Michael (2008), S. 469-472; Murphy,
Paul R. / Wood, Donald R. (2004), S. 284; Vahrenkamp, Richard (2007), S. 362.
599 Vgl. Christopher, Martin (2005), S. 133-134; Hegemanns, Tobias / Maaß, Jan-Christoph /
Toth, Michael (2008), S. 468-469; Schulte, Christof (2005), S. 498. Kritische Anmerkungen
zur Eignung des VMI finden sich beispielsweise in Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S.
128.
224
rallager um 30% reduzieren und der Servicegrad um 1% erhöhen. Bei L’Oréal wurden die nun zusätzlich anfallenden Kosten der Disposition durch Kosteneinsparungen ausgeglichen, die aufgrund verbesserter Planungsdaten für Produktion und
Transport herangezogen werden konnten. Zusätzlich konnte die angestrebte Verbesserung des Logistikservice durch die Erhöhung des Servicegrads im Handel und die
verbesserte Planung von Sortimentswechseln erzielt werden.600
Im internationalen Katastrophenmanagement sind die Einsatzpotenziale des Konzeptes Vendor Managed Inventory aus mehreren Gründen nur begrenzt vorhanden.
Zunächst ist zu bedenken, dass dieses Konzept für gleiche Hilfsgüter und Wertschöpfungsstufen nicht in Verbindung mit dem voranstehend beschriebenen Cross-
Docking umgesetzt werden kann, da Vendor Managed Inventory im Gegensatz zum
Cross-Docking eine bewusste Lagerhaltung vorsieht.
Für diejenigen Hilfsgüter, die eine Eignung für die bewusste Lagerhaltung aufweisen (tendenziell kleinvolumige, haltbare CX-Güter), ist zu entscheiden, bei welcher
Wertschöpfungsstufe die Verantwortung für die Bestände und die Disposition liegen
soll. In der Zusammenarbeit zwischen einer Hilfsorganisation und den Lieferanten
liegt diese Verantwortung traditionell bei der Hilfsorganisation, die die Bestellungen
der Hilfsgüter nach dem gewählten Dispositionsverfahren, z. B. bei Unterschreitung
bestimmter Lagerbestände, auslöst (Buyer Managed Inventory).601
In der Umsetzung eines Vendor Managed Inventory (VMI) wird die Verantwortung
für die Bestände der Hilfsorganisation – und damit auch für die Disposition der
Hilfsgüter – auf den Lieferanten übertragen. Vorteile für die Hilfsorganisation können darin bestehen, dass (Personal-) Kosten für die Disposition sinken. Der Vorteil
der Hersteller bzw. Lieferanten besteht darin, dass Kapazitäten in Bezug auf Produktion und Transporte besser ausgelastet werden können. Zudem lassen sich bei verbessertem Informationsaustausch zwischen einer Hilfsorganisation und den Lieferanten gegebenenfalls Bestände in der gesamten Wertschöpfungskette abbauen.602
Die Vorteile lassen sich jedoch nur für Hilfsgüter mit den oben benannten Eigenschaften auf der Ebene der Zentrallager bzw. der Slow Rotation Warehouses umsetzen. Auf der Ebene der Quick Rotation Warehouses und der Temporary Collection
Sites (Regional- und Auslieferungslager) verbleibt nicht genügend Zeit für Informationsaustausche über Bedarfsprognosen mit Akteuren der vorgelagerten Wertschöpfungsstufe, da nach dem Eintritt einer Katastrophe eine möglichst zeitnahe Ausführung der logistischen Prozesse erforderlich ist und vorherige Prognosen über den
Eintritt und die Folgen einer Katastrophe auf regionaler Ebene nur begrenzt möglich
sind. Hilfsorganisationen können nicht wie Handelsunternehmen auf Informationen
über vergangene Abverkäufe (über Daten am point-of-sale) oder zukünftige Abver-
600 Eine ausführliche Beschreibung des Fallbeispiels findet sich in Senger, Enrico / Österle,
Hubert (2003).
601 Zur Abgrenzung der Begriffe Buyer Managed Inventory und Vendor Managed Inventory vgl.
z. B. Hegemanns, Tobias / Maaß, Jan-Christoph / Toth, Michael (2008), S. 468.
602 Die Vorteile werden beispielsweise in Hegemanns, Tobias / Maaß, Jan-Christoph / Toth,
Michael (2008), S. 469 benannt.
225
käufe (über Prognosen auf der Basis vergangenheitsbezogener Date und geplanter
Verkaufsaktionen) zurückgreifen.
Auf der Ebene der Zentrallager und der Slow Rotation Warehouses können übergreifende Prognosen für das internationale Katastrophenmanagement, z. B. für Kontinente oder Gebiete der Kontinente auf der Grundlage statistischer Daten (z. B. des
EM-Dat), für Bedarfsprognosen herangezogen werden. Diese lassen sich mit der Art
der Katastrophe und dem erwarteten Ausmaß verbinden und so in erwartete Bedarfe
für einzelne Hilfsgüter transformieren. Hilfsorganisationen stehen nun für die Disposition der Zentrallager vor der Entscheidung, die Disposition weiterhin für alle
Hilfsgüter selbst durchzuführen oder diese für geeignete Hilfsgüter an den Lieferanten zu übertragen. Über eine Wirtschaftlichkeitsberechnung hinaus (Wie hoch sind
die erwarteten Einsparungen durch die Übertragung der Disposition und die Reduzierung von Beständen? Wie hoch sind die erwarteten Kosten für Abstimmung und
Kontrolle? Welche Verbesserungen im Hinblick auf Servicegrößen sind zu erwarten? Wie hoch sind die Kosten der Informationsintegration?) sollten weitere Fragestellungen in die Entscheidung über VMI einbezogen werden. Hierzu zählt beispielsweise die Fragestellung, ob das eigene Expertenwissen über die Bedarfsprognose an Lieferanten übertragen werden kann bzw. soll.
Die Erläuterungen dieses Abschnitts deuten darauf hin, dass Einsatzpotenziale für
ein Vendor Managed Inventory zwischen Hilfsorganisationen und Lieferanten im
internationalen Katastrophenmanagement nur begrenzt vorhanden sind. Ebenfalls ist
zu beachten, dass auch in der Umsetzung eines VMI zwischen Hersteller und Handelsunternehmen die angestrebten Zielerreichungsgrade in vielen Fällen nicht realisiert werden konnten.603 Aus diesem Grund wird nachfolgend das Konzept Collaborative Planning, Forecasting, and Replenishment beschrieben. Dieses Konzept sieht
im Gegensatz zu den Konzepten des Buyer Managed Inventory (BMI) und Vendor
Managed Inventory, bei denen die Disposition jeweils nur durch einen Akteur vorgenommen wird, eine Kooperation zwischen den Wertschöpfungsstufen vor.
603 Für die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen Henkel und Eroski wird dies z. B.
beschrieben in Jouenne, Thierry (2000).
226
5.2.2.4 Collaborative Planning, Forecasting, and Replenishment
Collaborative Planning, Forecasting, and Replenishment (CPFR) wurde im Jahr
1998 durch die Voluntary Interindustry Commerce Standards Association (VICS)
entwickelt und umgesetzt.604 Das Konzept und Referenzmodell stellt eine Weiterentwicklung des Referenzmodells ECR dar und richtet sich auf vergleichbare Zielgrößen wie die in den vorangehenden Abschnitten beschriebenen Konzepte des
SCM. Mit Bezug auf logistikorientierte Fragestellungen werden ein Abbau der Bestände, eine verbesserte Auslastung der Kapazitäten in der Produktion und bei
Transporten sowie eine Erhöhung des Logistikservice angestrebt.605
Bei der Umsetzung eines Collaborative Planning, Forecasting, and Replenishment
(CPFR) werden Prognosen, Planungen und Bestellungen zwischen aufeinander
folgenden Wertschöpfungsstufen gemeinsam vorgenommen. So erfolgt auch die
Disposition nicht alleine durch eine Wertschöpfungsstufe (wie bei BMI und VMI)
sondern durch eine Abstimmung zwischen den beteiligten Partnern; der Bullwhip-
Effekt lässt sich damit über eine Stufe der Wertschöpfungskette abbauen. Zukunftsbezogene Prognosedaten, die gemeinsam erstellt und regelmäßig angepasst werden,
bilden eine wesentliche Informationsgrundlage (während BMI und VMI sich häufig
auf vergangenheitsbezogene Daten richten).606
Für den Lieferanten Henkel und die Handelskette Eroski wird beispielsweise beschrieben, dass zunächst ein dem Vendor Managed Inventory vergleichbares Konzept umgesetzt wurde, die erwarteten Zielgrößenverbesserungen aber nicht erzielt
werden konnten. Mit der Realisierung des CPFR ließ sich die Prognosegüte durch
gemeinsam erstellte Prognosen wesentlich verbessern, mit der Folge, dass bezogen
auf die Zielgrößen Servicegrad im Zentrallager (98%), Servicegrad im Einzelhandel
(99%), Auslastung der Transporte (98%) und der eingesetzten Paletten (99%) die
angestrebten Anspruchsniveaus erfüllt werden konnten.607
Für das internationale Katastrophenmanagement richtet sich das Einsatzpotenzial
des CPFR auf vergleichbare Hilfsgüter (z. B. mit Tendenz zu CX) und Lagerstufen
(z. B. Stufe der Zentrallager) wie das Konzept des Vendor Managed Inventory.608
Für diese Güter weist das Konzept des CPFR gegenüber VMI einen wesentlichen
Vorteil auf: Die Kompetenzen der Hilfsorganisationen lassen sich in den Prognosen,
Planungen und Bestellungen mit dem Expertenwissen privatwirtschaftlich ausgerichteter Unternehmen kombinieren. Dabei richtet sich das Expertenwissen der
604 Vgl. www.vics.org sowie www.cpfr.org. Vgl. auch VICS (Hrsg.) (2004).
605 Vgl. Hegemanns, Tobias / Maaß, Jan-Christoph / Toth, Michael (2008), S. 477.
606 Vgl. Bowersox, Donald J. / Closs, David J. / Cooper, Bixby M. (2007), S. 74-75; Chopra,
Sunil / Meindl, Peter (2004), S. 488-489; Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 131-133;
Schulte, Christof (2005), S. 498; Vahrenkamp, Richard (2007), S. 373-381.
607 Eine ausführliche Beschreibung des Falls findet sich in Jouenne, Thierry (2000). Ähnliche
Auswirkungen auf Zielgrößen nach der Einführung von CPFR werden z. B. durch das Unternehmen Motorola dokumentiert. Vgl. Hierzu Cederlund, Jerold P. u.a. (2007), S. 28-35.
608 Vgl. Abschnitt 5.2.2.3.
227
Hilfsorganisationen z. B. auf die Prognosen über Bedarfe der betroffenen Bevölkerung in Katastrophenfällen sowie auf zu beachtende Rahmenbedingungen in den
Katastrophengebieten und das Expertenwissen der Hersteller bzw. Lieferanten auf
die Umsetzung logistischer Methoden und Instrumente, z. B. in Bezug auf die
Einsatzpotenziale und Grenzen alternativer Dispositionsverfahren und Lagerhaltungsstrategien.
Die nachfolgend dargestellte Abbildung 61 des Konzeptes CPFR lässt sich mit dem
Kreislauf des Katastrophenmanagements in Abstimmung bringen, da es ebenfalls als
Kreislaufmodell verstanden wird und sich ebenfalls auf strategische und operative
Aufgabenbereiche richtet.
Abbildung 61: Überblick über das Konzept CPFR609
Fragestellungen der operativ ausgerichteten Katastrophenbewältigung finden sich im
Feld der Ausführung bzw. „Execution“. Hier lassen sich Anpassungen der Prognosen, Planungen und Bestellungen bei sofortigen Rettungsmaßnahmen und weiteren
humanitären Hilfsmaßnahmen sowie Bestellungen als Maßnahmen des Wiederaufbaus (z. B. Wiederaufbau der Bestände im Zentrallager) abbilden. Die anderen drei
Felder des CPFR-Modells lassen sich mit den Aufgaben der strategisch ausgerichte-
609 VICS (Hrsg.) (2004), S. 11.
228
ten Katastrophenvorsorge verbinden: Die Vorbeugung ist Gegenstand der Strategie
und Planung, Monitoring und Frühwarnung finden sich im Feld Demand & Supply
Management, und die Risikoanalyse ist ein Gegenstand der übergreifenden Analyse
des CPFR.610
Strategie
& Planung
Hersteller/
Lieferant
Gemeinsame
Aktivitäten
Hilfsorganisation
Festlegung der
Rahmenbedinungen
Erstellung eines
Geschäftsplans
Bedarfs- &
Absatz-
Planung
Bedarfsprognose
Identifizierung u.
Klärung v. Ausnahmen
Bedarfsprognose
Bestellprognose
Identifizierung u.
Klärung v. Ausnahmen
Bestellprognose
Bestandsführung
Auftragsgenerierung
Auftragsabwicklung
Analyse Störungsmanagement
Kooperationsbewertung
Abbildung 62: Kooperationsbereiche im Konzept des CPFR611
Eine Anpassung des Konzeptes auf ist bei einer Anwendung im internationalen
Katastrophenmanagement sowohl in Bezug auf die Akteure als auch in Bezug auf
die Inhalte erforderlich: Anstelle der Konsumenten („Consumer“) sind die bedürftigen Menschen in das Zentrum des Kreislaufmodells zu stellen, und anstelle der
Handelsunternehmen („Retailer“) sind Hilfsorganisationen in das Modell einzubin-
610 Zum Kreislauf des Katastrophenmanagements vgl. Erläuterungen und Abbildung in Abschnitt
2.2.
611 In Anlehnung an Corsten, Hans / Gössinger, Ralf (2008), S. 132; Hegemanns, Tobias / Maaß,
Jan-Christoph / Toth, Michael (2008), S. 478. Eine detailliertere Übersicht stellt Vahrenkamp,
Richard (2007), S. 374 dar, diese ist jedoch stark auf Prozesse des Handels gerichtet.
229
den. Damit sind auch die detailliert beschriebenen Aufgabenbereiche an das Katastrophenmanagement anzupassen und weniger auf den Verkauf sondern vielmehr
auf die zielgerichtete Abgabe und Verteilung der Güter zu richten. Die Kernelemente des CPFR lassen sich trotz dieses Anpassungsbedarfs auf das Katastrophenmanagement übertragen (vgl. Abbildung 62). Sowohl Hilfsorganisationen als auch Hersteller erstellen zwar zunächst Einsatz ihres individuellen Expertenwissens die Bedarfs- und Bestellprognosen; die Ergebnisse werden vor der Auftragsgenerierung
und -abwicklung jedoch abgestimmt und in eine gemeinsame Prognose- und Planungsgrundlage überführt. Strategische Aufgabenbereiche sowie die Analyse erfolgen ebenfalls kooperativ.612 Auch für die Entscheidung über die Einführung eines
CPFR gilt, dass das Konzept einer Wirtschaftlichkeitsanalyse und weiteren Bewertungen zu unterziehen ist. Dabei ist z. B. zu berücksichtigen, dass mit der Informationsintegration der Wertschöpfungspartner und der Koordination Kosten verbunden
sind.613
5.3 Outsourcing und Kooperationen
5.3.1 Grundlagen und Begriffe
Die grundlegenden Erläuterungen in Abschnitt 5.1.1 haben gezeigt, dass die Ursprünge des Supply Chain Management eng mit der Fragestellung nach der Eigenerstellung und dem Fremdbezug von Leistungen verbunden sind. Unternehmensübergreifende Wertschöpfungsketten entstehen unter anderem aufgrund einer Fremdvergabe von Leistungen. Das Outsourcing wird in diesem Zusammenhang mit der
Erzeugung höherer Werte in einer Wert(schöpfungs)kette durch externe Partner
begründet.614 Mit einem solchen strategisch ausgerichteten Outsourcing entstehen
Kooperationen zwischen Wertschöpfungspartnern einer Supply Chain. Aus diesem
Grund werden die Themenstellungen Outsourcing und Kooperationen in diesem
gesonderten Abschnitt gemeinsam behandelt. Kooperationen sind aber nicht zwingend die Folge von Outsourcing-Entscheidungen; auch andere Kooperationsformen
werden in Supply Chains realisiert (einige dieser Kooperationen sind als Konzepte
des SCM, wie VMI und CPFR bereits vorgestellt worden).
Die Beispiele des nachfolgenden Abschnitts werden zeigen, dass Entscheidungen
über Eigenerstellung und Fremdbezug sowie die Gestaltung von Kooperationen
auch in Wertschöpfungsketten des internationalen Katastrophenmanagements eine
hohe und zugleich zunehmende Bedeutung aufweisen. Die Beispiele zum Thema
612 Eine ausführliche Beschreibung der Prozessschritte des CPFR mit Erläuterungen zu den
kooperativen Aufgabenbereichen enthält Vahrenkamp, Richard (2007), S. 374-381.
613 Zur informationstechnischen Umsetzung des CPFR vgl. z. B. Hegemanns, Tobias / Maaß,
Jan-Christoph / Toth, Michael (2008), S. 480.
614 Vgl. Abschnitt 5.1.1 und dort angegebene Quellen, z. B. Christopher, Martin (2005) und
Porter Michael E. (1985).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.