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3.2 Logistik im Katastrophenmanagement
3.2.1 Schwachstellen in der Vergangenheit
In Abschnitt 2.1.3 wurden mit dem Hurrikane Katrina in den USA, dem Erdbeben in
Pakistan und dem Tsunami in Asien unterschiedliche Beispiele für Katastrophen
dargestellt. Bisherige Analysen über das Katastrophenmanagement haben Schwachstellen aufgezeigt, die sich insbesondere auf die Logistik richten. Die folgenden
Zitate beziehen sich auf solche Schwachstellen, die beispielsweise auf eine zerstörte
Infrastruktur, begrenzte Kapazitäten, Lieferengpässe unterschiedlicher Art und Koordinationsprobleme in der Wertschöpfungskette zurückzuführen sind.
? Im Jahr 2005 wurden nach dem Hurrikane Katrina sowohl ein Versagen der
Infrastruktur als auch Schwachstellen in der logistischen Leistungserstellung
identifiziert:
„Media reports and subsequent inquiries of the rescue and relief efforts in the aftermath
of Hurricane Katrina have been critical of the failures of the official infrastructure, and
identified gaps that need to be addressed before the onset of the next hurricane season.”205
Von mehreren Aussagen, denen die befragten betroffenen Menschen entweder
zustimmen oder ablehnen sollten, erfährt die folgende Aussage mit 29% die geringste Zustimmung: „You feel save knowing that relief agencies are providing
the best possible services and resources.”206 Die Distribution einiger Hilfsgüter,
wie Wasser und Lebensmittel, wurde relativ gut bewertet (81% der Befragten
gaben eine zeitnahe Verteilung an, 88% gaben an, dass geeignete Hilfsgüter und
ausreichende Mengen verteilt wurden). Dreiviertel der betroffenen Menschen
erhielten jedoch innerhalb der ersten 30 Tage keine Kleidung, Unterstützung bei
Umzügen oder vergleichbare Leistungen.207 Eine besondere Beachtung in der
logistischen Leistungserstellung muss in Zukunft dem Bedarf der betroffenen
Menschen zukommen. In den ersten 48 Stunden nach dem Hurrikane wurden
Menschen mit dem größten Bedarf an Hilfeleistungen – nämlich diejenigen, die
nicht evakuiert wurden – in geringerem Maße unterstützt als die evakuierten
Menschen.208 ? Nach dem Erdbeben in Pakistan bestand eine besondere Herausforderung an die
logistische Leistungserstellung, da Gebiete in den Bergen nur schwer zugänglich
waren. Nicht nur wenige Tagen und Wochen nach dem Erdbeben sondern auch
nach zehn Monaten wurden gravierende Lücken in der Versorgung der betroffenen Bevölkerung mit Hilfsgütern identifiziert.209 Im Vergleich der Befragungen
205 Fritz Institute (Hrsg.) (2006), S. 2.
206 Fritz Institute (Hrsg.) (2006), S. 20.
207 Vgl. Fritz Institute (Hrsg.) (2006), S. 6.
208 Vgl. Fritz Institute (Hrsg.) (2006), S. 7.
209 Vgl. Bliss, Desiree / Larsen, Lynnette (2006).
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zwei und zehn Monate nach dem 8. Oktober 2005 hat sich die Situation für einige benötigte Hilfsgüter (insbesondere gilt dies für Lebensmittel) im Zeitablauf
sogar weiter verschärft:
„Fifty percent (50%) or more of the respondents in need of livelihood restoration, drinking water, sanitation, clothing and relocation at the two-month mark had not received
services; at the ten-month mark, even larger percentages of those households in need of
the same services reported receiving none. The percentage of those who needed but did
not receive food almost doubled over the same period.”210 ? Zahlreiche Herausforderungen und Schwachstellen der Logistik und des SCM
im Katastrophenmanagement lassen sich in Sri Lanka, Indien und Indonesien
nach dem Tsunami vom 26. Dezember 2004 identifizieren:
„In the immediate aftermath of the Tsunami, as relief goods flooded airports and warehouses in the affected regions, aid agencies struggled to sort through, store and distribute
the piles of supplies while disposing of those that were inappropriate.
In Sri Lanka, the sheer number of cargo-laden humanitarian flights overwhelmed the capacity to handle goods at the airport. Downstream, relief agencies struggled to locate
warehouses to store excess inventory.
In India, transportation pipelines were bottlenecked.
In Indonesia, the damaged infrastructure combined with the flood of assistance from the
military representatives from several countries and the large numbers of foreign aid
agencies created a coordination and logistical nightmare.”211
Für Indien und Sri Lanka gaben beispielsweise 40% bzw. 42% der beteiligten
Hilfsorganisationen an, dass die Lagerkapazitäten nicht ausreichten (ebenso
40% bzw. 52% der Transportkapazitäten).212 Weitere Lücken wurden in der
Verfügbarkeit erforderlicher Medikamente (in Sri Lanka 60%) und Materialien
sowie in der Kommunikation identifiziert, die Werte lagen sowohl für Indien als
auch in Sri Lanka bei jeweils über 20%.
Aus den erkannten Schwachstellen der bisherigen logistischen Leistungen in der
humanitären Supply Chain hat das Fritz Institute im Jahr 2005 übergreifende
Schwachstellen bzw. Lücken identifiziert:213
? Die Bedeutung der Logistik wird nicht erkannt. ? Das eingesetzte Personal verfügt nicht über das erforderliche logistische Expertenwissen. ? Verfügbare Technologien – wie Sendungsverfolgungssysteme – werden nicht
geeignet eingesetzt. ? Logistische Prozesse werden nicht systematisch verbessert.
210 Bliss, Desiree / Larsen, Lynnette (2006), S. 5.
211 Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 1.
212 Vgl. Thomas, Anisya / Ramalingam, Vimala (2005a), S. 3, 11 und 25.
213 Vgl. Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 5-6; vgl. auch Thomas, Anisya (2003), S.
1.
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? Die Zusammenarbeit zwischen den (logistischen) Akteuren der Wertschöpfungskette weist Mängel auf.
Der aus der Schwachstellenanalyse identifizierte Handlungsbedarf mündet in Maßnahmenpaketen, zu denen
? die Kommunikation über die strategische Bedeutung der Logistik im Katastrophenmanagement, ? die Bildung von Expertengruppen, ? eine standardisierte und zertifizierte Logistikausbildung für das Personal, standardisierte logistische Kennzahlen und ? die Entwicklung geeigneter und flexibler technologischer Lösungen zählen.214
Zur Umsetzung dieser Maßnahmen sollen Methoden und Konzepte der Logistik und
des SCM eingesetzt werden, die sich in der Privatwirtschaft bereits bewährt haben.215 Hierzu bedarf es zunächst eines Verständnisses über die Methoden und deren
Einsatzpotenziale im Katastrophenmanagement:
„Humanitarian Logistics has much in common with corporate logistics, …”216 „However, the
applicability of these commercial supply chain methods and other corporate logistics and related research to humanitarian operations is not fully understood.”217 „It is paradoxical that a
sector which has such extreme requirements in terms of timeliness, affordability and oversight
is so undeveloped.”218
3.2.2 Begriffe zur Logistik im Katastrophenmanagement
Die Beispiele haben einen Eindruck darüber vermittelt, dass Schwachstellen in der
logistischen Leistungserstellung in Katastrophenfällen bestanden und immer noch
bestehen. Logistische Methoden, die erfolgreich in der Privatwirtschaft eingesetzt
werden, sowie Konzepte des Supply Chain Management sind auf ihre Einsatzpotenziale zu überprüfen. Die Bedeutung dieser Ansätze der Logistik für das Katastrophenmanagement werden im nachfolgenden Abschnitt 3.2.3 kurz skizziert und im
anschließenden Kapitel ausführlich behandelt.
Zunächst ist eine Begriffsabgrenzung der unterschiedlichen in Literatur und Praxis
verwendeten Begriffe erforderlich. In Bezug auf die logistische Leistungserstellung
werden unter anderem die Begriffe humanitäre Logistik (insbesondere als humanita-
214 Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 7-12; Thomas, Anisya (2003), S. 7-13.
215 Vgl. Economist Intelligence Unit (Hrsg.) (2005), S. 20; Pan American Health Organization /
World Health Organization (Hrsg.) (2001), S. 9.
216 Thomas, Anisya (2003), S. 2.
217 Fritz Institute (Hrsg.) (2004), S. 5; vgl. auch Thomas, Anisya (2003), S. 1.
218 Thomas, Anisya (2003), S. 2.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.