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5.1.6 Integration, Koordination und Managementaufgaben
Integration erfolgt im Supply Chain Management auf mehreren Ebenen. Über die
Integration der Material- und Informationsflüsse hinaus ist eine Integration durch
Koordination zwischen den beteiligten Wertschöpfungspartnern charakteristisches
Element und Ausdruck der Institutionenorientierung des SCM.
Die Integration der Materialflüsse basiert auf dem vorangehend erläuterten Pull-
Prinzip und damit durch die konsequente Ausrichtung der Materialflüsse auf die
jeweils nachfolgenden Wertschöpfungsstufen.
Da die Integration des Materialflusses über die gesamte Wertschöpfungskette i. d. R.
über eine zeitnahe Informationsbereitstellung der relevanten Nachfragedaten für die
vorgelagerten Akteure in der Wertschöpfungskette realisiert wird, ist eine Informationsintegration notwendige Voraussetzung für ein zielgerichtetes Supply Chain
Management.538 Eine Informationsintegration setzt sich aus mehreren Bestandteilen
zusammen, hierzu zählen unter anderem ERP-Systeme (Enterprise-Resource-
Planning), SCM-Software, Datenbanksysteme, Systeme für den elektronischen Geschäftsdatenaustausch, automatische Identifikationssysteme sowie Systeme zur
Gestaltung der Schnittstellen.539 An späterer Stelle erfolgt eine ausführliche Vorstellung der Informationssysteme im Supply Chain Management (vgl. hierzu Kapitel 6),
dabei findet die Eignung und Umsetzung der Systeme im Katastrophenmanagement
besondere Berücksichtigung.
„Koordination umfasst die zielgerichtete Abstimmung mehrerer Aktionen oder Entscheidungen verschiedener Akteure.“540 Beziehungen zwischen Akteuren und Institutionen werden auf der Koordinationsebene durch Regeln541 charakterisiert, die
soweit allgemeine Anerkennung erlangt haben, dass die Akteure wechselseitige
Verhaltenserwartung besitzen.542 Eine Integration auf der Koordinationsebene ist
notwendiger Bestandteil des unternehmensübergreifenden Supply Chain Management, denn “Supply chain management by definition is about the management of
relationships across complex networks of companies that, whilst legally independent, are in reality independent.”543 Die grundsätzlich selbständig agierenden Akteure
in einer Supply Chain müssen ihre Aktivitäten – unter Berücksichtigung der beschriebenen unternehmensübergreifenden Zielsetzungen – an den gemeinsamen
Zielen der Supply Chain ausrichten. Die unternehmensbezogenen Zielsetzungen
538 Vgl. Murphy, Paul R. / Wood, Donald F. (2004), S. 47, 49-50.
539 Vgl. z. B. Chopra, Sunil / Meindl, Peter (2004), S. 510-526; Corsten, Hans / Gössinger, Ralf
(2008), S. 160-181; Schulte, Christof (2005), S. 61-146 und 539.
540 Bölsche, Dorit (2001), S. 53. Vgl. auch weitere dort angegebene Literaturquellen zur Vielzahl
unterschiedlicher Definitionsansätze.
541 Auch Property Rights im Sinne von Eigentums- und Verfügungsrechten und -pflichten;
Murphy, Paul R. / Wood, Donald F. (2004) betonen die Bedeutung von „formal contracts“ (S.
47).
542 Vgl. Bölsche, Dorit (2001), S. 52; Erlei, Mathias / Leschke, Martin / Sauerland, Dirk (1999),
S. 520, Richter, Rudolf / Furubotn, Eirik G. (2003), S. 145.
543 Christopher, Martin (2005), S. 40.
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bleiben jedoch bestehen. Koordination dient im Supply Chain Management der
zielgerichteten Abstimmung über die verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette
und ermöglicht damit die Integration auf der Materialfluss- und Informationsebene.
Häufig mündet die unternehmensübergreifende Koordination im Supply Chain Management in Kooperationen. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Aufteilungsregel für den Gewinn bzw. für Wertsteigerungen einer Supply-Chain dar.544 In
den nachfolgenden Abschnitten wird am Beispiel des Katastrophenmanagements die
Koordination zwischen den Akteuren einer Wertschöpfungskette ausführlich aufgegriffen. Bei der Umsetzung einer Fremdvergabe und anderen Formen der Kooperation durch Konzepte des Supply Chain Management sind Entscheidungen über die
Wahl der Koordinationsform und Koordinationsinstrumente zu unterstützen und zu
treffen.
Die Umsetzung der Ziel- und Kundenorientierung sowie der Integrationsorientierung auf den dargestellten Ebenen stellen Managementaufgaben dar. Zur Systematisierung der komplexen operativen und strategischen Managementaufgaben, die
auch für das Katastrophenmanagement relevant sind, werden drei miteinander verbundene Aufgabenbereiche beschrieben:545
? Die Supply Chain Configuration (auch supply chain strategy / supply chain
design) ist strategisch ausgerichtet und umfasst beispielsweise auf der Koordinationsebene Entscheidungen über Eigenerstellung und Fremdbezug, die Auswahl der Wertschöpfungspartner sowie die Vertragsgestaltung. Auf der Ebene
der Material- und Informationsflüsse sind beispielsweise Entscheidungen über,
Standorte, logistische Kapazitäten sowie den Einsatz von Informations- und
Kommunikationstechnologien zu treffen. ? Supply Chain Planning umfasst die taktische Planungsebene und setzt die strategischen Entscheidungen der Supply Chain Configuration in mittel- bis langfristige Programme um. Im Sinne einer kundenorientierten Gestaltung der Wertschöpfungskette werden Planungsdaten über die zeitliche und quantitative Verteilung des Bedarfs in Prognosen für die einzelnen Akteure der Supply Chain
transformiert. Planungsgrundlage für Prognosen – und damit für die Dimensionierung der Materialflüsse – bilden vergangeinheits- und / oder zukunftsbezogene Informationen über die Bedarfe. ? Durch die Supply Chain Execution (auch Supply Chain Operation) werden die
mittel- bis langfristig ausgerichteten Leistungsprogramme bei Bedarf kurzfristig
angepasst und anschließend realisiert. Aktuelle Entwicklungen, z. B. in Bezug
auf Bedarfsentwicklungen, Lagerbestände, Lieferverzögerungen sowie Produktions- und Personalkapazitäten, werden in die Erstellung der kurzfristigen Planung und Umsetzung einbezogen.
544 Vgl. Bowersox, Donald J. / Closs, David J. / Cooper, Bixby M. (2007), S. 7-8; Klaus, Peter
(2007), S. 22; Schulte, Christof (2005), S. 526-530; Sucky, Eric (2004), S. 25 und 31.
545 Vgl. z. B. Corsten, Hans und Gössinger, Ralf (2008), S. 160-162; Chopra, Sunil / Meindl,
Peter (2004), S. 7-8; Sucky, Eric (2004), S. 27.
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Die Supply Chain Execution ist demnach im Katastrophenmanagement der Katastrophenbewältigung zuzuordnen, während Configuration und Planning der Supply
Chain Bestandteil der Katastrophenvorsorge sind.
Auf allen Integrationsebenen lassen sich Standards einsetzen, um den Zeit- und
Abstimmungsaufwand der Integration zu reduzieren. Auf der Materialflussebene ist
zu prüfen, ob sich standardisierte Behälter bzw. logistische Einheiten einsetzen lassen (z. B. Gitterbox, Europalette), auf der Ebene der Informationsflüsse stehen informatorische Standards zur Verfügung (z. B. durch Standards für den elektronischen Geschäftsdatenaustausch sowie für den Einsatz automatischer Identifikationssysteme), und auf der Koordinationsebene lassen sich über Standards in Form von
Gesetzen auch standardisierte Verträge sowie internationale Vereinbarungen einsetzen.546 Auch die im nachfolgenden Abschnitt vorgestellten Referenzmodelle des
Supply Chain Management dienen als Standard der Integration.
Integration als charakteristisches Element des Supply Chain Management erfordert
eine übergreifende Abstimmung zwischen den Ebenen der Material- und Informationsflüsse sowie der Koordination. Die folgende Abbildung skizziert auf der Materialflussebene eine Supply Chain, z. B. eine Supply Chain des Katastrophenmanagements (wie bereits in Abschnitt 5.1.1 dargestellt). Die Informationsflüsse sind auf
die Wertschöpfungsaktivitäten der gesamten Supply Chain abzustimmen. Die Ebene
der Informationsflüsse der nachfolgenden Abbildung kann beispielsweise modellieren, dass die Informationssysteme der Akteure in der Supply Chain (hier als Kreise
dargestellt) an eine gemeinsame Informationsplattform (als Rechteck dargestellt)
angeschlossen sind. Hierbei kann es sich beispielsweise um die gemeinsame Internet-Seite des Joint Logistics Centre der UN handeln, die unter anderem relevante
Stamm- und Bewegungsdaten über die Akteure des Katastrophenmanagements sowie über Materialflüsse mit Bezug zu einzelnen Katastrophen enthält und regelmä-
ßig aktualisiert wird. Auf der Koordinationsebene lässt sich beispielsweise darstellen, welche Abstimmungen zwischen den Akteuren der Wertschöpfungskette, die
sich am Joint Logistics Centre beteiligen, getroffen werden und welche Intensität die
zielgerichtete Abstimmung aufweist. Je stärker eine Verbindungslinie zwischen den
Akteuren skizziert wird, desto stärker ist die Intensität in der Koordination. So könnte die starke Umrandung der drei Akteure in der nachfolgenden Abbildung skizzieren, dass drei Akteure des Katastrophenmanagements im Rahmen eines bestimmten
Katastropheneinsatzes im Joint Logistics Centre Verantwortungsbereiche übernommen haben und diese aufeinander abstimmen. Da Material- und Informationsflüsse
Gegenstand der Koordination sind, ist eine Abstimmung zwischen allen Ebenen
unverzichtbar.
546 Vgl. Isermann, Heinz und Lieske, Dorit (1998), S. 408.
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Ebene der Materialflüsse
Ebene der Informationsflüsse
Ebene der Koordination
Abbildung 58: Integration Materialfluss-, Informations- und Koordinationsebene547
5.2 Referenzmodelle und Konzepte
5.2.1 Referenzmodelle des SCM im internationalen Katastrophenmanagement
5.2.1.1 Das SCOR-Modell
Sowohl Referenzmodelle als auch Konzepte des Supply Chain Management wurden
entwickelt, um dem Bullwhip-Effekt entgegenzuwirken und die unternehmensübergreifende Wertschöpfungskette zielgerichtet zu gestalten.
Referenzmodelle werden als allgemeingültige Beschreibungs- und Informationsmodelle eingesetzt, die sich um Analyse- und Optimierungsinstrumente erweitern
lassen. Sie sollten abstrakt, robust gegenüber Veränderungen von Rahmenbedingungen, anpassungs- und erweiterungsfähig sowie konsistent aufgebaut sein.548
Für das Supply Chain Management wurde durch das im Jahr 1996 gegründete
Supply Chain Council ein branchenübergreifendes Standard-Prozess-Referenzmodell entwickelt – das SCOR™-Modell.549 Das SCOR-Modell (Supply Chain Operations Referenzmodel) lässt sich als Referenzmodell heranziehen, um die Wertschöpfungskette standardisiert zu visualisieren und auf Basis von Kennzahlenwerten
547 Eigene Darstellung, in Anlehnung an Sucky, Eric (2004), S. 28, 37 und 38.
548 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 15-17; Poluha,
Rolf G. (2006), S. 105; Schulte, Christof (2005), S. 530
549 Vgl. Bolstorff, Peter A. / Rosenbaum, Robert G. / Poluha, Rolf G. (2007), S. 16;
www.supply-chain.org.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.