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3 Logistik im internationalen Katastrophenmanagement
3.1 Grundlagen der Logistik
3.1.1 Ursprünge und Begriff der Logistik
Die Ursprünge des Begriffs Logistik gehen auf den militärischen Bereich zurück.
Bereits im 19. Jahrhundert bezeichnete der militärische Logistikbegriff Aufgaben,
die der Unterstützung der Streitkräfte dienten. Hierzu zählten und zählen insbesondere Lager- und Transportaufgaben, die sowohl auf militärische Güter als auch auf
die Versorgung, Bewegung und Quartierung der Truppen gerichtet sind.132 Mit dem
französischen Wort „logis“ bzw. „loger“ gilt die Unterkunft der militärischen Truppen als etymologische Wurzel des Begriffs Logistik.133
Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert, die durch starke
Wachstumsraten ab der Mitte des Jahrhunderts gekennzeichnet war, wurde auch
durch Unternehmen die Notwendigkeit erkannt, die Material- und Güterströme zu
planen, zu steuern und zu kontrollieren.134 So wurde in der US-Amerikanischen
Privatwirtschaft in den 50er Jahren der Logistikbegriff „business logistics“ aus dem
militärischen Sprachgebrauch übernommen. Etwa 20 Jahre später fand der Begriff
Einzug in die Unternehmenswelt in Deutschland. Seither zählt Logistik zu den Managementfunktionen der Unternehmen verschiedener Branchen, zunächst insbesondere in der Industrie, später in Handelsunternehmen, bei Logistikdienstleistern und
schließlich in öffentlichen sowie gemeinnützigen Organisationen (z. B. Entsorgungsbetriebe, Krankenhäuser und die für den weiteren Verlauf des Buches im Zentrum stehenden Hilfsorganisationen).135 Während in den USA der Schwerpunkt der
Logistik zunächst im Bereich der Distribution lag (teilweise wurden die Begriffe
„logistics“ und „distribution“ synonym eingesetzt), standen in Deutschland aufgrund
der Entwicklung der Materialflusssysteme für die Automobilindustrie zunächst die
Beschaffungs- und Produktionslogistik im Vordergrund.136
Die Tatsache, dass der Begriff „Logistik“ erst seit dem 19. Jahrhundert im Militär
und seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Unternehmen eingesetzt wird, bedeutet nicht,
dass logistisches Denken und Handeln erst zu dieser Zeit entstanden ist. Im Handel
lässt sich seit dem Altertum logistisches Denken und Handeln als Schlüsselfaktor für
Erfolg nachweisen. So beschreibt Isermann, dass sich der Handel mit Gewürzen und
132 Vgl. Fleischmann, Bernhard (2008a), S. 3; Isermann, Heinz (1998), S. 21; Pfohl, Hans-
Christian (2004a), S. 11; Pfohl, Hans-Christian (2004b), S. 3; Schulte, Christof (2005), S. 1.
133 Vgl. Fleischmann, Bernhard (2008a), S. 3.
134 Vgl. Schulte, Christof (2005), S. 1.
135 Vgl. Fleischmann, Bernhard (2008a), S. 3.
136 Vgl. Murphy, Paul R. / Wood, Donald F. (2004), S. 5; Pfohl, Hans-Christian (2004b), S. 4.
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Seidenstoffen über die Seidenstraße über einen Zeitraum von etwa 3.000 Jahren
durch die logistische Leistungsfähigkeit aufrechterhalten ließ. Transport, Lagerung
und Umschlag der Handelsgüter mussten stets an neue Umweltbedingungen –
Kriegszüge, politische Veränderungen, Unberechenbarkeiten der Natur, Überfälle
durch Räuber – ausgerichtet werden. Dies erforderte sowohl eine leistungsfähige
Infrastruktur in Verbindung mit der Fähigkeit, diese an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen, als auch ein geeignetes Informationssystem (in diesem Fall über
Reiter auf Relais-Pferden).137
Mit Blick auf die logistischen Herausforderungen im Katastrophenmanagement sind
die beschriebenen Rahmenbedingungen der Seidenstraße mit Unberechenbarkeiten
der Natur, politischen Veränderungen und der Bedeutung kriegerischer Aktivitäten
immer noch aktuell. Ebenso sind die grundsätzlichen Anforderungen an die Logistik
im Katastrophenmanagement mit denen zur Zeit der Seidenstraße vergleichbar. Der
Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur, die Auswahl und der Einsatz geeigneter
Informationssysteme und die ständige Ausrichtung der logistischen Leistungen und
Informationssysteme an veränderte Rahmenbedingungen stehen im Zentrum der
Logistik in Katastrophenfällen.
Nicht nur im Altertum und im Mittelalter lässt sich frühes logistisches Denken und
Handeln nachweisen.138 Auch das im Jahr 1897 erlassene und im Jahr 1900 in Kraft
getretene Handelsgesetzbuch behandelt bereits in der ersten Auflage Fracht-, Speditions- und Lagergeschäfte sowie den Seehandel mit wichtigen logistischen Grundbegriffen, Akteuren, Rechten und Pflichten.139 Die Inhalte des HGB haben sich
durch die Einführung des Logistikbegriffs in die Unternehmenswelt und wissenschaftliche Literatur nicht gravierend geändert.140
In der wissenschaftlichen Literatur sowie in Veröffentlichungen von Unternehmensverbänden finden sich eine Vielzahl von Definitionsansätzen, die sich drei unterschiedlichen Richtungen zuordnen lassen. Im weiteren Verlauf dieses Werkes werden nicht die lebenszyklus- und dienstleistungsorientierten Definitionen aufgegriffen, vielmehr gilt das flussorientierte Begriffsverständnis, das den Güterfluss in den
Mittelpunkt der Betrachtung stellt.141 In Anlehnung an Schulte wird Logistik verstanden als
1. „marktorientierte,
2. integrierte
3. Planung, Gestaltung, Abwicklung und Kontrolle
4. des gesamten Material- und dazugehörigen Informationsflusses
137 Vgl. Isermann, Heinz (1998), S. 21.
138 Weitere Beispiele lassen sich z. B. in Isermann, Heinz (1998), S. 21-22 nachlesen.
139 Vgl. Reichsgesetzblatt vom 10. Mai 1897, S. 219.
140 Vgl. 4. und 5. Buch des HGB mit letzter Änderung vom 10.12.2007. Vgl. Bundesgesetzblatt
vom 10.12.2007, BGBl I, S. 2833-2837.
141 Zur Abgrenzung und näheren Erläuterung der drei Richtungen vgl. z. B. Pfohl, Hans-
Christian (2004a), S. 12-14; Pfohl, Hans-Christian (2004b), S. 4-5.
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5. zwischen einem Unternehmen und seinen Lieferanten
6. innerhalb eines Unternehmens sowie
7. zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden.“142
Dieses flussorientierte Begriffsverständnis findet sich sowohl in einer Vielzahl weiterer bedeutender Literaturquellen143 als auch im Logistik-Verständnis führender
nationaler und internationaler Unternehmensverbünde, wie der Bundesvereinigung
Logistik (BVL)144 und dem Council of Supply Chain Management Professionals
(CSCMP).145
Die oben angegebene Logistik-Definition beschreibt umfassend den Aufgabenbereich der Logistik. Nachfolgend werden die einzelnen Bestandteile der Definition
aufgriffen und zunächst in allgemeiner Form charakterisiert. Eine Ausrichtung des
Logistikbegriffs und der Inhalte auf das internationale Katastrophenmanagement
erfolgt in Abschnitt 3.2.
3.1.2 Markt-, Kunden- und Zielorientierung
Ein Markt lässt sich als ein System charakterisieren, das Tauschprozesse ermöglicht. Elemente dieses Systems sind Anbieter und Nachfrager, die in Form von
Tauschprozessen in Beziehung zueinander treten (können). Anbieter von Logistikleistungen sind Logistikdienstleister oder andere Unternehmen, die logistische Leistungen anbieten. Nachfrager von Logistikleistungen sind sowohl Endverbraucher als
auch andere Unternehmen (z. B. Logistikdienstleister, Industrieunternehmen, Handelsunternehmen), soweit sie die zur Realisierung ihrer Wertschöpfung notwendigen
Logistikleistungen nicht selbst erstellen.146
Durch die Nachfrageseite des (Logistik-) Marktes bedeutet Marktorientierung
gleichzeitig auch Kundenorientierung und damit „die Ausrichtung des Unternehmens an den Bedürfnissen des Kunden.“147 Diese beurteilen das Angebot und das
Ergebnis der logistischen Leistungserstellung nach der wahrgenommenen Kosten/Nutzen-Relation, die sich sowohl aus Kosten bzw. Preisen als auch aus dem
142 Schulte, Christof (2005), S. 1.
143 Vgl. z. B. Bowersox, Donald J. / Closs, David J. / Cooper, Bixby M. (2007), S. 22; Christopher, Martin (2005), S. 4; Fleischmann, Bernhard (2008a), S. 3-4; Murphy, Paul R. / Wood,
Donald F. (2004), S. 6; Pfohl, Hans-Christian (2004b), S. 4-5; Weber, Jürgen (1998), S. 79,
jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der flussorientierten Begriffsdefinition.
144 www.bvl.de: Logistik umfasst die „ganzheitliche Planung, Steuerung, Koordination, Durchführung und Kontrolle aller unternehmensinternen und unternehmensübergreifenden Güterund Informationsflüsse.“
145 www.cscmp.org: „Logistics management plans, implements, and controls the efficient, effective forward and reverse flow and storage of goods, services and related information between
the point of origin and the point of consumption in order to meet customers’ requirements.“
146 Vgl. Isermann, Heinz (2004), S. D 2-1-D 2.2.
147 Pfohl, Hans-Christian (2004), S. 11.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.