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2.3 Akteure im internationalen Katastrophenmanagement
2.3.1 Ausgewählte Beispiele
Die Kenntnis über die Akteure stellt eine wichtige Grundlage für weitere Ausführungen dieses Buches dar, die die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit in
der Wertschöpfungskette des Katastrophenmanagements betreffen. Individuelle
Ziele und Zielkonflikte in der Logistik sowie im SCM können nur nachvollzogen
werden, wenn die Akteure der Wertschöpfungskette bekannt sind.
Der vorherige Abschnitt wird mit Hinweisen auf die Strategie des IFRC abgeschlossen, welches einen der möglichen Akteure im Katastrophenmanagement bildet. Das
IFRC zählt zu den Nichtstaatlichen Hilfsorganisationen, den „Non Governmental
Organizations“ (kurz NGO), die als eine wesentliche Gruppe von Akteuren am Katastrophenmanagement mitwirken. Die folgenden Beispiele werden einen ersten
Eindruck darüber vermitteln, dass eine Vielzahl weiterer Akteure an der Leistungserstellung beteiligt ist; diese Beispiele richten sich zunächst ausschließlich auf die
Katastrophenbewältigung nach dem Eintritt eines Ereignisses (und demnach nicht
auf die Katastrophenvorsorge). Die Beispiele werden verdeutlichen, dass die Akteure – je nach geografischer Lage, Art und Ausmaß der Katastrophe – in unterschiedlichem Ausmaß mitwirken. In diesem Zusammenhang wird Bezug auf die bereits
bekannten Beispiele aus Abschnitt 2.1.3 genommen.
Die auf die Vorstellung der Beispiele folgenden Abschnitte befassen sich in allgemeiner Form mit den Akteuren im Katastrophenmanagement, indem diese kurz
vorgestellt werden und die erforderliche Koordination thematisiert wird.
Der Tsunami aus dem Jahr 2004 hat eine Katastrophe ausgelöst, die mehrere Länder
betraf. Das Fritz Institute hat im darauf folgenden Jahr eine Untersuchung angestellt,
die unter anderem die Art und das Ausmaß der Mitwirkung unterschiedlicher Akteure betraf. Diese Untersuchung hat sich zunächst ausschließlich auf die Länder Indien
und Sri Lanka bezogen.88
Die folgende Tabelle gibt Aufschluss darüber, dass sich bereits innerhalb einer Katastrophe die Verteilung über die unterschiedlichen Organisationen unterscheiden
kann, je nachdem auf welches Land die Auswertungen gerichtet sind. In diesem
Zusammenhang richtet sich die nachfolgende Tabelle auf die Finanzierung der
Hilfsmaßnahmen. So ist der Anteil der staatlichen Finanzierung der Hilfsmaßnahmen in Sri Lanka mit 3,51% wesentlich geringer ausgeprägt als mit fast 15% in
Indien:
88 Vgl. Thomas, Anisya / Ramalingam, Vimala (2005a).
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Akteure
(zusammengefasst zu Gruppen):
Finanzierung der
humanitären Hilfe in
Indien (%)
Finanzierung der
humanitären Hilfe in
Sri Lanka (%)
Staat 14,98 3,51
Internationale Organisationen 32,85 31,22
Religiöse Organisationen 10,33 3,32
Privatpersonen 7,66 12,86
Private Unternehmen 10,14 11,66
Andere 24,04 37,43
Summe 100,00 100,00
Tabelle 1: Tsunami 2004, Finanzierung der humanitären Hilfe durch
unterschiedliche Gruppen von Akteuren89
Ein weiterer Fragenkomplex der Studien des Fritz Institute richtet sich auf Akteure,
die im Zeitraum bis zu 48 Stunden nach dem auslösenden Ereignis einer Katastrophe Hilfeleistungen für die betroffene Bevölkerung erbracht haben. Bezogen auf
humanitäre Hilfeleistungen – wie Rettungsaktionen, Bereitstellung von Hilfsgütern
(Nahrung, Wasser, Kleidung), Obdach, medizinische Versorgung bis hin zu Bestattung und Seelsorge – ist erfasst worden, zu welchen Anteilen diese durch unterschiedliche Akteure erbracht wurden. Die Akteure wurden wiederum zusammengefasst, in diesem Fall zu den Gruppen staatliche Akteure, internationale Hilfsorganisationen, lokale Hilfsorganisationen, religiöse Organisationen, Unternehmen der
Privatwirtschaft und Privatpersonen.
? Nach dem Tsunami im Jahr 2004 zeigt sich für die Länder Indien, Sri Lanka
und ergänzend Indonesien eine unterschiedliche Bedeutung der Akteure in der
Soforthilfe. In Indonesien lässt sich für alle Leistungsbereiche die hohe Bedeutung der individuellen Privathilfe feststellen. In der medizinischen Versorgung
haben der Staat und religiöse Organisationen im Umfang von 10% bzw. 13%
mitgewirkt; für alle anderen Kombinationen zwischen Akteuren und Leistungen
außerhalb der privaten Hilfe werden keine Werte über 10% ausgewiesen. In Sri
Lanka und Indien hingegen waren staatliche und nichtstaatliche Organisationen
mit höherer Präsenz in den ersten 48 Stunden vertreten. So zeigt die Befragung
für Indien die hohe Präsenz des Staates in der Soforthilfe (so wurden z. B. 57%
der medizinischen Versorgungsleistungen durch staatliche Akteure erbracht);
auf kommunaler Ebene wurden ebenfalls umfangreiche Hilfeleistungen erbracht, so beispielsweise 47% der Rettungsaktionen. Im Vergleich zu Indonesien und Indien wurden in Sri Lanka die umfangreichsten Sofortmaßnahmen
durch Hilfsorganisationen (insbesondere die internationalen) durchgeführt. Den
höchsten Wert weist die medizinische Versorgung mit einem Anteil der interna-
89 Die Daten sind entnommen aus Thomas, Anisya / Ramalingam, Vimala (2005a), S. 18 und 33
sowie Thomas, Anisya / Ramalingam, Vimala (2005b), S. 11.
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tionalen Hilfsorganisationen von 26% auf. Auch an der Bereitstellung von
Hilfsgütern waren die internationalen Organisationen in Sri Lanka mit Anteilen
über 10% beteiligt.90 ? Nach dem Hurrikane Katrina im Jahr 2005 hatte die private Hilfe in den ersten
48 Stunden nach dem auslösenden Ereignis eine vergleichsweise geringe Bedeutung und wird demnach in der Ergebnisdarstellung des Fritz Institute unter
„sonstige“ erfasst. Die nichtstaatlichen Organisationen haben mit 32% am umfangreichsten Soforthilfe geleistet, gefolgt von der Polizei (30%), religiösen
Gruppen (26%) sowie Feuerwehr und Rettungsdienst (22%).91 ? Für Hilfeleistungen in Pakistan liegen Ergebnisse einer entsprechenden Befragung für einen Zeitraum bis zu 2 Monate nach dem Erdbeben im Jahr 2005 vor.
Über die individuelle private Hilfe hinaus waren für Pakistan in hohem Maße
staatliche Leistungen (insbesondere durch das Militär) und ergänzend Leistungen durch internationale Hilfsorganisationen festzustellen. Die Bedeutung nationaler Hilfsorganisationen war in Pakistan relativ gering.92
Weitere Unterschiede lassen sich in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen den
Akteuren feststellen. So weist die Studie aus, dass in Sri Lanka 85% der nichtstaatlichen Hilfsorganisationen mit anderen Akteuren zusammengearbeitet haben, während dies in Indien nur für 70% der NGOs zutrifft.93 Im umgekehrten Verhältnis
lässt sich für 12% der nichtstaatlichen Hilfsorganisationen in Indien und nur für 8%
in Sri Lanka eine Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen feststellen. Die Untersuchungen weisen aus, dass diese Zusammenarbeit mehrheitlich auf Distributionsleistungen, so z. B. die Distribution von Hilfsgütern gerichtet ist. Demnach stellen
Zusammenarbeit, Koordination und Kooperation wichtige Themengebiete für die
logistische Leistungserstellung in der Wertschöpfungskette humanitärer Hilfe dar.
Zusammenarbeit der NGOs mit Indien Sri Lanka
Staatlichen Organisationen, anderen Hilfsorganisationen 70% 85%
Unternehmen der Privatwirtschaft 12% 8%
Tabelle 2: Tsunami 2004, Zusammenarbeit NGOs mit anderen Akteuren94
Das aktuelle Beispiel der Katastrophe nach den Wahlen in Kenia zeigt im ersten
Quartal 2008, dass die Koordination zwischen den an der humanitären Hilfe betei-
90 Vgl. Thomas, Anisya / Ramalingam, Vimala (2005c), S. 10-11.
91 Vgl. Fritz Institute (Hrsg.) (2006), S. 16.
92 Vgl. Bliss, Desiree / Larsen, Lynnette (2006), S. 5 und 11.
93 Vgl. Thomas, Anisya / Ramalingam, Vimala (2005a), S. 14-15, 28-29 sowie Thomas, Anisya
/ Ramalingam, Vimala (2005b), S. 9.
94 Die Daten sind entnommen aus Thomas, Anisya / Ramalingam, Vimala (2005a), S. 14-15
und 28-29. Der angegebenen Quelle ist des Weiteren zu entnehmen, mit welchen staatlichen
und nichtstattlichen Hilfsorganisationen die Zusammenarbeit erfolgte. Unterschiede lassen
sich z. B. bezüglich der Zusammenarbeit mit internationalen Hilfsorganisationen feststellen
(11% für Indien und 27% für Sri Lanka).
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ligten Akteuren in den vergangenen Jahren deutlich vorangeschritten ist. So werden
für Themenbereiche wie Koordination / Management, Gesundheit, Wasser / Sanitär /
Hygiene, Versorgung mit Lebensmitteln, Obdach / Camps, Informations- / Kommunikationstechnologie und auch für Logistik so genannte „Cluster“ gebildet, für die
Verantwortliche und Mitwirkende bestimmt werden. So liegt beispielsweise die
Clusterverantwortung in Kenia für Gesundheit bei der WHO (World Health Organization), für die Bildung bei UNICEF (International Children’s Emergency Fund der
UN) und für die Logistik beim WFP (World Food Programme der UN). Termine für
regelmäßige Treffen innerhalb der Cluster sowie Informationen über Entwicklungen
zu den Themenbereichen der Cluster werden zeitnah veröffentlicht. Hierzu zählen z.
B. im Bereich der Medizin aktuelle Informationen über Krankheiten, wie Meningitis, Masern, Malaria, Cholera mit Angabe der Orte und Anzahl Erkrankter (auch
Vermutungen, die noch nicht offiziell bestätigt sind). Für die Logistik werden Angaben über Lagerbestände, Lagerzu- und -abgänge, Transportwege und Transportkapazitäten, Lage an den Häfen / Flughäfen usw. erfasst, weitergeleitet und in Form
von Texten, Karten und Tabellen veröffentlicht. Ermöglicht wird diese Form der
Koordination erst durch die Bereitstellung einer Informations- und Kommunikationsplattform, in diesem Fall über das Joint Logistics Centre der UN. Die folgende
Passage aus dem „Inter-Cluster Progress Report“ vom 8.2.2008 dokumentiert, dass
die Informationen auch Cluster-übergreifend zusammengeführt und ausgewertet
werden:
„The Kenya Red Cross, as the lead of the Camp Coordination and Camp Management
(CCCM) sector, is distributing a matrix to all humanitarian partners to determine which actors
are providing service, or would like to provide services, by sector […] This information will
be used by Kenya Red Cross camp managers in each site to identify gaps in the response, and
ensure the overall management of all sites.”95
2.3.2 Skizze über die Mit- und Zusammenwirkung der Akteure
Bewusst wird der Abschnitt aber mit „Skizze“ überschrieben, da eine Konzentration
auf die für den weiteren Verlauf dieser Arbeit relevanten Inhalte erfolgt. In
Abbildung 13 werden die Akteure des internationalen Katastrophenmanagements
zwei wesentlichen Gruppen zugeordnet: Die eine Gruppe stellt Mittel für das Katastrophenmanagement zur Verfügung, und die andere Gruppe setzt diese Mittel im
Katastrophenmanagement ein.96
Die Mittelgeber lassen sich in zwei Ebenen unterteilen: Ebene 1 stellt ausschließlich Mittel in Form von Spenden und Zuweisungen zur Verfügung, während Akteure
auf der 2. Ebene Teile dieser Mittel nach einer Um- und Neuverteilung auch selbst
95 Die Informationen sind zusammengestellt aus www.logcluster.org, Link Kenya, Coordination
(Stichworte Bulletin & Reports, General Info und Logistics Cluster Meeting). Das Zitat ist
entnommen aus dem Kenya Inter-Cluster Progress Report vom 8.2.2008, S. 3.
96 Vgl. Thomas, Anisya / Kopczak, Laura (2005), S. 3-4; Tufinkgi, Philippe (2006), S. 134-135.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im internationalen Katastrophenmanagement werden täglich Entscheidungen mit Logistikbezug getroffen. Die Autorin skizziert die Vielfalt der Entscheidungen durch die folgende Fragestellung: Welche Beschaffungskonzepte, Standorte, Touren, Informationssysteme und Konzepte der Zusammenarbeit sollen im Rahmen der Katastrophenvorsorge und -bewältigung realisiert werden?
Da die Entscheidungen in hohem Maße Qualität und Kosten der Versorgung betroffener Menschen beeinflussen, sollten diese nicht alleine aus dem Erfahrungswissen heraus getroffen, sondern durch logistische Planungsmethoden unterstützt werden.
Anwendungsbezogen und verständlich wird in dem Buch der Einsatz geeigneter Methoden (z. B. Standortplanung, Netzplantechnik) am Beispiel realer Katastrophen vermittelt. Konzepte des SCM und aktuelle Informationssysteme werden mit ihren Potenzialen und Grenzen für das internationale Katastrophenmanagement vorgestellt und unter Einsatz geeigneter Entscheidungskriterien exemplarisch bewertet.