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D. Interessenbewertung
Zuletzt ist das Augenmerk auf die Feststellung zu richten, dass eine Auslegung
der Anfechtungstatbestände im Hinblick auf die grundsätzlichen Wertungen des
Insolvenzrechts nicht unter Berücksichtigung der sozialen Schutzwürdigkeit des
unterhalts- oder versorgungsberechtigten Empfängers vorzunehmen sei, da sich
der Gesetzgeber im Rahmen der lnsO durch die Beseitigung der früher bestehende Vorzugsrechte (§§ 59 I Nr. 3, 61 I Nr. 1-5 KO) ausdrücklich gegen eine Privilegierung entschieden und das Interesse der Gläubigergesamtheit generell für
vorrangig angesehen habe.
Der BGH hat sich hier ausdrücklich dafür entschieden, schutzwürdige Interessen Dritter, die zum Versicherungsnehmer in einer unterhalts- oder versorgungsrechtlich relevanten Beziehung stehen, zum Zweck der umfassenden Befriedigung der Gläubiger innerhalb des Anfechtungsrechts unbeachtet zu lassen.
Der den Gläubigern insoweit eindeutig eingeräumte Vorrang wird besonders
deutlich, wenn man die Auswirkungen dieser Entscheidung näher betrachtet.
Unmittelbare Folge dieser »gläubigerfreundlichen« Entscheidung ist nämlich,
dass die Gläubiger des Versicherungsnehmers eine sehr viel umfassendere Befriedigungsmöglichkeit erhalten. Mit Hilfe der Anfechtung haben sie die Chance,
dass die gesamte Versicherungssumme und nicht nur die innerhalb der kritischen
Anfechtungsfristen gezahlten Prämien wieder in die Insolvenzmasse zurück
gelangen bzw. dass die Zwangsvollstreckung in diesen wertmäßig bedeutenderen
Vermögensgegenstand wieder möglich wird. Für die Bezugsberechtigten bringt
dies indes den Nachteil mit sich, dass sie die Versicherungsforderung bzw. summe lediglich unter dem Vorbehalt der Nichtausübung des Anfechtungsrechts
erwerben1459.
Diejenigen Versicherungsnehmer, die ihre Hinterbliebenen vor einem Zugriff
ihrer Gläubiger schützen wollen, werden daher in Zukunft dazu gezwungen sein,
das Bezugsrecht als ein unwiderrufliches auszugestalten und auf die wirtschaftliche Nutzbarkeit der Lebensversicherung für eigene Zwecke bis zum Eintritt des
Versicherungsfalls zu verzichten. Hasse1460 hält diese Konsequenz auch im Hinblick auf das Interesse des unwiderruflich Bezugsberechtigten für unbillig, da
auch diesem daran gelegen sein kann, dass der Versicherungsnehmer zu Lebzeiten die Möglichkeit behält, die Lebensversicherung für sich wirtschaftlich zu nutzen und damit eine vorübergehende finanzielle Notlage zu überbrücken. Bei der
Einräumung eines unwiderruflichen Bezugsrechts besteht zumindest die Chance,
dass die vierjährige Anfechtungsfrist der §§ 134 I InsO, 4 I AnfG in manchen Fällen abgelaufen sein wird. Im Vergleich zur früheren Rechtslage, bei der ein
anfänglich und widerruflich Bezugsberechtigter lediglich eine Inanspruchnahme
auf die innerhalb der Anfechtungsfrist bezahlten Prämien befürchten musste, ist
die rechtliche Position eines widerruflich Bezugsberechtigten durch die Ände-
1459 Huber, NZI 2004, 82.
1460 Hasse, VersR 2004, 962.
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rung der höchstrichterlichen Rechtsprechung indes eindeutig verschlechtert worden.
Zu beachten ist jedoch, dass der BGH die Einschränkung der anfechtungsrechtlichen Folgen bei Zuwendungen widerruflicher Bezugsrechte aus Lebensversicherungen zugunsten der Interessen unterhalts- oder versorgungsberechtigter
Empfänger nur bezüglich des insolvenz- bzw. außerinsolvenzrechtlichen Anfechtungsverfahrens abgelehnt und dies mit den vorrangigen Gläubigerinteressen
begründet hat.
Aus diesem Grund ist nicht ausgeschlossen, dass er solche Zuwendungen im
Rahmen der erb- und familienrechtlichen Ausgleichs- und Anrechnungsverfahren
anders beurteilen und bewerten wird. Dies gilt nicht nur in Anbetracht der erheblichen Unterschiede zwischen den Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren
des Erb- und Familienrechts auf der einen Seite und dem Anfechtungsverfahren
auf der anderen Seite. Mit einer anderen Wertung ist insbesondere deswegen zu
rechnen, weil innerhalb der erb- und familienrechtlichen Verfahren die soziale
Zweckrichtung einer Zuwendung eine entscheidende Rolle spielt. Dies wird
besonders im Hinblick auf die Behandlung der »sozialen Zuwendungen« bei
§§ 2330, 1375 III BGB (Pflicht- und Anstandsschenkungen) sowie hinsichtlich
der Privilegierung der Interessen des Begünstigten einer der Hinterbliebenenversorgung dienenden Lebensversicherung innerhalb der erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren deutlich.
Dafür spricht nicht zuletzt, dass die erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren insgesamt in einem sozialen Kontext stehen1461, während es bei der insolvenz- und außerinsolvenzrechtlichen Anfechtung
vielmehr um die Befriedigung wirtschaftlicher Interessen geht.
In diesem Zusammenhang kann man unter Umständen auch das Vorgehen des
Bundesgerichtshofes verstehen, wenn dieser im Fall der schenkungshalber
erfolgten Einräumung eines widerruflichen Bezugsrechts bei der Pflichtteilsergänzung die aufgewendeten Prämienbeiträge und im Anfechtungsrecht den wertmäßig höheren Anspruch auf die Versicherungssumme zugrunde legt1462.
1461 Gemeint ist damit das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen Erblasser und Pflichtteilsberechtigten (§§ 2325 ff., 2315 f. BGB) bzw. zwischen Erblasser und Abkömmlingen
(§§ 2050 ff. BGB), kraft dessen den Erblasser nicht nur eine sittliche, sondern auch eine
gesetzliche Pflicht zur Versorgung dieser Personengruppen trifft (vgl. z.B. die Unterhaltspflicht gemäß §§ 1601 ff. BGB). Dasselbe gilt für das Verhältnis der im Güterstand der
Zugewinngemeinschaft lebenden Ehegatten zueinander, die aufgrund dieser engen persönlichen Beziehung dazu verpflichtet sind, den anderen Ehegatten an dem während des
Bestehens der ehelichen Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft Erwirtschafteten teilhaben
zu lassen.
1462 A.A.: Hasse, Lebensversicherung und erbrechtlicher Ausgleichsanspruch, 2005, S. 99.
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4. Kapitel: Abschließende Bewertung
Abschließend ist festzuhalten, dass nicht damit zu rechnen ist, dass sich die
höchstrichterliche Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Zuwendungen widerruflicher Bezugsrechte aus Lebensversicherungen im Rahmen der Pflichtteilsergänzung (§§ 2325 ff. BGB) ändern bzw. diese bei Gelegenheit auf die sonstigen
erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren übertragen werden wird.
Zwar lassen sich die vom BGH in seiner Entscheidung angeführten Argumente
– Gleichbehandlung von unmittelbarer und mittelbarer Zuwendung, Gleichbehandlung von anfänglicher und nachträglicher Bezugsrechtseinräumung sowie
die Fristberechnung nach § 140 BGB bei Vorliegen eines widerruflichen Bezugsrechts – ohne weiteres auf die dargestellten Verfahren des Erb- und Familienrechts übertragen.
Dies gilt jedoch nicht für die Interessenbewertung, die der BGH in seiner Entscheidung zugunsten der Gläubiger getroffen hat. Dieser Vorrang der Befriedigungsinteressen der Gläubiger mag für das Anfechtungsrecht – besonders in
Anbetracht der steigenden Zahl an Verbraucherinsolvenzen1463 – zutreffen. Sie ist
insoweit als eine Fortsetzung des bereits vom Gesetzgeber mit der Insolvenzrechtsreform verfolgten Ziels zu verstehen, die Haftungsmasse zum Zweck der
möglichst umfassenden Befriedigung der Gläubiger durch Erleichterung der
Anfechtungsmöglichkeiten und Verschärfung des Anfechtungsrechts zu mehren.
Diese Entscheidung kann indes nicht auf das Erb- und Familienrecht übertragen werden, da die Diskrepanzen zwischen den erb- und familienrechtlichen
Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren und dem Anfechtungsverfahren –
wie gezeigt worden ist – zu wesentlich sind. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass innerhalb der Verfahren des Erb- und Familienrechts der soziale
Schutzgedanke zugunsten der Personen, gegenüber denen der Zuwendende unterhalts- und versorgungsverpflichtet ist, sehr viel stärker zu berücksichtigen ist.
Diese unterschiedliche Interessenbewertung ist zugleich das ausschlaggebende
Argument dafür, dass ein Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf
dem Gebiet des Pflichtteilsrechts bzw. die Übertragung der BGH-Entscheidung
vom 23.10.20031464 auf die erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren nicht zu erwarten ist.
1463 Vgl. Hasse, VersR 2004, 958 ff. (958).
1464 BGHZ 156, 350 ff. = NJW 2004, 214 ff. = ZIP 2003, 2307 ff. = VersR 2004, 93 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Mit welchem Wert sind Lebensversicherungen anzusetzen, wenn sie in erb- oder familienrechtlichen Ausgleichungs- oder Anrechnungsregelungen zu berücksichtigen sind: Mit der Versicherungssumme? Mit der Summe der erbrachten Prämienzahlungen? Mit dem Rückkaufswert? In Rechtsprechung und Literatur ist ein einheitliches Vorgehen bislang nicht erkennbar.
Die vorliegende Arbeit untersucht diese Frage auch unter Berücksichtigung der im Jahr 2003 auf dem Gebiet des Insolvenzrechts erfolgten Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichtshofes differenziert anhand der Vielzahl an Funktionen, die eine Lebensversicherung erfüllen kann.