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II. Schlussfolgerung
Ein Vergleich des Anrechnungsverfahrens nach § 2315 BGB mit dem Anfechtungsverfahren ergibt, dass Übereinstimmungen nur in Bezug auf den Zuwendungsbegriff und die Person des »Pflichtigen« bestehen.
Im Übrigen weichen die Verfahren sowohl im Hinblick auf die Interessenlage,
als auch bezüglich der in § 2315 BGB nicht normierten Fristenregelung voneinander ab.
Auch hinsichtlich der Rechtsfolge bestehen Divergenzen, da § 2315 BGB in
keinem Fall einen Anspruch auf tatsächliche Herausgabe des zugewandten
Gegenstands oder auf Duldung der Zwangsvollstreckung gewährt, sondern vielmehr zu einer rein fiktiven Mehrung des Nachlasses führt, mithin einen bloßen
Rechenvorgang auslöst.
Eine für die Bewertung der Lebensversicherung ganz erhebliche Abweichung
besteht darin, dass bei der Anrechnung der Wert im Zeitpunkt der Zuwendung
maßgeblich ist (Stichtagsprinzip, vgl. § 2315 II 2 BGB).
Die wesentlichsten Unterschiede werden deutlich, wenn man einen Blick auf
Sinn und Zweck der Verfahren sowie auf die Disponibilität der Vorschriften wirft.
§ 2315 BGB zielt auf Gleichbehandlung und Verhinderung der Doppelbeteiligung des anrechnungspflichtigen Pflichtteilsberechtigten am Vermögen des Erblassers, während das Anfechtungsverfahren die Wiederherstellung der Zugriffsmöglichkeit der Gläubiger auf den weggegebenen Vermögensgegenstand
bezweckt. Es handelt sich mithin um völlig unterschiedliche Normzwecke.
Ebenso verhält es sich hinsichtlich der Frage der Disponibilität der Vorschriften. Der Zuwendende hat im Gegensatz zum Anfechtungsverfahren bei der
Anrechnung nach § 2315 BGB die Möglichkeit zu bestimmen, ob überhaupt
anzurechnen ist, welcher Gegenstand zugrunde zu legen ist und welcher Zeitpunkt für die Wertbestimmung maßgeblich sein soll. Eine Übertragung der innerhalb des Anfechtungsverfahrens getroffenen Wertungen auf das Anrechnungsverfahren nach § 2315 BGB ist aufgrund dieser erheblichen Unterschiede daher nicht
möglich.
C. Die Ausgleichung unter Miterben (§§ 2050 ff. BGB) und unter
Pflichtteilsberechtigten (§ 2316 BGB) und das Anfechtungsverfahren
I. Gegenüberstellung
1. Anwendungsbereich / Rechtsfolge
Von der Ausgleichung nach §§ 2050, 2316 BGB werden alle zum Zweck der Ausstattung (§ 1624 I BGB) erfolgten Zuwendungen sowie Zuschüsse erfasst, die
zum Unterhalt und zur Berufsausbildung gewährt wurden, sofern sie das die Vermögensverhältnisse des Erblassers entsprechende Maß überschritten haben. An-
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dere Zuwendungen, die nicht unter diese Begriffe fallen, sind auszugleichen,
wenn der Erblasser eine entsprechende Anordnung getroffen hat (§ 2050 III
BGB).
Sog. »privilegierte Zuwendungsgegenstände«, die von vornherein von der
Ausgleichung ausgenommen sind, nennt das Gesetz nicht. Der Erblasser hat aber
auch hier in den Grenzen des § 2316 III BGB das Recht zu bestimmen, dass
bestimmte Vermögensgegenstände nicht der Ausgleichung unterliegen sollen.
Zuwendungen der beschriebenen Art werden auch von der Anfechtung nach
§§ 134 InsO, 4 AnfG erfasst. Nur im Einzelfall können sie, wenn die Geringwertigkeitsgrenze des Abs. 2 nicht überschritten wird, von der Anfechtung ausgenommen sein.
Weder die Ausgleichung unter den Miterben, noch die Ausgleichung unter den
Pflichtteilsberechtigten bewirken, dass der Vorempfang in natura zurück in den
Nachlass gelangt bzw. die Zwangsvollstreckung in den Gegenstand der Zuwendung zu dulden ist. §§ 2050 ff. BGB führen nur zu einer fiktiven Berücksichtigung des Werts des Vorempfangs bei der Berechnung des Anteils, der dem Miterben nach der Auseinandersetzung der Miterbengemeinschaft zusteht. § 2316
BGB modifiziert die Teilungsquote hinsichtlich der einzelnen Pflichtteilsansprüche1418.
2. Die Interessenbewertung / Fristenregelung
Ein Vorrang der Gläubigerinteressen wie im Anfechtungsrecht besteht im Rahmen der §§ 2316, 2050 ff. BGB nicht. Vielmehr nehmen die Begünstigten einer
der Hinterbliebenenversorgung dienenden Lebensversicherung innerhalb des
Ausgleichungsverfahrens eine rechtlich privilegierte Position ein. Eine Frist, innerhalb der die Ausgleichung durchzuführen wäre, nennt das Gesetz nicht.
3. Der Anrechnungspflichtige
Die Anrechnungspflicht trifft – auch hier – den Zuwendungsempfänger. Dieser
muss zugleich Abkömmling und Miterbe bzw. Pflichtteilsberechtigter sein.
4. Der Normzweck
§ 2316 BGB soll eine Doppelbeteiligung des Zuwendungsempfängers am Vermögen des Erblassers verhindern1419. §§ 2050, 2052 BGB bezweckt die gleichmä-
ßige Verteilung des Nachlasses auf die Miterben. Im Gegensatz dazu wird der An-
1418 Staudinger-Haas (1998), § 2315 Rn. 3; Bamberger/Roth-Mayer, BGB, § 2316 Rn. 2.
1419 Frömgen, Das Verhältnis zwischen Lebensversicherung und Pflichtteil, 2004, S. 165.
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fechtungstatbestand der »unentgeltlichen Leistung« nicht von dem Grundsatz der
Gleichbehandlung beherrscht1420.
5. Der Bewertungsstichtag
Der Wert des auszugleichenden Vermögensgegenstands bestimmt sich nach dem
Zeitpunkt, in dem die Zuwendung erfolgt ist (§ 2055 BGB), wobei es darauf ankommt, wann der Rechtserwerb des Begünstigten tatsächlich stattgefunden
hat1421. Der Erblasser hat auch hier die Möglichkeit, das Stichtagsprinzip durch
eine entsprechende Anordnung – unter Berücksichtigung des § 2316 III BGB –
zu durchbrechen.
II. Schlussfolgerung
Bei einem Vergleich des erbrechtlichen Ausgleichungsverfahrens mit dem Anfechtungsverfahren ergeben sich Übereinstimmungen lediglich hinsichtlich der
Person des Pflichtigen und hinsichtlich des Anwendungsbereichs.
Dem steht jedoch gegenüber, dass die Interessen der Verfahrensbeteiligten in
den Ausgleichungs-, sowie dem Anfechtungsverfahren in unterschiedlicher
Weise bewertet werden. Zudem normiert das Anfechtungsrecht kein dem § 2055
II BGB entsprechendes Stichtagsprinzip. Ferner ist das Rechtsinstitut der Ausgleichung auf eine im Vergleich zur Anfechtung vollkommen andere Rechtsfolge
gerichtet ist. Darüber hinaus lassen sich keine Übereinstimmungen in Bezug auf
den Normzweck feststellen: dem Gleichbehandlungsgedanken, der das Ausgleichungsverfahren beherrscht, steht der Telos der §§ 134 lnsO, 4 AnfG gegenüber,
der auf Wiederherstellung der früheren Zugriffslage aus Billigkeitsgründen
abzielt, und dem weniger der Gedanke der Gläubigergleichbehandlung als vielmehr die geringe Schutzwürdigkeit des unentgeltlichen Erwerbs zugrunde liegt.
Im Gegensatz zur Ausgleichung sind die insolvenz- bzw. außerinsolvenzrechtlichen Anfechtungsvorschriften nicht zur Disposition des Schuldners gestellt.
Daraus ergibt sich, dass die bestehenden Unterschiede die Gemeinsamkeiten
weit überwiegen. Aus diesem Grund können die innerhalb des Anfechtungsverfahrens getroffenen Wertungen im Zusammenhang mit der Zuwendung des Versicherungsanspruchs nicht auf die Ausgleichungsverfahren nach §§ 2050 ff.,
2316 BGB übertragen werden.
1420 Smid-Zeuner, InsO, § 134 Rn. 1; Uhlenbruck-Hirte, InsO, § 134 Rn. 1; Gottwald/Huber,
Insolvenzrechts-Handbuch, § 49 Rn. 2; MünchKomm/InsO-Kirchhof, § 134 Rn. 3.
1421 BGHZ 65, 75 ff.
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D. Der Schutz des Vertragserben, -vermächtnisnehmers, des Schlusserben
und -vermächtnisnehmers gemäß §§ 2287 f. BGB und das
Anfechtungsverfahren
I. Gegenüberstellung
1. Anwendungsbereich / Rechtsfolge
Von den §§ 2287 f. BGB werden alle unter den Schenkungsbegriff des § 516 BGB
fallenden Zuwendungen erfasst1422. Darüber hinaus erstreckt sich der Anwendungsbereich der §§ 2287 f. BGB auch auf die sog. »unbenannten Zuwendungen«1423. Privilegierte Zuwendungsgegenstände, die von vornherein nicht unter
§§ 2287 f. BGB fallen, nennt das Gesetz nicht. Bei Vorliegen einer Anstandsoder Pflichtschenkung kann jedoch der Anwendungsbereich des §§ 2287 f. BGB
mangels Beeinträchtigungsabsicht nicht eröffnet sein1424. Die Geringwertigkeit
des Geschenks spielt hierbei indes, anders als bei der Anfechtung gemäß §§ 134
II InsO, 4 II AnfG, keine Rolle.
§ 2287 BGB gewährt einen auf tatsächliche Rückgabe des weggegebenen Vermögensgegenstands gerichteten Herausgabeanspruch, der sich nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen bestimmt und gegen den Zuwendungsempfänger
richtet. Dieser hat die Möglichkeit, sich – sofern er gutgläubig ist – auf den Einwand der Entreicherung (§ 818 III BGB) zu berufen.
2. Die Interessenbewertung / Die Fristenregelung
Die Interessen des durch eine Lebensversicherung Begünstigten werden bei
§§ 2287 f. BGB – anders als im Rahmen des Anfechtungsrechts – privilegiert.
Eine §§ 134 I InsO, 4 I AnfG entsprechende Fristenregelung existiert bei §§ 2287
f. BGB nicht.
3. Der Schuldner
Die Herausgabepflicht des § 2287 BGB trifft den Zuwendungsempfänger. Dagegen richtet sich der Anspruch aus § 2288 BGB in erster Linie an den Erben und
nur subsidiär an den Zuwendungsempfänger (§ 2288 II 2 BGB).
1422 Palandt-Edenhofer, § 2287 Rn. 5.
1423 BGHZ 116, 167ff.
1424 Lange/Kuchinke, § 25 V 5d), S. 489.; BGHZ 66, 8 ff. (16); 83, 44 ff. (46); MünchKomm/
BGB-Musielak,§ 2287 Rn. 15.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Mit welchem Wert sind Lebensversicherungen anzusetzen, wenn sie in erb- oder familienrechtlichen Ausgleichungs- oder Anrechnungsregelungen zu berücksichtigen sind: Mit der Versicherungssumme? Mit der Summe der erbrachten Prämienzahlungen? Mit dem Rückkaufswert? In Rechtsprechung und Literatur ist ein einheitliches Vorgehen bislang nicht erkennbar.
Die vorliegende Arbeit untersucht diese Frage auch unter Berücksichtigung der im Jahr 2003 auf dem Gebiet des Insolvenzrechts erfolgten Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichtshofes differenziert anhand der Vielzahl an Funktionen, die eine Lebensversicherung erfüllen kann.