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Einleitung
Die Lebensversicherung hat viele Gesichter. Ihrer Bedeutung wird man sich erst
bewusst, wenn man die Vielzahl an Funktionen, die sie erfüllen kann, näher betrachtet: so kann sie zum Zweck der Alters- oder Hinterbliebenenversorgung abgeschlossen werden, als Kapitalanlage oder Kreditmittel dienen. Sie kann somit
sowohl eine wirtschaftliche, als auch eine soziale Komponente enthalten. Mittlerweile hat sich eine Vielzahl an Gestaltungsformen herausgebildet1, die das eine
Mal in Reinform, das andere Mal in Kombination auftreten. Dadurch hat der Versicherungsnehmer die Möglichkeit, durch entsprechende Ausgestaltung des Versicherungsvertrags mehrere Funktionen in einer Lebensversicherung zu vereinigen.
Unproblematisch stellt sich diese Situation dar, wenn es sich um eine ausschließlich zu Gunsten des Versicherungsnehmers abgeschlossene Lebensversicherung handelt, die nur der eigenen Altersversorgung oder eigenen wirtschaftlichen Zwecken dient.
Konflikte treten indes dann auf, wenn der Versicherungsnehmer einem Dritten
ein widerrufliches bzw. unwiderrufliches Bezugsrecht an der Lebensversicherung
einräumt. Da mit der Benennung eines Bezugsberechtigten ein Vertrag zugunsten
Dritter (in der Regel auf den Todesfall2) entsteht, kraft dessen der Begünstigte den
Anspruch auf die Versicherungssumme als selbständig entstehende Forderung
vom Nachlass des Versicherungsnehmers getrennt erwirbt, hat der Versicherungsnehmer damit ein Instrument zur Hand, mit dessen Hilfe er seinen Nachlass
erheblich schmälern kann. Dies wiederum wirkt sich nachteilig für all diejenigen
aus, denen diese Vermögensmasse haftet und die deshalb ein unmittelbares Interesse am unveränderten Bestand dieser Haftungsmasse haben.
Das sind zum einen die Nachlassgläubiger des Versicherungsnehmers / Schuldners, zum anderen dessen pflichtteilsberechtigte Abkömmlinge, Ehegatten oder
Eltern, weil die Höhe deren Pflichtteile unmittelbar mit dem Bestand und Wert
des Nachlasses zur Zeit des Erbfalls zusammenhängen (§ 2311 I 1 BGB). Während sich die einen den weggegebenen Vermögensgegenstand im Wege der (nachlass-) insolvenz- bzw. außerinsolvenzrechtlichen Anfechtung zum Zweck der
Befriedigung ihrer noch offenen Forderungen wieder beschaffen können, steht
1 Zu nennen sind hier Lebensversicherungen zu eigenen Gunsten oder zu Gunsten Dritter,
Lebensversicherungen mit widerruflichem oder unwiderruflichem Bezugsrecht, reine
Todesfalllebensversicherungen oder gemischte Lebensversicherungen mit gespaltenem
oder geteiltem Bezugsrecht, Renten- oder Kapitallebensversicherungen mit oder ohne
Renten- bzw. Kapitalwahlrecht usw.
2 Bei einer Todesfalllebensversicherung tritt die Fälligkeit des Anspruchs mit dem Tod der
versicherten Person ein, bei der Erlebensversicherung wird der Anspruch mit dem Erreichen eines bestimmten Lebensalters fällig.
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den anderen das Rechtsinstitut der Pflichtteilsergänzung (§ 2325 ff. BGB) zur
Verfügung. Zudem sieht das Gesetz im Rahmen weiterer Vorschriften einen Ausgleich bzw. die Anrechnung dieser durch Rechtsgeschäft unter Lebenden vorgenommenen Zuwendung vor.
So muss sich der Pflichtteilsberechtigte auf seinen Pflichtteil anrechnen lassen,
was ihm von dem Erblasser durch Rechtsgeschäft unter Lebenden mit der Bestimmung zugewendet worden ist, dass es auf den Pflichtteil angerechnet werden soll
(§ 2315 I BGB).
§§ 2316, 2050 ff. BGB ordnet bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen den Ausgleich der durch Rechtsgeschäft unter Lebenden vom Erblasser
erworbenen Zuwendung im Rahmen der Auseinandersetzung der Miterbengemeinschaft bzw. bei der Berechnung des Pflichtteils des pflichtteilsberechtigten
Zuwendungsempfängers an.
Der durch die Drittbegünstigung beeinträchtigte Vertragserbe, -vermächtnisnehmer, Schlusserbe oder Schlussvermächtnisnehmer kann unter Umständen die
Herausgabe des Geschenks vom Zuwendungsempfänger verlangen (§ 2287 f.
BGB).
Auch im Rahmen des güterrechtlichen Zugewinnausgleichs gewinnt das zu
Lebzeiten des Versicherungsnehmers eingeräumte Bezugsrecht zugunsten eines
Dritten an Bedeutung, wenn der Ehegatte des Versicherungsnehmers nach Beendigung der Ehe durch Tod3 oder Scheidung (§ 1372 BGB) den Ausgleich des
Zugewinns begehrt.
Die Zuwendung von Bezugsrechten aus Lebensversicherungen kann bei der
Berechnung des güterrechtlichen Ausgleichsanspruchs im Rahmen des »privilegierten Erwerbs« gemäß § 1374 II BGB, bei der Anrechnung von Vermögensverschiebungen des dolosen Ehegatten nach § 1375 II BGB und hinsichtlich der
Anrechnung von Vorausempfängen nach § 1380 BGB eine Rolle spielen.
Innerhalb dieser Verfahren stellt sich nun die Frage, welcher Vermögensgegenstand bzw. welcher Vermögenswert der erb- und familienrechtlichen Anrechnung
bzw. Ausgleichung zugrunde zu legen ist.
Die Versicherungsforderung? Die Versicherungssumme? Der Rückkaufswert?
Die Gesamtsumme der erbrachten Prämien?
Über diese Frage wird seit langem diskutiert.
Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat bislang nur im Hinblick auf die
Pflichtteilsergänzung und die insolvenz- bzw. außerinsolvenzrechtliche Anfechtung Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen.
Während die Rechtsprechung bei der Pflichtteilsergänzung im Fall eines
widerruflichen Bezugsrechts stets auf die vom Versicherungsnehmer erbrachten
Prämien abgestellt hat4, differenzierte sie im Rahmen der lnsolvenzanfechtung in
3 In diesem Fall findet der güterrechtliche Zugewinnausgleich (§ 1371 II, III BGB) nur statt,
wenn sich der überlebende Ehegatte nicht für die erbrechtliche Lösung gemäß § 1371 I
BGB entscheidet.
4 RGZ 128, 187 ff.; BGHZ 7, 134 ff.; BGH NJW 1965, 1913 f.; BGH FamRZ 1976, 616 f.;
BGH VersR 1987, 659ff.
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demselben Fall bislang zwischen der anfänglichen und nachträglichen Einräumung des Bezugsrechts5. Bei anfänglicher Drittbegünstigung seien die innerhalb
des Anfechtungszeitraums erbrachten Prämien maßgeblich. Bei einem nachträglich eingeräumten Bezugsrecht sei der Anspruch auf die Versicherungssumme
zurückzugewähren.
Mit seiner Entscheidung vom 23.10.2003 hat der BGH6 seine bis dahin in strenger Rechtsprechung vertretene Auffassung in Bezug auf die anfechtungsrechtliche Behandlung der Zuwendung von Bezugsrechten aus Lebensversicherungen
geändert. Von nun an soll der widerruflich Begünstigte zur (anfechtungsrechtlichen) Rückgewähr des Anspruchs auf die Versicherungssumme bzw. der Versicherungssumme selbst verpflichtet sein.
Seitdem häuft sich die Anzahl der Stimmen, die einen Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch in Bezug auf die Berücksichtigung der Lebensversicherung im Rahmen der erb- und familienrechtlichen Anrechnung und Ausgleichung fordern7.
Bereits vor über 10 Jahren wurde mit dem Hinweis auf die innerhalb der jeweiligen Verfahren angeblich gleich gelagerte Interessenlage für eine gleichgerichtete Anwendung der §§ 2325 ff., 2287 f. BGB und der §§ 32 KO, 3 I Nr. 2, Nr. 4
AnfG a.F. plädiert8.
Die Frage des ausgleichungs- bzw. anrechnungspflichtigen Zuwendungsgegenstands gewinnt insbesondere dann an Bedeutung, wenn man die Auswirkungen der Rechtsprechungsänderung im Bereich des Anfechtungsrechts näher
betrachtet. Nach der früheren Rechtslage musste der widerruflich Bezugsberechtigte, dem das Bezugsrecht bereits bei Abschluss des Versicherungsvertrags eingeräumt worden war, nur eine Inanspruchnahme auf die innerhalb der Anfechtungsfrist bezahlten Prämien befürchten9.
Nach der neuen Rechtsprechung des BGH ist er nach erfolgreicher Anfechtung
der Zuwendung durch den Insolvenzverwalter oder den in der Einzelzwangsvollstreckung ausgefallenen Gläubiger indes zur Herausgabe der gesamten Versicherungssumme verpflichtet. Diejenigen Versicherungsnehmer, die ihre Hinterbliebenen in Zukunft effektiv vor einem Zugriff ihrer Gläubiger schützen wollen,
werden daher dazu gezwungen sein, das Bezugsrecht als ein unwiderrufliches
auszugestalten und die Tatsache hinzunehmen, dass sie in Anbetracht der Unwiderruflichkeit auf die wirtschaftliche Nutzbarkeit der Lebensversicherung für
eigene Zwecke verzichten müssen10.
Damit büßen sie indes nicht nur die eigene finanzielle Beweglichkeit, sondern
auch die Freiheit ein, den in Ungnade gefallenen Begünstigten auszutauschen.
5 BGHZ 13, 232; 32, 47; RGZ 14, 21; 51, 403 (404); 54, 96; 61, 217 (219); 62, 46; 66, 158
(162); 71, 324; 153, 220.
6 BGHZ 156, 350 ff. = NJW 2004, 214 ff. = ZIP 2003, 2307 ff. = VersR 2004, 93 ff.
7 Elfring, ZEV 2004, 305 ff.; Hasse, Lebensversicherung und erbrechtlicher Ausgleichsanspruch, 2005.
8 Kollhosser, AcP 194 (1994), 231 ff. (261).
9 RGZ 51, 403 ff.; 54, 96; 61, 217, 219; 62, 46 u. 263; 66, 158; 71, 324; 80, 177; 128, 187;
153, 220, 225; 154, 155, 159; OLG München ZIP 1991, 1505.
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Die Versicherungsnehmer von Lebensversicherungen zugunsten Dritter stehen
folglich vor dem Problem, ob sich diese Konsequenzen auch im Hinblick auf den
Ausgleich und die Anrechnung im Erb- und Familienrecht ergeben.
Gegenstand dieser Arbeit ist daher die Frage, ob zu erwarten ist, dass der in der
Entscheidung des BGH eingeschlagene Weg auch im Rahmen der erb- und familienrechtlichen Ausgleichs- und Anrechnungsvorschriften weiter verfolgt werden
wird.
Die Untersuchung beginnt mit der Darstellung der erb- und familienrechtlichen Ausgleichs- und Anrechnungsverfahren, wobei die Frage des anrechnungsbzw. ausgleichungspflichtigen Vermögensgegenstands im Fall der Zuwendung
des Bezugsrechts aus einer Lebensversicherung im Mittelpunkt steht (1 .Teil).
Daran schließt sich eine Darstellung sowohl der früheren als auch der neuen
höchstrichterlichen Rechtsprechung zur anfechtbaren Rechtshandlung und zum
Gegenstand des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs bei der Anfechtung einer unentgeltlichen Zuwendung des Versicherungsanspruchs an (2. Teil).
Im letzten Teil folgt eine Untersuchung der Auswirkungen, welche die Entscheidung des BGH auf die erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren hat bzw. haben kann (3.Teil). Dabei werden zunächst die
Besonderheiten des insolvenz- bzw. außerinsolvenzrechtlichen Verfahrens bei
der Anfechtung von Zuwendungen im Zusammenhang mit Lebensversicherungen
untersucht. Danach werden das Anfechtungsverfahren und die erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren gegenüber gestellt, um
im Anschluss daran die bestehenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzuzeigen.
Zuletzt wird anhand der dort gewonnenen Ergebnisse eine Prognose der Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung hinsichtlich des anrechnungsbzw. ausgleichungspflichtigen Vermögensgegenstands im Erb- und Familienrecht bei Zuwendungen von Bezugsrechten aus Lebensversicherungen vorgenommen.
10 Vgl. Hasse, VersR 2004, 962, der dies für unbillig hält. Vgl. auch Staudinger-Jagmann
(2004), § 330 Rn. 48: Der Versicherungsnehmer habe ein Interesse an einem bloß widerruflichen Bezugsrecht, weil er dann schnell auf zukünftige Entwicklungen reagieren
könne.
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References
Zusammenfassung
Mit welchem Wert sind Lebensversicherungen anzusetzen, wenn sie in erb- oder familienrechtlichen Ausgleichungs- oder Anrechnungsregelungen zu berücksichtigen sind: Mit der Versicherungssumme? Mit der Summe der erbrachten Prämienzahlungen? Mit dem Rückkaufswert? In Rechtsprechung und Literatur ist ein einheitliches Vorgehen bislang nicht erkennbar.
Die vorliegende Arbeit untersucht diese Frage auch unter Berücksichtigung der im Jahr 2003 auf dem Gebiet des Insolvenzrechts erfolgten Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichtshofes differenziert anhand der Vielzahl an Funktionen, die eine Lebensversicherung erfüllen kann.