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II. Schlussfolgerung
Eine Übereinstimmung ist insoweit zu verzeichnen, als auch bei § 1380 I 2 BGB
von »Gelegenheitsgeschenken« die Rede ist und es auch hier auf einen objektiven
Maßstab ankommt. Anders als im Rahmen der Anfechtung wegen unentgeltlicher
Leistung kommt es indes nicht auf die Geringwertigkeit des Gelegenheitsgeschenks an (§§ 134 II InsO, 4 II AnfG).
Eine weitere Gemeinsamkeit besteht hinsichtlich des Normzwecks. Auch bei
der Anfechtung wegen »unentgeltlicher Leistung‘ sollen die Gläubiger so gestellt
werden, als sei die anfechtbare Rechtshandlung nicht vorgenommen worden.
Zudem richtet sich sowohl der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch, als
auch die Anrechnungspflicht des § 1380 BGB stets gegen den Zuwendungsempfänger.
Dem stehen jedoch folgende wesentliche Unterschiede gegenüber: zum einen
liegen beiden Verfahren unterschiedliche Bewertungsstichtage zugrunde. Zum
anderen divergieren die Rechtsfolgen der Vorschriften. Darüber hinaus werden
die Interessen der Beteiligten innerhalb der beiden Verfahren völlig anders
gewertet. Der schwerwiegendste Unterschied besteht jedoch darin, dass die
Anrechnungsvorschriften – anders als die Anfechtungsvorschriften – wegen der
Möglichkeit eine Anrechnungsbestimmung zur Disposition des zuwendenden
Ehegatten stehen. Aus diesem Grund ist eine Übertragung der innerhalb des
Anfechtungsverfahrens getroffenen Wertungen auf das Anrechnungsverfahren
nach § 1380 BGB nicht möglich.
H. Fazit
Es bleibt festzuhalten, dass zwar wesentliche Übereinstimmungen zwischen den
dargestellten erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren, nicht jedoch zwischen diesen Verfahren und dem insolvenz- bzw. außerinsolvenzrechtlichen Anfechtungsverfahren bestehen.
Besonders auffällig ist, dass der Anwendungsbereich der §§ 134 InsO, 4 AnfG
im Vergleich zu den erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren sehr weit gefasst ist. Privilegierte Zuwendungsgegenstände, die
im Rahmen dieser Verfahren bereits von vornherein nicht auszugleichen oder
anzurechnen sind, unterliegen in der Regel weiterhin der Anfechtung. Dies gilt
z.B. für die Pflicht- und Anstandsschenkungen. Zu berücksichtigen ist in diesem
Zusammenhang darüber hinaus, dass die Geringwertigkeit der Zuwendung, die
bei §§ 134 II InsO, 4 II AnfG für die Privilegierung einer Zuwendung entscheidend ist, in keiner anderen der dargestellten erb- und familienrechtlichen Ausgleichungs- und Anrechnungsverfahren von Bedeutung ist. Bei den Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren des Erb- und Familienrechts werden die
Zuwendungen, mit denen einer sittlichen Pflicht nachgekommen wird bzw. mit
denen ein »sozialer« Zweck verfolgt wird – unabhängig von ihrem Umfang – pri-
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vilegiert. Dort steht die soziale Komponente im Vordergrund, während beim
insolvenz- und außerinsolvenzrechtlichen Anfechtungsrecht der Umfang des Vermögensabflusses im Mittelpunkt steht.
Das Anfechtungsverfahren zeichnet sich demnach durch einen sehr weiten
Anwendungsbereich des Anfechtungstatbestands und durch die Besserstellung
einer wertmäßig geringen Zuwendung im Vergleich zu einer »sozialen« Zuwendung aus. Der darin zum Ausdruck kommende Unterschied zu den Anrechnungsund Ausgleichungsverfahren des Erb- und Familienrechts setzt sich in der unterschiedlichen Interessenbewertung fort.
Innerhalb der erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren werden die Interessen des in einer der Hinterbliebenenversorgung dienenden Lebensversicherung Begünstigten privilegiert, während diese im Anfechtungsrecht von dem insoweit vorrangigen Befriedigungsinteresse der Gläubiger
verdrängt werden.
Dieses Verhältnis wird auch an den unterschiedlichen Bewertungsstichtagen
deutlich. Bei der insolvenz- und außerinsolvenzrechtlichen Anfechtung wurde
der Bewertungsstichtag zu Gunsten der Anfechtungsberechtigten sehr weit nach
hinten, nämlich auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Rückgewähr bzw. – bei einem
Anfechtungsprozess – auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in
der Tatsacheninstanz1452 ‚ verlagert. Dies hat für die Gläubiger den Vorteil, dass
ihnen auch zwischenzeitlich eingetretene Werterhöhungen, die aller Wahrscheinlichkeit auch beim Schuldner eingetreten wären, zugute kommen.
Im Gegensatz dazu wird bei der Pflichtteilsergänzung auf den niedrigsten Wert
abgestellt (»Niederstwertprinzip«‘ § 2325 II 2 BGB). Für die erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren gelten im Unterschied
zum Anfechtungsrecht strenge Stichtagsregelungen.
Die Tatsache, dass das Befriedigungsinteresse der Gläubiger die Interessen des
durch eine Lebensversicherung Begünstigten im Rahmen des Anfechtungsverfahrens verdrängt, ist auch der Grund dafür, dass die hinsichtlich des Normzwecks zum Teil1453 durchaus bestehenden Gemeinsamkeiten in den Hintergrund
treten. Die unterschiedliche Interessenbewertung führt nämlich zugleich dazu,
dass Vorschriften unterschiedlich auszulegen sind, auch wenn die Privilegierung
einzelner Interessen – sofern hinreichende Schutzmechanismen vorhanden sind –
nicht zwingend zu einer anderen rechtlichen Bewertung führen muss.
Aufgrund der unterschiedlichen Interessenwertungen ist eine Übertragung der
innerhalb des Anfechtungsverfahrens getroffenen Wertungen auf die erb- und
familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren oder umgekehrt
von diesen auf jenes Verfahren nicht möglich.
1452 Gottwald/Huber, Insolvenzrechts-Handbuch, § 52 Rn. 11.
1453 Im Hinblick auf den Normzweck bestehen zwischen dem Pflichtteilsergänzungsverfahren,
dem Verfahren nach §§ 2287 f. BGB sowie § 1380 BGB und dem Anfechtungsverfahren
durchaus Gemeinsamkeiten.
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3. Kapitel:
Prognose der Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
in Bezug auf die erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und
Ausgleichungsverfahren unter Berück-sichtigung der Entscheidung
des BGH vom 23.10.20031454
Zuletzt ist die Frage zu beantworten, ob damit zu rechnen ist, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zur anfechtungsrechtlichen Berücksichtigung der die
Gläubiger des Versicherungsnehmers beeinträchtigenden (widerruflichen) Bezugsrechtseinräumung zugunsten eines Dritten auch auf die dargestellten erbund familienrechtlichen Ausgleichungs- und Anrechnungsverfahren übertragen
werden wird. Besonders berücksichtigt werden dabei die durch den Vergleich der
Verfahren gewonnenen Ergebnisse sowie die vom BGH vorgebrachten Argumente.
Dabei ist zu beachten, dass der BGH in Bezug auf die Frage des auszugleichenden bzw. anzurechnenden Vermögensgegenstands bzw. -werts im Zusammenhang
mit der Zuwendung des Anspruchs auf die Versicherungsleistung bislang nur hinsichtlich der Pflichtteilsergänzung zur Wort gekommen ist.
Bezüglich der anderen Verfahren lautet die Frage daher nicht, ob hier mit
einem Wandel der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu rechnen ist, sondern
vielmehr, ob zu erwarten ist, dass der BGH den mit seiner Entscheidung vom
23.10.2003 eingeschlagenen Weg konsequent – auch im Hinblick auf diese Verfahren – weiter gehen wird.
A. Gleichbehandlung von unmittelbarer und mittelbarer Zuwendung
Die Feststellung des BGH, dass Gegenstand des anfechtungsrechtlichen Rückgewährgegenstands die bei Fälligkeit des Anspruchs vom Versicherer zu erbringende Leistung, d.h. die Versicherungssumme, ist, beruht auf der Annahme, dass
unmittelbare und mittelbare Zuwendung anfechtungsrechtlich gleich zu behandeln sind. Die für eine Gleichbehandlung sprechenden Argumente1455 lassen sich
auf alle erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren
übertragen. Insoweit kann man daher damit rechnen, dass der BGH auch im Rahmen der erb- und familienrechtlichen Anrechnungs- und Ausgleichungsverfahren
unmittelbare und mittelbare Zuwendungen gleich behandeln und dementsprechend auf die Versicherungssumme abstellen wird.
1454 BGHZ 156, 350 ff. = NJW 2004, 214 ff. = ZIP 2003, 2307 ff. = VersR 2004, 93 ff.
1455 Gemeint ist: Gleichbehandlung aus Interessensgesichtspunkten und unter Berücksichtigung des wahren Willens des Zuwendenden, »Quasi-Identität« zwischen Entreicherungsund Bereicherungsgegenstand, das Umgehungsargument und die wirtschaftliche Betrachtung, vgl. S. 76 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Mit welchem Wert sind Lebensversicherungen anzusetzen, wenn sie in erb- oder familienrechtlichen Ausgleichungs- oder Anrechnungsregelungen zu berücksichtigen sind: Mit der Versicherungssumme? Mit der Summe der erbrachten Prämienzahlungen? Mit dem Rückkaufswert? In Rechtsprechung und Literatur ist ein einheitliches Vorgehen bislang nicht erkennbar.
Die vorliegende Arbeit untersucht diese Frage auch unter Berücksichtigung der im Jahr 2003 auf dem Gebiet des Insolvenzrechts erfolgten Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichtshofes differenziert anhand der Vielzahl an Funktionen, die eine Lebensversicherung erfüllen kann.