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2. Grundsatz der Gesamtvertretung
Mangels Vertretungsregelung in der SE-Verordnung519 kommt gem. Art. 9 Abs. 1
lit. c) ii) SE-VO der § 78 AktG und damit der Grundsatz der Gesamtvertretung
für den Vorstand zur Anwendung. Insgesamt gilt daher der Grundsatz der
Gleichberechtigung uneingeschränkt auch für die dualistische SE.
III. Grundsatz der Gesamtverantwortung
Das zweite Leitprinzip der Vorstandsorganisation im deutschen Aktienrecht ist
der Grundsatz der Gesamtverantwortung, der sich in die Grundsätze der Gesamtleitung bzw. der gegenseitigen Kontrolle gliedert.520 Der Grundsatz der Gesamtleitung wird im Wesentlichen aus § 76 Abs. 1 AktG hergeleitet. Für die dualistische SE ist Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO wegen Art. 9 Abs. 1 lit. a) SE-VO vorrangig.
Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO beinhaltet zunächst eine dem § 76 Abs. 1 AktG
vergleichbare Abgrenzung der Aufgabe des Leitungsorgans gegenüber den anderen Organen. Er gebraucht aber den Begriff der Geschäftsführung statt der Leitung. Wie oben dargelegt werden im deutschen Recht beide Begriffe nicht immer
trennscharf verwendet und die Leitung wird als herausgehobener Teilbereich der
Geschäftsführung begriffen.521 Insofern kann der Verwendung des Begriffs
»Geschäftsführung« in der deutschen Fassung der SE-Verordnung keine Bedeutungsänderung entnommen werden. Art. 39 Abs. 1 S. 1 AktG weist daher die
unternehmerische Leitung im Sinne des § 76 Abs. 1 AktG dem Vorstand zu.
Die Vorschrift des Art. 39 Abs. 1 S. 1 AktG ist wie § 76 Abs. 1 AktG an das
gesamte Leitungsorgan adresssiert, so dass sich daraus die Geltung des Grundsatzes der Gesamtleitung für die SE entnehmen lässt. Für dieses Ergebnis spricht
auch Art. 39 Abs. 1 S. 2 SE-VO, der nur eine Delegation des Tagesgeschäfts
zulässt. Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO erlaubt also ebenfalls nur eine Geschäftsverteilung, bei der die originären Leitungsaufgaben beim Kollegium verbleiben.522
Spiegelbildlich muss für die dualistische SE auch der Grundsatz der gegenseitigen Kontrolle der Vorstandsmitglieder gelten. Wie bei der AG lässt sich dieser
Grundsatz aus der Organstellung der Vorstandsmitglieder der SE herleiten. Auch
die Haftung entspricht über Art. 51 SE-VO i. V. m. § 93 Abs. 2 AktG der des Vorstands in der AG.
Insgesamt gilt also auch für den Vorstand in der dualistische SE das Kollegialprinzip, auch wenn der Verordnungstext dies weniger deutlich als das deutsche
Aktiengesetz zum Ausdruck bringt. Nachfolgend sind die Personalisierungsmög-
519 Art. 71 SE-VOV 1989 sah noch ausdrücklich das Prinzip der Gesamtvertretung vor.
520 Siehe oben 2. Teil A.I.3.
521 Siehe oben 2. Teil A.I.4.
522 So für dualistische SE mit Sitz in Österreich Artmann, wbl 2002, 189 (192).
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lichkeiten der deutschen dualistischen SE in Anlehnung an die der AG zu untersuchen.
C. Einzelne Personalisierungsmöglichkeiten und ihre notwendige
Begrenzung im SEAG
I. Ein-Mann-Vorstand
1. Art. 39 Abs. 4 SE-VO
Zunächst ist zu prüfen, inwieweit auch bei der SE ein Ein-Mann-Vorstand möglich ist. Gem. Art. 39 Abs. 4 SE-VO bestimmt grundsätzlich die Satzung die Zahl
der Mitglieder des Leitungsorgans oder die Regeln für deren Festlegung. Bei der
dualistischen SE muss also die Satzung eine Vorgabe bzgl. der Mitgliederanzahl
machen. Anders als bei § 76 Abs. 2 S. 1 AktG ist ausdrücklich bestimmt, dass
auch eine Regelung zur Festlegung der Mindestzahl genügt. Damit kann beispielsweise dem Aufsichtsrat die Bestimmung dieser Zahl überlassen werden.
Dies wird jedoch überwiegend auch bei § 76 Abs. 2 S. 1 AktG bejaht,523 so dass
sich für die dualistische SE insofern keine Abweichung ergibt.
Weiterhin ermächtigt Art. 39 Abs. 4 S. 2 SE-VO die Mitgliedsstaaten, eine
Mindest- oder Höchstzahl an Mitgliedern des Leitungsorgans festzulegen. Der
deutsche Gesetzgeber hat von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht und in § 16
SEAG die Regelung des § 76 Abs. 1 S. 1 AktG auch für die dualistische SE übernommen, um einen Gleichlauf mit dem deutschen Aktienrecht herzustellen.524
Art. 39 Abs. 4 S. 2 SE-VO lässt als Minus zu abstrakten Fixgrenzen eine Anknüpfung an eine bestimmte Grundkapitalgrenze zu. Die Übertragung von § 76 Abs.
2 S. 1 AktG aus Gründen des Gleichlaufs mit dem nationalen Aktienrecht überzeugt. Zwar wird Sinnhaftigkeit der Grundkapitalgrenze im deutschen Recht
bezweifelt,525 aber die Reformbestrebungen im nationalen Aktiengesetz sollten
zunächst dort ausdiskutiert werden.526 Mit einer eventuellen Reform des Aktiengesetzes kann dann eine Anpassung des SEAG erfolgen.
523 Siehe oben 2. Teil A.III.1.a).
524 Zustimmend Hirte, NZG 2002, 1 (6); Teichmann, in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, S. 691 (728).
525 Siehe oben 2. Teil A.III.1.a).
526 Vgl. Teichmann, in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, S. 691
(729) in Bezug auf die Diskussion um die Höchstzahl der Aufsichtsratsmitglieder.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.