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Systeme, die eine Vielzahl von Ermächtigungen für die Mitgliedsstaaten enthalten. Darüber hinaus enthalten die Vorschriften zur Beteiligung der Arbeitnehmer
in der SE-Richtlinie Aussagen zur Leitungsstruktur.
Wegen der rudimentären Regelung der Leitungsstruktur und der vielen Verweise auf nationales Recht lässt sich allein auf der Basis der SE-Verordnung noch
keine Aussage über die Personalisierungsmöglichkeiten in der SE treffen. Hier
sind auch die mögliche Ausübung der Ermächtigungen und das nationale Aktienrecht zu berücksichtigen. Eine europaweite einheitliche Gestaltung der Europäischen Aktiengesellschaft wurde also auch innerhalb der beiden Systeme der
Unternehmensverfassung nicht erreicht.472
Untersucht wird nachfolgend allein eine SE mit Sitz in Deutschland, die
untechnisch als »deutsche SE« bezeichnet wird.473 Der deutsche Gesetzgeber hat
zur Umsetzung der SE das SE-Einführungsgesetz474 erlassen. Das in Artikel 1 enthaltene SE-Ausführungsgesetz (SEAG) gestaltet die in der SE-Verordnung enthaltenen Ermächtigungen aus und konkretisiert im Übrigen die Regelungen der
Verordnung. Das in Artikel 2 enthaltene SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) setzt die
Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung in der SE um.
Zwar bedurfte die SE-Verordnung anders als die SE-Richtlinie aus rechtlicher
Sicht keiner Umsetzung in nationales Recht. Das SE-Ausführungsgetz informiert
aber gründungswillige Gesellschaften darüber, was die Verweisungen auf das
deutsche Recht im Einzelnen bedeuten und enthält daneben die Ausgestaltung der
in der SE-Verordnung enthaltenen Ermächtigungen durch den deutschen Gesetzgeber.
II. Allgemeine Gestaltungsprinzipien für die Ausfüllung der SE-Verordnung
Um die Angemessenheit der Regelungen des SE-Ausführungsgesetzes beurteilen
zu können, ist einleitend zu fragen, welche allgemeinen Prinzipien bei der Aus-
übung der Ermächtigungen sowohl im Rahmen des dualistischen als auch des monistischen Systems in der SE-Verordnung zu beachten sind.
1. Schaffung eines praktikablen Rechtsrahmens
Die Ausgestaltung der Ermächtigungen der SE-VO muss zunächst mit dem Ziel
erfolgen, dass die neue supranationale Rechtsform lebensfähig und praktikabel
472 Kübler, ZHR 2003, 222 (223); Schwarz, ZIP 2001, 1847 (1860).
473 Vgl. Hommelhoff, AG 2001, 279 (285); Schwarz, ZIP 2001, 1847 (1860).
474 Siehe oben Fn. 21. In der folgenden Darstellung wird teilweise auch auf den früheren Diskussionentwurf (DiskE) des Gesetzes Bezug genommen, der in der Literatur große Beachtung gefunden hat. Der DiskE ist abgedruckt in AG 2003, 204-209 (ohne Begründung) und
Sonderbeilage zu NZG 7/2003 (mit Begründung). Siehe auch die Vorüberlegungen von
Teichmann, ZIP 2002, 1109 ff.
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ist.475 Dies gebieten Art. 68 Abs. 1 SE-VO und speziell für den Bereich der Leitung und Überwachung Erwägungsgrund 14 der SE-Verordnung. Für die dualistische SE kann größtenteils auf die Regelungen des deutschen Aktienrechts zurückgegriffen werden. Für die monistische SE muss dagegen anstelle der §§ 76-
116 AktG ein funktionsfähiges monistisches System geschaffen werden.476
2. Gleichlauf mit dem deutschen Aktienrecht
Darüber hinaus sollte bei der Ausübung der Ermächtigungen ein Gleichlauf mit
dem nationalen Aktienrecht angestrebt werden. Für die sog. freien Ermächtigungen477, die der die SE eine Regelung in der Satzung gewähren, ordnet bereits die
SE-Verordnung einen Gleichlauf mit dem mitgliedsstaatlichen Recht an. So können diese Ermächtigungen von den Mitgliedsstaaten nur ausgeübt werden, wenn
eine entsprechende nationale Regelung besteht.478
Die sog. Gestaltungsermächtigungen mit Regelungsauftrag an die Mitgliedsstaaten sind dagegen nach der SE-Verordnung nicht ausdrücklich an einen
Gleichlauf mit dem nationalen Aktienrecht gebunden.479 Zweifelhaft ist aber, ob
auch für diese Ermächtigungen ein Gleichlaufgebot aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 10 SE-VO bzw. aus Erwägungsgrund 5 folgt. Art. 10 SE-VO will
in erster Linie eine Schlechterstellung der SE vermeiden. Stellenweise wird angenommen, dass Art. 10 SE-VO gleichzeitig auch ein Verbot einer Besserstellung
der SE gegenüber der nationalen Aktiengesellschaft enthält.480 In diesem Fall
würde aus der Regelung also ein Gleichlaufgebot folgen.
Der deutsche Gesetzgeber wollte aber schon aus Praktikabilitätsgründen einen
weitgehenden Gleichlauf mit dem nationalen Aktienrecht anstreben, und zwar
sowohl bei der Regelung des bekannten dualistischen Systems als auch nach
Möglichkeit bei der Ausgestaltung des monistischen Systems.481
3. Erhaltung der Gestaltungsfreiheit
Die Schaffung bzw. Erhaltung der Gestaltungsfreiheit der SE ist neben der Schaffung eines generell praktikablen Rechtsrahmens und der Verwirklichung eines
Gleichlaufs mit dem nationalen Aktienrecht ein dritter zu berücksichtigender Ge-
475 Brandt, NZG 2002, 991 (991 f.); Teichmann, ZIP 2002, 1109 (1114).
476 Vgl. Teichmann, ZIP 2002, 1109 (1114).
477 Vgl. dazu Hommelhoff, FS Ulmer, S. 267 (275).
478 Brandt, NZG 2002, 991 (993 f.).
479 Hommelhoff, FS Ulmer, S. 267 (275).
480 So Jaap Winter in einem Vortrag auf der Konferenz »The New European Company: Opportunity in Diversity« in Leiden am 29.11.2002; a.A. Kallmeyer, AG 2003, 197 (198); zweifelnd Hommelhoff, FS Ulmer, S. 267 (277).
481 Neye/Teichmann, AG 2003, 170 (176 f.).
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sichtspunkt bei der Ausübung der Ermächtigungen. Er folgt bereits aus dem
Grundsatz, die SE lebensfähig und attraktiv auszugestalten.482 Es stellt sich aber
die Frage, inwieweit der deutsche Grundsatz der Satzungsstrenge in § 23 Abs. 5
AktG dieser Gestaltungsfreiheit Grenzen zieht.
Art. 9 Abs. 1 lit. b) SE-VO statuiert für die SE den Grundsatz der Satzungsdispositivität, allerdings nur, soweit sie ausdrücklich in der SE-Verordnung angelegt
ist. Im Übrigen kommt wegen Art. 9 Abs. 1 lit. c) iii) SE-VO der § 23 Abs. 5 AktG
zur Anwendung.483 Überwiegend wird deshalb die Geltung des Grundsatzes der
Satzungsstrenge sowohl für die dualistische als auch die monistische SE bejaht.484
Da zudem die SE der Satzung nur insoweit unterliegt, wie die Mitgliedstaaten
dies zulassen, sei der Grundsatz der Satzungsstrenge gar noch verschärft.485
Andere sehen dagegen bei der SE eine Lockerung der Satzungsstrenge aufgrund
der Satzungswahlrechte wie beispielsweise die Wahlmöglichkeit zwischen
monistischem und dualistischem System und die Amtsdauer der Organmitglieder.486 Neben diesen beiden Beispielen bestehen aber nur wenige weitere Wahlrechte, die teilweise noch durch mitgliedstaatliches Recht eingeschränkt werden
können.487 Infolgedessen erscheint eine Lockerung der Satzungsstrenge bei der
SE eher zweifelhaft.
Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass letztendlich die Satzungsstrenge
in der SE stark von ihrer Ausgestaltung durch den deutschen Gesetzesgeber und
der Reichweite des Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii) SE-VO abhängt.488 Bei der dualistischen
SE hat der deutsche Gesetzgeber die in der SE-Verordnung bestehenden freien
Gestaltungsermächtigungen wegen des angestrebten Gleichlaufs mit dem nationalen Aktienrecht meist ausgeübt und hier keinen neuen Gestaltungsspielraum
eröffnet. Die Gestaltungsfreiheit erlangt aber vor allem für die Ausgestaltung des
monistischen Systems Bedeutung,489 obwohl sie weniger ein spezifisches
Wesensmerkmal des monistischen Systems bildet, sondern vielmehr Ausdruck
der allgemeinen gesetzgeberischen Zurückhaltung im anglo-amerikanischen
Rechtskreis ist.490 Der deutsche Gesetzgeber beabsichtigte, der monistischen
(deutschen) SE ebenfalls eine weitgehende satzungsmäßige Gestaltungsfreiheit
zu gewähren und nur insoweit Vorgaben zu machen, wie dies aus Anleger- und
482 So schon Sanders, AWD-BB 1960, 1 (3).
483 In Art. 69 lit. d) SE-VO ist allerdings festgelegt, dass die Kommission in den ersten fünf
Jahren nach Inkrafttreten der Verordnung prüft, inwieweit der SE in Zukunft mehr Satzungsfreiheit als nationalen Aktiengesellschaften eingeräumt werden kann.
484 Bungert/Beier, EWS 2002, 1 (2); Hommelhoff, AG 2001, 279 (287); Lutter, BB 2002, 1
(4); Teichmann, ZGR 2002, 383 (388).
485 Hommelhoff, FS Ulmer, S. 267 (272).
486 Schwarz, ZIP 2001, 1847 (1860).
487 Vgl. die Zusammenstellung bei Hommelhoff, FS Ulmer, S. 267 (274 f.).
488 Hirte, NZG 2002, 1 (5).
489 Leyens, RabelsZ 2003, 57 (97); Potthoff, BFuP 1996, 253 (254); Teichmann, BB 2004, 53.
490 Merkt, ZGR 2003, 650 (653); Teichmann, in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische
Aktiengesellschaft, S. 691 (731).
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Gläubigergesichtspunkten notwendig ist.491 Verglichen mit anderen monistischen
Systemen ist die Gestaltungsfreiheit der deutschen monistischen SE, wie noch zu
zeigen sein wird, dennoch geringer. Dies ließ sich deshalb nicht vermeiden, weil
sich die monistische SE in das satzungsstrenge Umfeld des Aktiengesetzes einfügen musste.492 Allerdings besteht gerade für den Bereich der Geschäftsführung
eine Ausnahme vom Grundsatz der Satzungsstrenge.493
III. Bezeichnung der Organe
Art. 38 lit. b SE-VO verwendet für die Organe in den beiden Systemen die Begriffe »Leitungsorgan« und »Aufsichtsorgan« bzw. »Verwaltungsorgan«.494 Dadurch wird jedoch nur die Struktur der beiden Unternehmensverfassungen vorgegeben und nicht die genaue Bezeichnung ihrer Organe.495 Manche meinen, dass
Art. 9 Abs. 1c) ii) SE-VO für die in dem Mitgliedsstaat bereits bekannte Unternehmensverfassung einen Gleichlauf der Begrifflichlichkeiten mit dem nationalen Recht fordert.496 Das SEAG spricht dagegen von »Leitungs-« bzw. »Aufsichtsorgan«.497 Es wäre zweckmäßiger gewesen, die Begriffe »Vorstand« und
»Aufsichtsrat« zu verwenden.498 Auch bei einer solchen Bezeichnung wäre die
Gefahr einer falschen Zuordnung zu den entsprechenden Organen in der Terminologie der SE-Verordnung gering gewesen.
Bei der monistischen SE bereitet die Terminologie mehr Schwierigkeiten, weil
kein entsprechendes Vorbild im deutschen Recht existiert. Eine teilweise Gleichsetzung des Verwaltungsorgans mit dem Vorstand zur Verwirklichung eines weit-
491 Vgl. Neye/Teichmann, AG 2003, 169 (177); zustimmend Hommelhoff, FS Ulmer, S. 267
(278); Brandt, DStR 2003, 1208 (1211). Ein solches Vorgehen empfiehlt schon Sanders,
AWD-BB 1960, 1 (3).
492 Hommelhoff, FS Ulmer, S. 267 (278); Teichmann, BB 2004, 53 (58); kritisch hingegen
DAV-Stellungnahme 65/03, S. 18; Forstmoser, ZGR 2003, 688 (718); Merkt, ZGR 2003,
650 (654).
493 Vgl. § 40 Abs. 2 S. 2 SEAG.
494 In der deutschen Fassung der ersten beiden Verordnungsvorschlägen wurden die Organe
des dualistischen Systems noch als »Vorstand« bzw. »Aufsichtsrat« bezeichnet, vgl. Art.
62, 73 des Ersten geänderten Vorschlags einer Verordnung über das Statut der Europäischen Aktiengesellschaft vom 30.04.1975 (SE-VOV 1975), KOM (75) 150 endg., abgedruckt in Beilage 4/75 zum Bulletin der EG.
495 So ist wohl auch Brandt, DStR 2003, 1208 (1211), Fn. 46 zu verstehen.
496 Schindler, Die Europäische Aktiengesellschaft, S. 73; Brandt, DStR 2003, 1208 (1211),
Fn. 46; Hirte, NZG 2002, 1 (6).
497 Kritisch bzgl. der vergleichbaren Regelung im Diskussionsentwurf Brandt, DStR 2003,
1208 (1211), Fn. 46.
498 Vgl. Hirte, NZG 2002, 1 (6).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.