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II. Grundsatz der Gleichberechtigung
1. Mehrheitsprinzip bei der Geschäftsführung
Der Grundsatz der Gleichberechtigung wird im deutschen Aktienrecht im
Wesentlichen aus dem Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung gem. § 77 Abs. 1
S. 1 AktG und dem Grundsatz der Gesamtvertretung gem. § 78 Abs. 2 S. 1 AktG
hergeleitet.
Art. 50 Abs. 1 lit. a) SE-VO regelt, dass für die Beschlussfähigkeit der
»Organe« der SE grundsätzlich die einfache Mehrheit der anwesenden bzw. vertretenen Mitglieder genügt. Die Beschlussfähigkeit ist im deutschen Recht zwar
nicht ausdrücklich geregelt, allerdings beinhaltet der Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung in § 77 Abs. 1 S. 1 AktG, dass grundsätzlich alle Vorstandsmitglieder anwesend sein müssen.509 Sodann lässt Art. 50 Abs. 1 lit. b) SE-VO im
Gegensatz zu § 77 Abs. 1 S. 1 AktG auch für die Beschlussfassung grundsätzlich
die einfache Mehrheit der anwesenden bzw. vertretenen Mitglieder genügen.
Allerdings erscheint auf den ersten Blick zweifelhaft, ob Art. 50 Abs. 2 SE-VO
überhaupt für das Leitungsorgan gilt, weil diese Vorschrift die Existenz eines Vorsitzenden vorauszusetzen scheint. Ein solcher Vorsitzender ist aber gem. Art. 41
S. 1 und Art. 45 S. 1 SE-VO nur für das Aufsichts- und Verwaltungsorgan zwingend. Andererseits ist das Leitungsorgan ohne Weiteres vom Wortlaut erfasst und
kein Grund erkennbar, warum die Beschlussfassung für das Leitungsorgan anders
bzw. nicht geregelt sein soll. Art. 50 SE-VO gilt daher auch für das Leitungsorgan, wobei die Bedeutung des Absatz 2 später erörtert werden soll.510
Das Mehrheitsprinzip für die Beschlussfähigkeit und -fassung in Art. 50
Abs. 1 SE-VO ist jedoch ausdrücklich dispositiv. So kann stattdessen ein Einstimmigkeitserfordernis für die Vorstandsbeschlüsse aufgestellt werden, wie umgekehrt im deutschen Aktienrecht das Einstimmigkeitsprinzip zu Gunsten des
Mehrheitsprinzip abbedungen werden kann und in der Praxis auch durchgehend
abbedungen wird.511 Die Regelung des Art. 50 SE-VO gibt daher wieder, was bei
der AG zwar nicht Gesetz, aber ständige Praxis ist. Die praktikablere Regelung
der SE-Verordnung kann daher sogar Vorbild für eine Reform des deutschen Aktienrechts sein.512 Die Abbedingung des Mehrheitsprinzips gem. Art. 50 Abs. 1 SE-
VO ist aber im Gegensatz zu § 77 Abs. 1 S. 2 AktG nur in der Satzung und nicht
in der Geschäftsordnung möglich.
Hinsichtlich der Reichweite der Abbedingung enthält Art. 50 Abs. 2 S. 2 SE-
VO keine dem § 77 Abs. 1 S. 2, 2. HS AktG vergleichbare Einschränkung, die
besagt, dass nichts gegen die Mehrheit der Organmitglieder durchgesetzt werden
kann. Da die Verordnung die Beschlussfassung umfassend regelt, kann die deut-
509 Siehe oben 2. Teil A.I.2.a)(2).
510 Siehe unten 3. Teil C.III.3.b)(1)
511 Siehe oben 2. Teil A.I.2.a)(2).
512 Vgl. zur Vorbildfunktion der Regelungen der SE-Verordnung Hommelhoff, AG 2001, 279
(283).
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sche Regelung auch nicht gem. Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii) SE-VO ergänzend herangezogen werden. Deshalb könnte man schlussfolgern, dass in der dualistischen
SE sogar ein Alleinentscheidungsrecht eines einzelnen Vorstandsmitglieds in der
Satzung bestimmt werden könnte.513
Allerdings ist eine Einschränkung im Sinne des § 77 Abs. 1 S. 2, 2. HS AktG
auch ohne ausdrückliche Nennung in den Art. 50 Abs. 2 S. 1 SE-VO hineinzulesen. Dafür spricht zunächst Art. 50 Abs. 2 S. 2 SE-VO, der dem Vorsitzenden des
Aufsichtsorgans zwingend das Recht zum Stichentscheid sichert. Dies bedeutet
zunächst, dass dieses Recht des Aufsichtsratsvorsitzenden nicht ausgeschlossen
werden kann. Hintergrund dieser Regelung ist vor allem, dass der Vorsitzende
wegen Art. 45 S. 2 SE-VO stets ein Vertreter der Anteilseigner ist und deren Übergewicht absichern soll.514 Gleichzeitig kann der Stichentscheid nach der Formulierung des Art. 50 Abs. 2 S. 2 SE-VO auch nicht durch ein darüber
hinausgehendes Recht wie ein Alleinentscheidungsrecht ersetzt werden. Obwohl
die Regelung des Art. 50 Abs. 2 S. 2 SE-VO nur für das Aufsichtsorgan gilt, zeigt
sie doch, dass der Stichentscheid515 die absolute Grenze eines Sonderrechts bei
der Beschlussfassung darstellt. Für dieses Ergebnis spricht weiterhin, dass auch
in anderen dualistischen Systemen das Verbot des Alleinentscheidungsrechts gilt,
ohne dass es stets ausdrücklich niedergelegt ist.516
Art. 50 Abs. 2 S. 1 SE-VO erlaubt daher ebenfalls nur die Anordnung qualifizierter Mehrheiten oder des Einstimmigkeitsprinzips durch die Satzung, nicht
aber ein Alleinentscheidungsrecht.517 Es wurde bereits festgestellt, dass sich nicht
nur das Einstimmigkeitsprinzip, sondern auch das Mehrheitsprinzip mit dem Kollegialprinzip verträgt, weil dadurch kein Einzelner bevorzugt wird.518
§ 77 Abs. 2 AktG wird anders als Abs. 1 nicht von einer Regelung in der SE-
Verordnung verdrängt, so dass er gem. Art. 9 Abs. 1 lit. c) ii) SE-VO direkt für
die dualistische SE gilt. Damit kann auch für den Vorstand in der dualistischen
SE eine Geschäftsordnung erlassen werden, deren Inhalt (jedenfalls insoweit sie
neue Regelungen erlassen und nicht nur das Gesetz wiederholen will) jedoch auf
die Punkte beschränkt ist, die die SE-Verordnung nicht zwingend der Satzung
zuweist. Damit können dort insbesondere keine Aussagen zur Beschlussfähigkeit
und Beschlussfassung getroffen werden.
513 So Drinhausen/Van Hulle/Maul, HdB Europäische Gesellschaft, S. 131.
514 Henssler, FS Ulmer, S. 193 (207).
515 Zum Stichentscheid siehe unten 3. Teil C.III.3.b)(1).
516 Vgl. § 70 Abs. 2 S. 2 österr. AktG; Art. 371 § 2 poln. KSH (siehe oben Fn. 152). Vgl. zum
polnischen Recht Kidyba, KSH, Art. 371 §§ 2,3 sowie Szumaski, PPH 1/2003, 4 (9); ders.,
in: Sotysiski/Szajkowski/Szumaski/Szwaja, KSH, Art. 371 Rn. 25, der bei der Erörterung des Stichtentscheids des Vorstandsvorsitzenden nur den Regelungsort problematisiert, während die Einräumung eines über den Stichentscheid hinausgehenden Rechts wie
etwa eines Alleinentscheidungsrechts offenbar (wohl auch aufgrund der Formulierung des
Gesetzes) für ausgeschlossen gehalten wird.
517 Vgl. Theisen/Hölzl, in: Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft, S. 269
(288); Reichert/Brandes, Münchner Komm., Art. 50 SE-VO, Rn. 27.
518 Siehe oben 2. Teil A.I.2.a)(2).
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2. Grundsatz der Gesamtvertretung
Mangels Vertretungsregelung in der SE-Verordnung519 kommt gem. Art. 9 Abs. 1
lit. c) ii) SE-VO der § 78 AktG und damit der Grundsatz der Gesamtvertretung
für den Vorstand zur Anwendung. Insgesamt gilt daher der Grundsatz der
Gleichberechtigung uneingeschränkt auch für die dualistische SE.
III. Grundsatz der Gesamtverantwortung
Das zweite Leitprinzip der Vorstandsorganisation im deutschen Aktienrecht ist
der Grundsatz der Gesamtverantwortung, der sich in die Grundsätze der Gesamtleitung bzw. der gegenseitigen Kontrolle gliedert.520 Der Grundsatz der Gesamtleitung wird im Wesentlichen aus § 76 Abs. 1 AktG hergeleitet. Für die dualistische SE ist Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO wegen Art. 9 Abs. 1 lit. a) SE-VO vorrangig.
Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO beinhaltet zunächst eine dem § 76 Abs. 1 AktG
vergleichbare Abgrenzung der Aufgabe des Leitungsorgans gegenüber den anderen Organen. Er gebraucht aber den Begriff der Geschäftsführung statt der Leitung. Wie oben dargelegt werden im deutschen Recht beide Begriffe nicht immer
trennscharf verwendet und die Leitung wird als herausgehobener Teilbereich der
Geschäftsführung begriffen.521 Insofern kann der Verwendung des Begriffs
»Geschäftsführung« in der deutschen Fassung der SE-Verordnung keine Bedeutungsänderung entnommen werden. Art. 39 Abs. 1 S. 1 AktG weist daher die
unternehmerische Leitung im Sinne des § 76 Abs. 1 AktG dem Vorstand zu.
Die Vorschrift des Art. 39 Abs. 1 S. 1 AktG ist wie § 76 Abs. 1 AktG an das
gesamte Leitungsorgan adresssiert, so dass sich daraus die Geltung des Grundsatzes der Gesamtleitung für die SE entnehmen lässt. Für dieses Ergebnis spricht
auch Art. 39 Abs. 1 S. 2 SE-VO, der nur eine Delegation des Tagesgeschäfts
zulässt. Art. 39 Abs. 1 S. 1 SE-VO erlaubt also ebenfalls nur eine Geschäftsverteilung, bei der die originären Leitungsaufgaben beim Kollegium verbleiben.522
Spiegelbildlich muss für die dualistische SE auch der Grundsatz der gegenseitigen Kontrolle der Vorstandsmitglieder gelten. Wie bei der AG lässt sich dieser
Grundsatz aus der Organstellung der Vorstandsmitglieder der SE herleiten. Auch
die Haftung entspricht über Art. 51 SE-VO i. V. m. § 93 Abs. 2 AktG der des Vorstands in der AG.
Insgesamt gilt also auch für den Vorstand in der dualistische SE das Kollegialprinzip, auch wenn der Verordnungstext dies weniger deutlich als das deutsche
Aktiengesetz zum Ausdruck bringt. Nachfolgend sind die Personalisierungsmög-
519 Art. 71 SE-VOV 1989 sah noch ausdrücklich das Prinzip der Gesamtvertretung vor.
520 Siehe oben 2. Teil A.I.3.
521 Siehe oben 2. Teil A.I.4.
522 So für dualistische SE mit Sitz in Österreich Artmann, wbl 2002, 189 (192).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.