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durch die Geschäftsordnung zugewiesen werden. Diese formellen Rechte scheinen fast notwendigerweise zu einer Stärkung der Rolle des Vorstandsvorsitzenden zu führen und lassen die Unzulässigkeit eines Alleinentscheidungsrechts bei
der Geschäftsführung fast bedeutungslos erscheinen. Zwar ziehen die Grundsätze
der Gesamtleitung und Gesamtverantwortung auch der faktischen Dominanz
Grenzen, im Einzelfall lässt sich jedoch schwer bestimmen, wo sie genau liegen
und wie ihre Einhaltung in der Praxis durchgesetzt werden sollen. So ist anerkannt, dass eine gewisse Stärkung des Vorsitzenden für die Effektivität der Vorstandsarbeit unerlässlich ist, aber gleichzeitig in der Praxis Fehlentwicklungen
stattgefunden haben.
V. Besondere Haftung des Vorstandsvorsitzenden
Die teilweise durch formelle Rechte, hauptsächlich jedoch faktisch begründete
Sonderrolle des Vorstandsvorsitzenden wirft die Frage auf, ob er im Gegensatz zu
den anderen Vorstandsmitgliedern in besonderer Weise haftet. Die Haftung der
Vorstandsmitglieder bestimmt sich nach § 93 Abs. 2 AktG. Danach haften sie
zwar gesamtschuldnerisch, aber nur bezogen auf ihr eigenes Verschulden. Zu beachten ist insbesondere die durch das UMAG erfolgte Festschreibung der business judgement rule327 in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG. Die Haftung des Vorsitzenden
wird in § 93 AktG hingegen nicht gesondert angesprochen.
1. Haftungsrechtliche Konsequenzen der Geschäftsverteilung
Bereits die horizontale Vorstandsorganisation hat Auswirkungen auf die Haftung,
weil sie zu einer Modifikation der Vorstandspflichten führt.328 So haften die
Vorstandsmitglieder nur für ihre Einzelgeschäftsführung im jeweiligen Ressort
und die Mitwirkung an den Beschlüssen des Gesamtvorstands, nicht aber für die
Geschäftsführung in den anderen Ressorts.329 Die Haftung für die Umsetzung eines Vorstandsbeschlusses trifft hingegen auch ein überstimmtes Vorstandsmitglied, obwohl es sich der Verpflichtung zur Mitwirkung nicht entziehen kann.330
Nur wenn der Beschluss seiner Meinung nach gegen das Gesetz, die Satzung oder
die guten Sitten verstößt, darf es sich nicht an der Ausführung beteiligen und
muss dies auch tun, um einer Haftung für die Mitwirkung an der Umsetzung zu
entgehen.331 Dafür steht ihm ein Recht zum Widerspruch und notfalls ein Rücktrittsrecht zu.332
327 Vgl. auch Punkt 3.8 DCGK.
328 Siehe oben 2. Teil A.I.3.a).
329 Fleischer, NZG 2003, 449 (453).
330 Mertens, Kölner Komm., § 77 Rn. 38; Hopt, Großkomm. AktG, § 93 Rn. 53.
331 Mertens, Kölner Komm., § 77 Rn. 38.
332 Siehe oben 2. Teil A.I.3.b).
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Hinsichtlich der Geschäftsführungsmaßnahmen in den anderen Ressorts trifft
die Vorstandsmitglieder daher nur eine Pflicht zur Kontrolle, sofern sich die
Geschäftsverteilung selbst in den zulässigen Grenzen hält.333 Daher haften alle
Vorstandsmitglieder, wenn Gesamtleitungsaufgaben aus der Hand gegeben werden, wenn die faktische Geschäftsverteilung nicht der in der Geschäftsordnung
festgelegten Geschäftsverteilung entspricht oder eine unzweckmäßige Geschäftsverteilung beschlossen wurde.334
Welche Anforderungen an diese Pflicht zur gegenseitigen Kontrolle gestellt
werden, ist noch nicht endgültig geklärt.335 Einigkeit besteht darin, dass konkreten Anhaltspunkten für eine Pflichtverletzung des zuständigen Vorstandsmitglieds nachgegangen werden muss.336 Darüber hinaus wird die Ansicht vertreten,
dass sich ein Vorstandsmitglied grundsätzlich auf das Bild verlassen kann, das er
bei Sitzungen des Gesamtvorstandes von der Tätigkeit anderer Mitglieder
gewinnt.337 Andere Autoren dehnen die Aufsichtspflicht weiter aus und bejahen
eine Pflicht zu weiteren Nachforschungen auch ohne konkreten Anlass.338 Nach
einer vermittelnden Lösung dürfen sich die Vorstandsmitglieder grundsätzlich
auf die Darstellung ihrer Kollegen verlassen und müssen nur dann weitere
Nachforschungen unternehmen, wenn in der Darstellung wesentliche Bereiche
ausgespart werden.339 Wie bereits dargestellt, haben die Vorstandsmitglieder zum
Zwecke der Ausübung dieser Kontrolle ein Informations- und Interventionsrecht.340
2. Schlussfolgerungen für die Haftung des Vorstandsvorsitzenden
Die Pflicht zur gegenseitigen Kontrolle trifft alle Vorstandsmitglieder. Ein Großteil des Schrifttums möchte aber dem Vorstandsvorsitzenden aufgrund seiner
Koordinationsaufgabe eine gesteigerte Überwachungspflicht auferlegen.341 Andere lehnen dies ab, weil dem Vorsitzenden nach dem Gesetz gerade keine mate-
333 Fleischer, NZG 2003, 449 (453). Vgl. auch Lohr, NZG 2000, 1204 (1210) für die Ressortaufteilung bei der GmbH; a.A.: Schlosser, Die Organhaftung der Mitglieder des Vorstands, S. 104.
334 Fleischer, NZG 2003, 449 (453).
335 Vgl. der ausführliche Überblick bei Fleischer, NZG 2003, 449 (453 ff.).
336 BGHZ 133, 370 (378 f.); Hefermehl/Spindler, Münchner Komm., § 93 AktG Rn. 71.
337 Hefermehl/Spindler, Münchner Komm., § 93 AktG Rn. 71; Kort, Großkomm. AktG, § 77
Rn. 40.
338 Mertens, Kölner Komm., § 93 Rn. 54 f.; Rieger, FS Peltzer, S. 339 (347); Götz, AG 1995,
337 (339).
339 Hüffer, AktG, § 78 Rn. 15; Fleischer, NZG 2003, 449 (455).
340 Siehe oben 2. Teil A.I.3.b).
341 Dose, Die Rechtsstellung der einzelnen Vorstandsmitglieder, S. 122; Krieger, Personalentscheidungen des Aufsichtsrats, S. 348; Lutter/Krieger, Rechte und Pflichten des Aufsichtsrats, Rn. 439; Hefermehl/Spindler, Münchner Komm., § 93 Rn. 73; Kort, Großkomm.
AktG, § 77 Rn. 51; Bezzenberger, ZGR 1996, 661 (670 f.).
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rielle Sonderrolle zukommt, sondern er nur über bestimmte formelle Rechte verfügt.342 Im Ergebnis dürften beide Ansichten nicht weit auseinander liegen, da
aufgrund des vorstandsinternen Berichtssystems dem Vorstandsvorsitzenden zuerst Unregelmäßigkeiten in einem Ressort auffallen müssen.343 Darüber hinaus ist
er insofern haftungsanfälliger, als er durch seinen Informationsvorsprung gegebenenfalls zusammen mit dem zuständigen Vorstandsmitglied entscheidet, welche Angelegenheiten vor den Gesamtvorstand zu bringen sind. Daher ist kaum
eine Situation denkbar, in der ein Teil der Vorstandsmitglieder eine Pflichtverletzung begangen haben, nicht aber der Vorsitzende. Besondere Nachforschungspflichten ohne konkreten Anlass sind ihm hingegen allein aufgrund seines Amtes
nicht aufzuerlegen.
Allerdings kommt die Vorstandshaftung in der Praxis in den meisten Fällen
nicht zum Tragen. Das Vorstandsmitglied wird nicht von der Gesellschaft wegen
seiner Sorgfaltspflichtverletzung in Anspruch genommen, sondern stattdessen
mit einer großzügigen Abfindung verabschiedet.344 Dies gilt insbesondere für die
Person des Vorstandsvorsitzenden.345
VI. Die Neuorganisation des Vorstands der Deutschen Bank AG
Bisher wurde die Erscheinungsarten der faktischen Personalisierung dargestellt,
wie sie sich mehr oder weniger bei allen Großunternehmen beobachten lässt. Sie
hat aber insbesondere durch den Umbau der Führungsspitze der Deutschen Bank
AG im Jahre 2002 öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen. Diese Umstrukturierung bei einem der wichtigsten deutschen Großunternehmen hatte nach Darstellung des Unternehmens das Ziel, eine klare Führung mit einem CEO-ähnlichen
Vorstandssprecher an der Spitze zu schaffen.346 Sie führte zunächst in den Medien
und später auch in der der juristischen Literatur zu einer ausgedehnten Diskussion
über die Vorstandsorganisation in Deutschland.
1. Vorgenommene Umstrukturierungen
Bis Anfang 2002 existierte bei der Deutschen Bank AG ein achtköpfiger Vorstand
im Sinne des Aktiengesetzes. Im Hinblick auf den geplanten Vorstandssprecher-
342 Fleischer, NZG 2003, 449 (455); v. Hein, ZHR 2002, 464 (490). So wohl auch Breuer, in:
DAI, Corporate Governance – Nutzen und Umsetzung, S. 18 (23).
343 Vgl. die Diskussion nach dem Vortrag von Wirth, zusammengefasst von Notz, in: Henze/
Hoffmann-Becking, Gesellschaftsrecht, S. 123 (127).
344 Rieger, FS Peltzer, S. 339 (350).
345 So wurde dem Vorstandsvorsitzenden der Metallgesellschaft eine Millionen-Abfindung
gezahlt. Vgl. Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249 (258). Vgl. auch Ihlas, Organhaftung
und Haftpflichtversicherung, S. 317 ff.; Hopt, ZGR 2000, 779 (785).
346 Interview mit R. Breuer, FAZ vom 05.02.2002, S. 14: »Jetzt geht es um das Dach«.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.