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rielle Sonderrolle zukommt, sondern er nur über bestimmte formelle Rechte verfügt.342 Im Ergebnis dürften beide Ansichten nicht weit auseinander liegen, da
aufgrund des vorstandsinternen Berichtssystems dem Vorstandsvorsitzenden zuerst Unregelmäßigkeiten in einem Ressort auffallen müssen.343 Darüber hinaus ist
er insofern haftungsanfälliger, als er durch seinen Informationsvorsprung gegebenenfalls zusammen mit dem zuständigen Vorstandsmitglied entscheidet, welche Angelegenheiten vor den Gesamtvorstand zu bringen sind. Daher ist kaum
eine Situation denkbar, in der ein Teil der Vorstandsmitglieder eine Pflichtverletzung begangen haben, nicht aber der Vorsitzende. Besondere Nachforschungspflichten ohne konkreten Anlass sind ihm hingegen allein aufgrund seines Amtes
nicht aufzuerlegen.
Allerdings kommt die Vorstandshaftung in der Praxis in den meisten Fällen
nicht zum Tragen. Das Vorstandsmitglied wird nicht von der Gesellschaft wegen
seiner Sorgfaltspflichtverletzung in Anspruch genommen, sondern stattdessen
mit einer großzügigen Abfindung verabschiedet.344 Dies gilt insbesondere für die
Person des Vorstandsvorsitzenden.345
VI. Die Neuorganisation des Vorstands der Deutschen Bank AG
Bisher wurde die Erscheinungsarten der faktischen Personalisierung dargestellt,
wie sie sich mehr oder weniger bei allen Großunternehmen beobachten lässt. Sie
hat aber insbesondere durch den Umbau der Führungsspitze der Deutschen Bank
AG im Jahre 2002 öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen. Diese Umstrukturierung bei einem der wichtigsten deutschen Großunternehmen hatte nach Darstellung des Unternehmens das Ziel, eine klare Führung mit einem CEO-ähnlichen
Vorstandssprecher an der Spitze zu schaffen.346 Sie führte zunächst in den Medien
und später auch in der der juristischen Literatur zu einer ausgedehnten Diskussion
über die Vorstandsorganisation in Deutschland.
1. Vorgenommene Umstrukturierungen
Bis Anfang 2002 existierte bei der Deutschen Bank AG ein achtköpfiger Vorstand
im Sinne des Aktiengesetzes. Im Hinblick auf den geplanten Vorstandssprecher-
342 Fleischer, NZG 2003, 449 (455); v. Hein, ZHR 2002, 464 (490). So wohl auch Breuer, in:
DAI, Corporate Governance – Nutzen und Umsetzung, S. 18 (23).
343 Vgl. die Diskussion nach dem Vortrag von Wirth, zusammengefasst von Notz, in: Henze/
Hoffmann-Becking, Gesellschaftsrecht, S. 123 (127).
344 Rieger, FS Peltzer, S. 339 (350).
345 So wurde dem Vorstandsvorsitzenden der Metallgesellschaft eine Millionen-Abfindung
gezahlt. Vgl. Hommelhoff/Mattheus, AG 1998, 249 (258). Vgl. auch Ihlas, Organhaftung
und Haftpflichtversicherung, S. 317 ff.; Hopt, ZGR 2000, 779 (785).
346 Interview mit R. Breuer, FAZ vom 05.02.2002, S. 14: »Jetzt geht es um das Dach«.
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wechsel von Rolf Breuer zu Josef Ackermann erfolgte eine Verkleinerung des
Vorstands auf sechs Mitglieder mit Wirkung zum 31. Januar 2002.347 Inzwischen
besteht der Vorstand nur noch aus vier Mitgliedern.348 Gleichzeitig sollte die strategische Leitung des Unternehmens bzw. des gesamten Konzerns vom Vorstand
auf acht neu errichtete Committees verlagert werden.349 Insgesamt benutzt man
bei der Deutschen Bank wie auch bei anderen Unternehmen für die Elemente der
neuen Führungsstruktur vorwiegend englische Bezeichnungen.350 Die Mitglieder
des eigentlichen Vorstands sind gleichzeitig Vorsitzende (»Chairman«) von einem oder mehreren dieser strategischen Committees. Darunter gibt es drei noch
weiter unterteilte Geschäftsfelder, die von einzelnen Geschäftsbereichsleitern
(sog. »Global Business Heads«) geleitet werden. Sie erhalten nur die Stellung von
Prokuristen und berichten direkt an den Vorstandssprecher.351 Diese Geschäftsbereichsleiter bilden zusammen mit dem eigentlichen Vorstand ein zwölfköpfiges
»Group Executive Committee«, das das operative Geschäft leiten soll. Vorsitzender dieses Committees ist ebenfalls der Vorstandssprecher, der dadurch eine exponierte Stellung erhält. Anfangs hat man sogar behauptet, dass außer ihm keine
Vorstände mehr direkte Geschäftsverantwortung tragen.352
Die Ernennung Ackermanns vom Vorstandssprecher zum Vorstandsvorsitzenden im Jahre 2006 ist auch im Zusammenhang mit den vorherigen Umstrukturierungen zu sehen, allerdings im Gegensatz zu diesen eindeutig mit dem deutschen
Aktienrecht vereinbar.
2. Bewertung
a) Autonome Leitungsverantwortung des Vorstands
Die neue Struktur ist nicht nur wegen der herausgehobenen Stellung des
Vorstandssprechers bedenklich. Zunächst scheint die Übertragung des operativen
Geschäfts an ein »Group Executive Committee« der autonomen Zuweisung der
Leitungsaufgabe an den Vorstand gem. § 76 Abs. 1 AktG zu widersprechen. Daneben wird auch die Personalkompetenz und Überwachungsaufgabe des Auf-
347 Vgl. die Internetdarstellung der Deutschen Bank AG zur Corporate Governance, verfügbar
unter: http://www.deutsche-bank.de; FAZ vom 31.01.2002, S. 13: »Großes Stühlerücken
in der Deutschen Bank«.
348 FAZaS vom 19.05.2002, S. 37: »Die Deutsche Bank des Josef Ackermann«.
349 FAZ vom 01.02.2002, S. 17: »Die Deutsche Bank erleidet 2001 einen kräftigen Gewinneinbruch«; Börsen-Zeitung vom 01.02.2002, S. 18: »Deutsche Bank will mit neuer Führungsstruktur effizienter werden«. Vgl. dazu ausführlich Schwark, FS Ulmer, S. 605
(609 ff).
350 Siehe oben 2. Teil B.IV.1.
351 Börsenzeitung vom 01.02.2002, S. 18: »Die Deutsche Bank will mit neuer Führungsstruktur effizienter werden«
352 So R. Breuer, zit. nach FAZ vom 01.02.2002, S. 17: »Die Deutsche Bank erleidet 2001
einen kräftigen Gewinneinbruch.«
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sichtsrats gem. §§ 84 Abs. 1, 111 Abs. 1 AktG berührt. Hier wird zunächst ein
Verstoß gegen § 76 Abs. 1 AktG und sodann gegen das Kollegialprinzip geprüft.
Ist dabei kein Verstoß festzustellen, so besteht auch keine Pflichtverletzung des
Aufsichtsrats. Daneben wirft die neue Führungsorganisation auch konzernrechtliche Probleme auf,353 die aber hier ausgeklammert bleiben sollen.
Wie oben dargestellt, ist auf der einen Seite eine gewisse Delegation von Aufgaben im Rahmen der Vorstandsarbeit zulässig und notwendig.354 So verbietet das
Aktiengesetz die Errichtung zusätzlicher organexterner Gremien nicht.355 Auf der
anderen Seite gibt es wegen des Grundsatzes der Gesamtleitung einen Kernbereich von originären Führungsaufgaben, die weder auf Externe noch auf
untergeordnete Managementebenen übertragen werden können.356 Durch die
neue Struktur werden aber Gesamtleitungsaufgaben auf das »Group Executive
Committee« verlagert, weil die Trennung zwischen operativem und strategischem
Geschäft nicht der Trennung von allgemeinen Geschäftsführungsaufgaben und
solchen, die der Gesamtleitung unterfallen, entspricht.357 Vielmehr gibt es auch
im operativen Bereich Gesamtleitungsfragen, die vor den Gesamtvorstand gehören, während andere Gremien hierbei nur beraten können.358
Dennoch hat man die Gestaltung bei der Deutschen Bank AG für zulässig
gehalten, weil auch ohne Nennung in der Geschäftsordnung jedes Vorstandsmitglied weiterhin separate Treffen aller (echten) Vorstandsmitglieder fordern kann
und das »Group Executive Committee« insofern nur eine beratende Funktion
hat.359 Dem ist im Ergebnis zuzustimmen. Allerdings muss man dann die Regelung in der Geschäftsordnung, die das operative Geschäft pauschal an das »Group
Executive Committee« zuweist, ohne für diesen Bereich separate Vorstandssitzungen vorzusehen, entsprechend auslegen.
Stellenweise wird sogar eine Beschlussfassung innerhalb des »executive committee« der Deutschen Bank AG für mit §§ 76 Abs. 1, 77 Abs. 1 S. 2 AktG vereinbar gehalten, sofern die echten Vorstandsmitglieder dabei nicht von den übrigen Mitgliedern majorisiert werden.360 Aus den genannten Vorschriften folgt
aber, dass die Vorstandsmitglieder nicht nur die Mehrheit im »Group Executive
Committee« bilden, sondern darüber hinaus auch mehrheitlich für den Beschluss
stimmen. Letztendlich dürfen nur sie sich nach der gemeinsamen Beratung an der
Abstimmung beteiligen bzw. nur ihre Stimmen dürfen berücksichtigt werden.
Selbst dann bestünde aber noch die Gefahr der Präjudizierung. Insofern sind
generell separate Treffen zu fordern.
353 Vgl. Schwark, FS Ulmer, S. 605 (609).
354 Siehe oben 2. Teil A.I.3.a).
355 Z. B. bei Siemens, vgl. Endres, ZHR 1999, 441 (449).
356 Wiesner, MünchHdb AG, § 22 Rn. 21; Schiessl, ZGR 1992, 64 (80).
357 Götz, ZGR 2003, 1 (13).
358 Götz, ZGR 2003, 1 (13).
359 So Schwark, FS Ulmer, S. 605 (615).
360 Götz, ZGR 2003, 1 (13 ff.).
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Auch ist wegen § 76 Abs. 1 AktG die Verwendung des Begriffs »Bereichsvorstand«361 unzulässig, soweit hiermit nicht die echten Vorstandsmitglieder in ihrer
operativen Funktion, sondern weisungsabhängige Angestellte der Gesellschaft,
die lediglich die Stellung von Prokuristen haben, bezeichnet werden. 362
b) Kollegialprinzip
Die direkte Berichterstattung der Geschäftsbereichsleiter an den Vorstandssprecher ist vor allem im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichberechtigung bedenklich. Bei der herkömmlichen Geschäftsverteilung erlangt zunächst ein einzelnes
Vorstandsmitglied durch die unteren Managementebenen Kenntnis von einer bestimmten Geschäftsführungsangelegenheit in seinem Ressort. Sodann trägt es
diese gegebenenfalls über den Vorsitzenden bzw. Sprecher an den Gesamtvorstand heran. Eine direkte Berichterstattung an den Vorstandssprecher hat nun
zur Folge, dass stets der Vorsitzende direkt unter Umgehung des zuständigen Ressortmitglieds informiert wird.
Spiegelbildlich zum Grundsatz der Gleichberechtigung wird durch die
Berichtspflicht an den Vorstandssprecher auch der zweite im Kollegialprinzip
enthaltene Grundsatz der Gesamtverantwortung berührt.363 Nach diesem Grundsatz sind weiterhin alle Vorstandsmitglieder zur Wahrnehmung der Gesamtleitung und gegenseitigen Kontrolle verpflichtet. Diese Gesamtverantwortung
erstreckt sich sowohl auf das strategische wie auch das operative Geschäft.364 Keinesfalls ist es daher richtig, dass nur noch der Vorstandssprecher die Verantwortung für das operative Geschäft trägt.365
Dennoch hat man die Vereinbarkeit der Gestaltung bei der Deutschen Bank AG
mit dem Kollegialprinzip in der Literatur bejaht. Dies wird damit begründet, dass
aus rechtlicher Sicht die Rechte der übrigen Vorstandsmitglieder vollumfänglich
erhalten bleiben.366 So haben sie weiterhin ein Informations- und Interventionsrecht und können damit jede Angelegenheit vor den Gesamtvorstand bringen. Die
Durchsetzung dieser Rechte wird aber durch die direkte Berichterstattung
erschwert. Anerkannt ist jedoch, dass kein Vorstandsmitglied durch die
Geschäftsverteilung von der Geschäftsführung ausgeschlossen werden darf. Es
ist deshalb diskutabel, ob die abstrakte Festlegung der Information von den
361 Diese Bezeichnung wird sowohl für das Gesamtgremium als auch für dessen Mitglieder
verwendet, ähnlich wie man bei den Vorstandsmitgliedern verkürzt von »Vorständen«
spricht.
362 Kort, Großkomm. AktG, § 76 Rn 16; Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (510).
363 Keinen Konflikt sieht dagegen Ringleb, DCGK-Kommentar, Rn. 493.
364 Schwark, FS Ulmer, S. 605 (615).
365 Götz, ZGR 2003, 1 (9).
366 Baums, Gutachten zur Zulässigkeit der Geschäftsführungsorganisation der Deutsche Bank
AG, S. 22; Hoffmann-Becking, NZG 2003, 745 (749). Schwark, FS Ulmer, S. 605 (615).
Vgl. die Diskussion nach dem Vortrag von Wirth, zusammengefasst von Notz, in: Henze/
Hoffmann-Becking, Gesellschaftsrecht, S. 123 (126 f.).
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Bereichsleitern an den Vorsitzenden nicht bereits die anderen Vorstandsmitglieder faktisch vom operativen Geschäft ausschließt und daher unzulässig ist. Es ist
aber schwierig, bei einem solchen faktischen Ausschluss die Grenze des Zulässigen genau zu bestimmen. Insgesamt wird man die neue Geschäftsführungsorganisation der Deutsche Bank AG, wie sie sich formell nach den Bestimmungen der
Satzung bzw. Vorstandsgeschäftsordnung darstellt, noch für zulässig halten können. Etwas anderes gilt aber, falls der Vorstandssprecher, bzw. nach der Umbenennung 2006 jetzt der Vorstandsvorsitzende, entgegen den dortigen Bestimmungen dennoch ein materielles Weisungsrecht ausübt.
3. Andere Unternehmen
Andere Unternehmen, insbesondere die Hypo-Vereinsbank-AG (HVB Group),
haben eine vergleichbare Trennung von operativen und strategischen Geschäft
vorgenommen.367 Dabei ist nur ein Teil der Vorstandsmitglieder in den entsprechenden Gremien vertreten.368 Hier wird ebenfalls der Grundsatz der Gleichberechtigung, der nicht nur die Heraushebung eines einzelnen Mitglieds, sondern
die Schaffung von Vorstandsmitglieder »minderen Gewichts« oder »zweiter
Klasse« generell verbietet, in noch stärkerem Maße berührt.369 Die Berichterstattung erfolgt aber bei dieser Gestaltung nicht direkt an den Vorstandsvorsitzenden,
sondern an einen Teil der Vorstandsmitglieder. Insofern fördert sie keine zusätzliche Personalisierung der Leitung und soll hier nicht näher erörtert werden.
VII. Zusammenfassung
Bisher wurde dargestellt, in welcher Form trotz des im Gesetz verankerten
Kollegialprinzip in der Praxis eine sehr starke Dominanz eines einzelnen
Vorstandsmitglieds zu beobachten ist. Diese Entwicklungen werden allgemein
für bedenklich, aber noch zulässig gehalten. Einige moderne Vorstandsorganisationen bewegen sich aber schon nahe an der Grenze des Zulässigen.
C. Bestehender Reformbedarf
Die zunehmende Auseinanderentwicklung von Gesetzes- und Unternehmenswirklichkeit wirft die Frage auf, ob das Kollegialprinzip noch angemessen oder
367 Schwark, FS Ulmer, S. 605 (610); Götz, ZGR 2003, 1 (2).
368 FAZ vom 21.01.02, S. 18: »Die Aufteilung in Vorstände erster und zweiter Klasse ist nicht
unproblematisch«.
369 Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (515); Schwark, ZHR 1978, 203 (218); Mertens, Kölner Komm., § 77 Rn. 12 und 15.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.