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Viertes Kapitel: Rechtslage in der Schweiz
A. Nutzung der Kernenergie in der Schweiz
Zur Nutzung der Kernenergie für die Elektrizitätsversorgung wurden in der Schweiz
bisher fünf kommerzielle Kernkraftwerke und ein Versuchskernkraftwerk errichtet.
Als erstes Kernkraftwerk nahm am 23. Dezember 1968 der Versuchsreaktor Lucens
im Kanton Waadt seinen Betrieb auf. Dieser musste bereits nach nur einem Monat
Laufzeit aufgrund eines schweren Zwischenfalls beim Austauschen der Brennelemente seinen Betrieb am 21. Januar 1969 einstellen.690 Trotz dieses Zwischenfalls
ging im gleichen Jahr in Beznau das erste kommerzielle Kernkraftwerk ans Netz. Im
Jahr 1972 folgte eine zweite Anlage in Beznau und ein drittes Kernkraftwerk in
Mühleberg. Nachdem im Frühjahr 1979 eine Volksinitiative gegen die Nutzung der
Kernenergie gescheitert war,691 wurden in Gösgen 1979 und in Leibstadt 1984 die
beiden bisher letzten kommerziellen Kernkraftwerke in der Schweiz fertig gestellt
und in Betrieb genommen. Aus diesen fünf Anlagen stammen durchschnittlich ungefähr 39 Prozent der schweizerischen Stromproduktion.692
Stillgelegt und abgebaut wurde in der Schweiz bisher lediglich der Versuchsreaktor Lucens.693
B. Rechtsgrundlagen des schweizerischen Atomrechts
Die Nutzung der Kernenergie wurde 1957 durch eine Änderung der Bundesverfassung ermöglicht. Die hierfür notwendige Volksabstimmung694 vom 24. No-
690 Siehe Bühlmann, in: Pelzer, Stillegung und Beseitigung kerntechnischer Anlagen, S. 79 (84).
Die Kosten der Stilllegung des Versuchskernkraftwerks Lucens übernahm der Schweizer
Staat.
691 Die Initiative „zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von
Atomanlagen“ wurde am 18. Februar 1979 lehnten die Stimmberechtigten mit 51,2 Prozent
Nein-Stimmen ab (BBl 1979 II 8 ff.).
692 Während die Produktion der Kernkraftwerke relativ stabil ist, schwankt jene der Wasserkraftanlagen und damit die Gesamtproduktion je nach hydrologischen Verhältnissen. Daraus ergeben sich unterschiedliche Anteile der Kernenergie. Sie betrugen 1994-2003 an der Bruttoproduktion zwischen 35,3 und 43 Prozent, im Durchschnitt 38,5 Prozent. An der Nettodproduktion (nach Abzug der Energie für die Pumpspeicherung) zwischen 36,0 und 44,4 Prozent, im
Durchschnitt 39,7 Prozent. Siehe Bundesamt für Energie, Schweizer Elektrizitätsstatistik
2003.
693 Siehe hierzu Bühlmann, in: Pelzer (Hrsg.), Stillegung und Beseitigung kerntechnischer Anlagen, S. 79 f.
694 In der Schweiz gibt es obligatorische Volksabstimmungen bei Verfassungsänderungen und
bei Notwehr. Bei einfachen Gesetzen sind Volksabstimmungen fakultativ und bedürfen eines
Antrags, dass von einem bestimmten Quorum (50.000 Stimmberechtigte) der wahlberechtig-
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vember 1957695 ergab eine klare Mehrheit für die Ergänzung des Art. 24quinquiesaBV
(heute: Art. 90 BV) durch folgende Absätze:
(1) Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Atomenergie ist Bundessache.
(2) Der Bund erlässt Vorschriften über den Schutz vor den Gefahren der ionisierenden Strahlen.696
Hierdurch wurde zum einen klargestellt, dass die friedliche Nutzung der Kernenergie in der Schweiz grundsätzlich zulässig ist und zum anderen wurde dem Bund
die Möglichkeit eingeräumt, einen rechtlichen Rahmen für die Nutzung der Kernenergie zu schaffen.
Zwei Jahre nach Annahme des Verfassungsartikels verabschiedete die Bundesversammlung697 am 23. Dezember 1959 das schweizerische Atomgesetz698. Nachdem die Möglichkeit zum Referendum nicht ergriffen worden war, trat das Atomgesetz am 1. Juli 1960 in Kraft.699 Im gleichen Jahr erließ der Schweizer Bundesrat
mehrere auf dem Atomgesetz basierende Verordnungen.
Das Atomgesetz und die hierauf beruhenden Verordnungen waren geprägt von
der damaligen Euphorie gegenüber der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Sie
enthielten vor allem Vorschriften über die Aufnahme der Nutzung und die Förderung der Kernenergie. Regelungen darüber, was mit einer kerntechnischen Anlage
nach der normalen Gebrauchsdauer zu geschehen habe, enthielten das damalige
Atomgesetz und die atomrechtlichen Verordnungen nicht.700
Die positive Stimmung der Bevölkerung gegenüber der Atomenergie wandelte
sich jedoch in den Jahren nach der Inbetriebnahme der ersten Kernkraftwerke in der
Schweiz.701 Insbesondere die Frage der Stilllegung und Entsorgung spielte in der öffentlichen Diskussion eine immer größere Rolle. Im Zuge dessen kam es durch den
„Bundesbeschluss zum Atomgesetz vom 6. Oktober 1978 (BB)“702 zu einer Teilten schweizer Bürger unterstützt werden muss. Siehe hierzu: Gabriel, Das politische System
der Schweiz, S. 151 ff.
695 BBl 1957 II 1169. Der Verfassungsartikel 24quinquies wurde in beiden Kammern einstimmig
angenommen und fand die Zustimmung von 77 Prozent der Stimmenden und aller Kantone.
696 In die Bundesverfassung von 1999 wurde die Bestimmung von Art. 24quinquies alte Bundesverfassung (aBV) als Art. 90 übernommen mit dem Wechsel des Ausdrucks von der Atomenergie zur Kernenergie.
697 Siehe näheres zum politischen System der Schweiz, Gabriel, Das politische System der
Schweiz, S. 59 ff. Der Bundesrat ist die Regierung der Schweiz und die Bundesversammlung
ist das schweizer Parlament und besteht aus zwei Kammern, zum einen der der Nationalrat
und zum anderen der Ständerat, die einander gleichgeordnet sind.
698 Bundesgesetz über die friedliche Verwendung der Atomenergie (Atomgesetz) vom 23. Dezember 1959 (SR 732.0).
699 Jagmetti, Energierecht, Rdnr. 5201 ff.
700 Bühlmann, in: Pelzer (Hrsg.), Stillegung und Beseitigung kerntechnischer Anlagen, S. 79;
Rausch, Schweizerisches Atomenergierecht, S. 165.
701 Insbesondere im Rahmen des Baus eines Kernkraftwerks in Kaiseraugst, kam es zu erheblichen Protesten, die zu einer Besetzung des Baugeländes führten, siehe hierzu, Rausch,
Schweizerisches Atomenergierecht, S. 30. 1988 wurde im Hinblick auf die starke Opposition
auf das Kernkraftwerk Kaiseraugst verzichtet siehe, Jagmetti, Energierecht, Rdnr. 5105.
702 SR 732.01. Der Bundesbeschluss ist ein formelles Gesetz und steht mit dem Atomgesetz auf
einer Stufe.
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revision des Atomgesetzes.703 Die Neuregelungen enthielten vor allem neue Vorschriften für das Genehmigungsverfahren und bezüglich des Problemkreises der
Entsorgung radioaktiver Abfälle. So musste bereits bei der Genehmigung eines
Kernkraftwerks ein Entsorgungsnachweis erbracht und ein Konzept für die spätere
Stilllegung und den Abbau der Anlage vorgelegt werden. Zudem wurden die Inhaber
der Kernkraftwerke verpflichtet, sowohl die Kosten der Entsorgung als auch die
Kosten für die Stilllegung und Beseitigung der Kernkraftwerke zu tragen. Durch Artikel 10 und Artikel 11 des Bundesbeschlusses wurde ihnen außerdem die Pflicht
auferlegt, schon während der Betriebszeit die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel bereitzustellen. Hierauf stützten sich die Stilllegungsfondsverordnung (StiFV)
vom 5. Dezember 1983704 und die Verordnung über den Entsorgungsfonds für Kernkraftwerke (EntsFV) vom 6. März 2000,705 welche die Säulen des schweizerischen
Finanzierungssystems für die Stilllegung und Entsorgung im Kernenergiebereich
darstellen.706
Seit dem 1. Februar 2005 ist an die Stelle des Atomgesetzes und des Bundesbeschlusses ein neues Kernenergiegesetz (KEG)707 getreten.708 Dieses bildet einen
neuen Rahmen für die friedliche Nutzung der Kernenergie und soll die Lücken und
Mängel des alten Atomgesetzes schließen. Das neue Gesetz regelt den Umgang mit
Kernmaterialien, die Genehmigung von kerntechnischen Anlagen und die Verpflichtungen der Anlageninhaber während des Betriebs und in der Nachbetriebsphase. Der
Schwerpunkt des Kernenergiegesetzes hat sich von der Aufnahme der Nutzung der
Kernenergie hin zum Abschluss der Nutzungsvorgänge verlagert mit umfangreichen
Regeln über Maßnahmen bei der Stilllegung von kerntechnischen Anlagen und über
die Entsorgung radioaktiver Abfälle. Das Thema der Stilllegung ist in einem eigenen
Abschnitt (Art. 26-29 KEG) und das Thema der Entsorgung in einem eignen Kapitel
(5. Kapitel, Art. 30-41 KEG) geregelt. Zur Finanzierung und Finanzierungsvorsorge
enthält das siebte Kapitel des neuen Kernenergiegesetzes eingehende Bestimmungen, die die neue Grundlage für die Stilllegungs- und Entsorgungsverordnungen bilden. So konnte beiden Verordnungen auch nach dem Inkrafttreten des Kernenergiegesetzes unverändert beibehalten werden.
Zurzeit ist jedoch ein Gesetzgebungsverfahren im Gang, in dem die Verordnungen, in einer neuen Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung aufgehen
sollen. Da das Gesetzgebungsverfahren allerdings noch nicht abgeschlossen ist und
auch keine großen Veränderungen der materiellen Rechtslage geplant sind, wird sich
703 Der Bundesbeschluss konnte nach einer Volksabstimmung am 1. Juli 1979 in Kraft treten
(AS 1979. 1017).
704 AS 1983 1871.
705 AS 2000, 1027.
706 Auf beide Verordnungen wird in dieser Arbeit im Vierten Kapitel, C., IV und D., V., 2., noch
näher eingegangen.
707 Kernenergiegesetz (KEG) vom 21. März 2003 (AS 2004, 4719).
708 Das neue Kernenergiegesetz wurde bereits am 21. März 2003 von der Bundesversammlung
als Gegenentwurf zu den die beiden Volksinitiativen „Moratorium Plus“ und „Strom ohne
Atom“ verabschiedet und trat, nach dem die beiden Volksinitiativen gescheitert waren, am 1.
Februar 2005 in Kraft.
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diese Arbeit auf die derzeit bestehende Rechtslage709 stützen und auf eventuell anstehende Veränderungen710 durch das laufende Gesetzgebungsverfahren hinweisen.
C. Stilllegung und Abbau von Kernkraftwerken nach dem Kernenergiegesetz
Die Stilllegung einer kerntechnischen Anlage ist im Gegensatz zum alten Atomgesetz im neuen Kernenergiegesetz in den Artikeln 26 bis 29 KEG detailliert geregelt.711 Dabei ist der im Kernenergiegesetz verwendete Begriff der Stilllegung im
Gegensatz zum deutschen Recht weit zu verstehen. Die Stilllegung im Sinne des
KEG umfasst alle nachbetrieblichen Tätigkeiten von der Außerbetriebnahme des
Kernkraftwerks bis hin zur vollständigen nuklearen Demontage der Anlage. Insofern
gehören zur Stilllegung im Sinne der KEG auch ein möglicherweise sicherer Einschluss der kerntechnischen Anlage und alle mit dem Abriss verbundenen Arbeiten.
Der Stilllegungsbegriff entspricht damit weitgehend dem Begriffsverständnis, welches in der technischen Literatur vorherrscht.712
I. Pflicht zur Stilllegung
Die Verantwortung für die Stilllegung einer kerntechnischen Anlage obliegt nach
Art. 26 KEG dem Eigentümer der Anlage. Nach Art. 26 Abs. 1 lit. a KEG ist er im
Normalfall zur Stilllegung seiner Anlage verpflichtet, wenn er sie auf eigenen Entscheid endgültig außer Betrieb genommen hat. Formell handelt es sich dabei um den
Verzicht auf eine noch laufende Betriebsbewilligung713.
Ferner muss der Eigentümer seine Anlage nach Art. 26 Abs. 1 lit. b KEG stilllegen, wenn die Betriebsbewilligung entzogen wird oder sie aufgrund einer Befristung
nach Art. 67 Abs. 1 lit. a und b KEG erloschen ist.
Eine generelle Befristung der Betriebsbewilligungen, wie im deutschen Recht,
sieht das schweizerische Recht zwar nicht vor.714 Dafür eröffnet das neue Kernenergiegesetz aber durch Art. 21 Abs. 2 KEG die Möglichkeit, jede Betriebsbewilligung
einzeln zu befristen. Das alte Atomgesetz enthielt hierzu keine besondere Regelung.
Eine Befristung der Betriebsbewilligung wurde aber auch nach der alten Rechtslage
709 Stand 1. Oktober 2007.
710 Siehe Entwurf für eine Verordnung über den Stilllegungsfonds und den Entsorgungsfonds für
Kernanlagen (Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung, SEFV), „www.admin.
ch/ch/d/gg/pc/ documents/1323/Vorlage.pdf“; besucht am 1.07.2007.
711 Weber/Kratz, Elektrizitätswirtschaft, S. 183; Jagmetti, Energierecht, Rdnr. 5469 f.
712 Siehe oben Drittes Kapitel, C., II., 1.
713 Die Betriebsbewilligung entspricht weitgehend der deutschen Betriebsgenehmigung.
714 Eine Verankerung einer maximalen Laufzeit der Kernkraftwerke in der Bundesverfassung,
wie es die Volksinitiativen „Moratorium Plus“ und „Strom ohne Atom“ im Jahr 2003 verlangten, wurde abgelehnt.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die nukleare Entsorgung und die Stilllegung von Kernkraftwerken ist nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Die hohen Kosten und der lange Zeitraum, über den sich die notwendigen Stilllegungs- und Entsorgungsmaßnahmen erstrecken, stellen besondere Anforderungen an die finanzielle Vorsorge.
Dieses Buch analysiert die gesetzlichen Vorschriften, nach denen in Deutschland und der Schweiz finanzielle Vorsorge für die Stilllegung und Entsorgung betrieben wird, da diese beiden Länder unterschiedliche Wege gewählt haben, die weltweit exemplarisch für die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Problem sind. In Deutschland basiert die Finanzierungsvorsorge auf einer unternehmensinternen Lösung durch die Bildung von Rückstellungen bei den kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen. Diese Art der Finanzierungsvorsorge führt zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber. Inwieweit diese mit dem nationalen und dem europäischen Recht vereinbar sind, bildet ein Schwerpunkt dieses Buchs. Ein anderer Schwerpunkt ist der Vergleich mit dem unternehmensexternen Finanzierungssystem, das die Schweiz zur Finanzierungsvorsorge gewählt hat.