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von dem Bau einer Straße oder der Verlegung eines Kanals, bei dem der Sondervorteil in der Tat erst mit der Fertigstellung der Anlage selbst entsteht. Ein in seiner
Wertigkeit geminderter Sondervorteil ergibt sich demnach bereits durch die Genehmigung der kerntechnischen Anlage.297
Auch der Verweis von Ferdinand Kirchhoff auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 2001298 zum Telekommunikationsrecht, in der
das Gericht die Erhebung von Vorausleistungen für bis zu 30 Jahre in der Zukunft
liegende Amtshandlungen der Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation rechtswidrig erklärte, ist auf das Atomrecht nicht zu übertragen. Denn
die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts basierte unter anderem darauf,
dass die Länge des Zeitraums von 30 Jahren eine ausreichend sichere Kostenprognose nicht zulasse und deswegen eine Vorausleistung nicht zu legitimieren
sei.299 Die Höhe des als Vorausleistung geforderten Betrags im Rahmen der Endlagervorausleistungsverordnung orientieren sich aber anders als in dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall, nicht an dem im Jahr 2030 entstehenden
Kosten, sondern an dem jährlichen Aufwand für die Planung und Errichtung eines
Endlagers, also an dem schon tatsächlich entstandenen Aufwand.300
Demnach sind, entgegen der teilweise in der Literatur vorgebrachten Einwände,
die beitragsfähigen Aufwendungen301 auch nach der Verabschiedung des neuen Entsorgungskonzeptes noch über Vorausleistungen zu refinanzieren. Damit können
auch alle notwendigen Maßnahmen im Rahmen der alternativen Standortsuche
durch Vorleistungen refinanziert werden.302
II. Privatrechtliche Finanzierungsvorsorge
Durch die Vorausleistungen werden nur die bereits angefallenen Kosten hinsichtlich
der Planung und Errichtung von Endlagern refinanziert. Ihr Umfang betrug bis zum
Jahr 2006 für den Schacht Konrad 890 Mio. Euro und für den Standort Gorleben
297 Johlen, in: Koch/Roßnagel (Hrsg.), 12. Atomrechtssymposium, S.329 (339 f.).
298 BVerwGE 115, S. 125 (138).
299 BVerwGE 115, 125 (138).
300 Siehe §§ 3 und 4 EndlagerVlV.
301 Welcher Aufwendungen beitragsfähig sind, siehe oben Drittes Kapitel, C., 3., c), cc).
302 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die bereits entrichteten Vorausleistungen
zurückzuerstatten sind, falls die geplante neue Endlagersuche einen besser geeigneten Endlagerstandort hervorbringen sollte. Grundsätzlich steht einer Erstattung der bereits von den
Kernkraftwerkbetreibern geleisteten Vorausleistungen § 21 Abs. 4 AtG entgegen, nach dem
die Erstattung von Vorausleistungen dann ausgeschlossen ist, „wenn eine Anlage des Bundes
nach § 9a Abs. 3 AtG endgültig nicht errichtet und betrieben wird“. Diese Norm beschränkt
den grundsätzlich anerkannten – und den Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung nachgebildeten – allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch. Inwieweit diese Beschränkung verfassungsgemäß ist oder ob sie verfassungskonform ausgelegt werden
muss, ist in der Literatur noch weitgehend umstritten. Siehe hierzu Huck, RdE 2005, S. 39
(43); Büdenbender/Heintschel von Heinegg/Rosin, Rdnr. 1156.
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1,44 Mrd. Euro.303 Damit ist bislang aber nur ein kleiner Teil der gesamten Stilllegungs- und Entsorgungskosten gedeckt. Ein viel größerer Teil der Kosten entfällt
auf die in Zukunft noch anfallenden Planungs- und Errichtungsarbeiten für ein Endlager, auf den Betrieb des Endlagers und die Stilllegung und Beseitigung der kerntechnischen Anlagen. Vorsorge für die Finanzierung dieser Kosten treffen die
Betreiber der deutschen Kernkraftwerke indem sie diese Kosten bilanziell in Form
von Rückstellungen berücksichtigen. Insgesamt haben sie hierfür im Laufe der letzten vier Jahrzehnte Rückstellungen in Höhe von rund 30 Mrd. Euro angesammelt.304
Damit bildet die privatrechtliche Finanzierungsvorsorge in Form von Rückstellungen die zentrale Säule des deutschen Finanzierungssystems der nuklearen
Stilllegung und Entsorgung.
1. Praxis der Rückstellungsbildung für die Stilllegung und den Abbau
Die deutschen Kernkraftwerkbetreiber sammeln die finanziellen Mittel zur Deckung
der künftigen Kosten für die Stilllegung und den Abbau305 ihrer Kernkraftwerke
über 25 Jahre hinweg als Rückstellungen in ihren Handels- und Steuerbilanzen an.
Sie beginnen hiermit nach der Inbetriebnahme eines Kernkraftwerks, also nach der
ersten Kritikalität306 im Reaktor und der damit verbundenen Verstrahlung eines gro-
ßen Teils der Anlagen- und Gebäudestrukturen.
Dementsprechend sind erst nach 25 Jahren Betriebslaufzeit die Mittel für die
Stilllegung und Beseitigung eines Kernkraftwerkes vollständig in den Bilanzen der
Kernkraftwerkbetreiber berücksichtigt.307
2. Praxis der Bildung von Rückstellungen für die Entsorgung
Die Rückstellungen für die Entsorgung decken die Kosten für die Konditionierung,
Zwischenlagerung und Endlagerung der radioaktiven Betriebsmittel und der abgebrannten Brennelemente ab.
Sie werden im Gegensatz zu den Stilllegungsrückstellungen308 nicht linear über
25 Jahre, sondern ab dem Zeitpunkt ihres Einsatzes im Reaktor über ihre durch-
303 Bundesamt für Strahlenschutz, Jahresbericht 2005, S. 50 f. „www.bfs.de/bfs/druck
/jahresberichte/jb2005.pdf“; besucht am 10.04.2007.
304 Vgl. Siehe Geschäftsberichte der vier großen Energieversorgungsunternehmen: E.ON AG
Geschäftsbericht 2006; RWE AG Geschäftsbericht 2006, EnWG Geschäftsbericht 2006, Vattenfall Europe Geschäftsbericht 2006.
305 Unter die Stilllegungs- und Abbaukosten fallen alle Kosten für die anlagentechnische Vorbereitung der Stilllegung, inklusive der Kosten für den sicheren Einschluss und alle Kosten für
die Demontage der Anlage und die Entsorgung aller hierbei anfallenden radioaktiven Abfälle.
306 Die Kritikalität ist der normale Betriebszustand eines Kernreaktors, in dem eine sich selbst
erhaltende Kettenreaktion abläuft.
307 Eingehend auf die genaue Berechnungsmethode, siehe Irrek, Wuppertal Papers Nr. 52, S. 8.
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schnittliche Lebensdauer hinweg angesammelt.309 Bei Brennelementen beträgt die
Lebensdauer zwischen 3 und 6 Jahren. Bei den anderen kontaminierten oder aktivierten Betriebsmitteln wird je nach der voraussichtlichen Lebensdauer des Betriebsmittels differenziert.
E. Rechtmäßigkeit der Rückstellungspraxis nach deutschem Recht
Die Rückstellungspraxis der Kernkraftwerkbetreiber wird in der Literatur zum Teil
stark kritisiert.310 Teilweise wird daran gezweifelt, ob die Voraussetzungen für die
Bildung von Rückstellungen im Falle der Stilllegungs- und Entsorgungsverpflichtungen überhaupt erfüllt seien.311 Andere ziehen die Vereinbarkeit der Rückstellungspraxis mit dem europäischen Beihilferecht in Zweifel.312 Insbesondere die
steuerlichen Vorteile, die die Kernkraftwerkbetreiber durch die Rückstellungsbildung erlangen, sollen gegen das Beihilfeverbot des Artikels 87 Absatz 1 EG verstoßen.313
Im Folgenden soll deswegen die Rechtmäßigkeit der Rückstellungspraxis der
deutschen Kernkraftwerkbetreiber zunächst unter nationalen und dann unter europäischen Gesichtspunkten geprüft werden. Eine genaue Analyse der Stilllegungs- und
Entsorgungsrückstellungen und ihrer steuerlichen Begünstigung setzt dabei zunächst
einen Blick auf die steuer- und handelsrechtlichen Hintergründe voraus, bevor die
konkrete Rückstellungspraxis auf ihre Vereinbarkeit mit dem nationalen Recht hin
überprüft wird.
308 Hierunter sind alle Rückstellungen für die Stilllegung und Beseitigung der kerntechnischen
Anlagen zu verstehen.
309 Siehe Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen, S. 50. Bei den Brennelementen wird die Rückstellung ab der ersten Bestrahlung im
Reaktor gebildet. Da die normale Lebensdauer eines Brennelementes ein Jahr beträgt, wird
die Rückstellung im Jahr der ersten Bestrahlung voll gebildet.
310 Siehe Irrek, in Wuppertal Paper Nr. 53, S. 1 ff; Heintzen, in: StuW 2001, S. 71 ff.;
Reich/Helios, in: IStR 2005, S. 44 ff.; Hermes, in: ZNER 1999, S. 156 ff.; Fouquet/Uexküll,
ZNER 2003, S. 310 ff.
311 So Reich/Helios, in: IStR 2005, S. 44 ff. a. A. Kessler, in: IStR 2006, S. 98 ff.
312 Siehe Hermes, in: ZNER 1999, S. 156 ff.; Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 ff.
313 Vgl. Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (313 ff.)
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die nukleare Entsorgung und die Stilllegung von Kernkraftwerken ist nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Die hohen Kosten und der lange Zeitraum, über den sich die notwendigen Stilllegungs- und Entsorgungsmaßnahmen erstrecken, stellen besondere Anforderungen an die finanzielle Vorsorge.
Dieses Buch analysiert die gesetzlichen Vorschriften, nach denen in Deutschland und der Schweiz finanzielle Vorsorge für die Stilllegung und Entsorgung betrieben wird, da diese beiden Länder unterschiedliche Wege gewählt haben, die weltweit exemplarisch für die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Problem sind. In Deutschland basiert die Finanzierungsvorsorge auf einer unternehmensinternen Lösung durch die Bildung von Rückstellungen bei den kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen. Diese Art der Finanzierungsvorsorge führt zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber. Inwieweit diese mit dem nationalen und dem europäischen Recht vereinbar sind, bildet ein Schwerpunkt dieses Buchs. Ein anderer Schwerpunkt ist der Vergleich mit dem unternehmensexternen Finanzierungssystem, das die Schweiz zur Finanzierungsvorsorge gewählt hat.