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dernisse entgegenstehen dürfen, die sich unmittelbar oder mittelbar aus den einzelstaatlichen Vorschriften auf dem steuerrechtlichem, handelsrechtlichem oder technischen Gebiet ergeben“572. Die für die Realisierung eines gemeinsamen Marktes unerlässlichen Beihilfevorschriften sind deswegen im Bereich der Investitionsförderung anzuwenden. Demnach enthält der EAG-Vertrag in Bezug auf Beihilfemaßnahmen im Bereich der Europäischen Atomgemeinschaft zwar einzelne
Sondertatbestände, nicht aber ein abschließende Regelung der ganzen Materie. Die
Art. 87-89 EG sind daher ergänzend auf beihilferechtliche Sachverhalte anwendbar,
soweit diese nicht den Sonderbestimmungen des EAG-Vertrages unterfallen.573
bb) Beihilferechtliche Überprüfung der Rückstellungspraxis der deutschen Kernkraftwerkbetreiber
Im Hinblick auf die Rückstellungspraxis der deutschen Kernkraftwerkbetreiber muss
daher hinsichtlich der Zulässigkeit einer beihilfenrechtlichen Kontrolle und ggf. Beanstandung geprüft werden, ob sie in den beihilferechtlich resistenten Bereich fallen.
Davon kann jedoch keine Rede sein. Die Steuerbegünstigung von Rückstellung für
die Stilllegung und Beseitigung von Kernkraftwerken hat weder etwas mit Forschungsförderung noch mit der Erleichterung des Abschlusses von Versicherungsverträgen zu tun.
Die Kernkraftwerkbetreiber sollen durch die steuerliche Anerkennung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen Vorsorge für die Finanzierung der mit der
Stilllegung und Entsorgung verbundenen Investitionen treffen. Somit kann die Anerkennung von Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen dem Bereich der Investitionsförderung zugeordnet werden, in dem der EAG-Vertrag keine das EG-
Beihilferecht ausschließende Regelungen enthält. Einer Kontrolle der Rückstellungspraxis anhand des EG-Beihilfenrechts steht somit nichts entgegen.
Im Folgenden wird deswegen geprüft, ob die steuerliche Anerkennung von Rückstellungen für die Stilllegung und Entsorgung im Kernenergiebereich eine verbotene
Beihilfe im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG darstellt.
II. Steuerliche Anerkennung von Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen
als Beihilfe
Artikel 87 Abs. 1 EG erklärt „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder
Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, für mit
dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen den Mit-
572 EuGH v. 14.11.1978, Beschluss 1/78 n. Art. 103 Abs. 3 EAGV, Slg. 1978 I, S. 2151, (2173).
573 Koenig/Kühling/Ritter, EG-Beihilfenrecht, S. 54.
131
gliedsstaaten beeinträchtigen“. Der Tatbestand des Art. 87 Abs. 1 EG umfasst demnach folgende Merkmale:
1. die Gewährung einer Begünstigung;
2. die Übertragung staatlicher Mittel;
3. die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige;
4. die zumindest drohende Verfälschung des Wettbewerbs und
5. die Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels.574
Die steuerliche Anerkennung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen
in Deutschland stellt nur dann eine verbotene Beihilfe im Sinne des Art. 87 Abs. 1
EG dar, wenn sie alle fünf Tatbestandsmerkmale erfüllt.
1. Begünstigung
Die Begünstigung ist das zentrale Tatbestandsmerkmal von Art. 87 Abs. 1 EG. Unter Begünstigung ist jede Gewährung eines wirtschaftlichen Vorteils zu verstehen,
der nicht durch eine entsprechend marktgerechte Gegenleistung kompensiert wird.575
Die Form und die Gründe des Vorteils sind für die Beurteilung der Beihilfe nach
Art. 87 EG unerheblich, entscheidend ist allein ihre vorteilhafte Wirkung.576 Es fallen somit nicht nur positive Leistungsgewährungen, sondern auch Maßnahmen, die
die Belastungen für die Unternehmen mindern unter den Beihilfebegriff des Art. 87
Abs. 1 EG.577 Eine solche Belastungsverminderung liegt vor, wenn der Staat die
vom Begünstigten normalerweise zu tragende Lasten mindert und kann folglich
auch durch eine Steuererleichterung erfolgen.578
Die Kernkraftwerkbetreiber sammeln gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. d S. 3 EStG die
Stilllegungsrückstellungen in gleichen Raten über einen Zeitraum von 25 Jahren an.
Dadurch genießen sie mehrere Vorteile. Zum einen wirkt die Bildung von Rückstellungen wie eine Steuerstundung, da die angesammelten Raten jedes Jahr das zu
versteuernde Einkommen mindern, obwohl es noch zu keinen Abfluss von Finanzmitteln kommt. Erst wenn die Kosten der Stilllegung tatsächlich anfallen, werden
die Rückstellungen in Anspruch genommen.
Trotz des nur vorübergehenden Charakters der Steuerersparnis qualifizierte der
EuGH579 und die Europäische Kommission580 mehrfach Steuerstundungen als Bei-
574 Heidenhain, in: Heidenhain, Europäisches Beihilfenrecht, § 3, Rdnr. 2.
575 EuGH Slg. 1961, S. 7 (43) – Steenkolenmijnen/Hohe Behörde; so auch: Ehricke, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG/Teil 1, Art. 87, Rdnr. 42.
576 Vgl. Mederer, in Schröter/Jakob/Mederer , Art. 87 Abs. 1, Rdnr. 2; Heidenhain, in: Heidenhain, § 4, Rdnr. 1.
577 Vgl. Ehricke, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG/Teil 1, Art. 87, Rdnr. 42;
Koenig/Kühling/Ritter, S. 61; v. Wallenberg, in: Grabitz/Hilf, Art. 87, Rdnr. 12.
578 Jestaedt, in: Heidenhain, § 8, Rdnr. 4; Zeitz, Der Begriff der Beihilfe, S. 177 ff.
579 EuGH vom 29.06.1999, C-256/97, EuGH Slg. 1999, I-3919 (3933), Rdnr. 19 – Demenagements-Manutention Transport SA;
580 So ausdrücklich ABl. 1996 L Nr. 146 S. 42 (45) (hierbei ging es um eine Steuerstundung
durch die Verlängerung der Sonderabschreibungen zugunsten der deutschen Luftfahrtunter-
132
hilfen und sah die beihilfenrelevante Begünstigung in dem Zahlungsaufschub selbst
begründet.581
Dem ist zuzustimmen, denn der Aufschub der Steuerlast bedeutet für die Unternehmen, dass das Kapital zinsfrei im Unternehmen gehalten werden kann.582 Diese
wirkt sich positiv auf den Cash-flow des betroffenen Unternehmens aus und führt zu
erheblichen Liquiditäts- und Zinsvorteilen.
Ein weiterer Vorteil ergibt sich daraus, dass die Raten lediglich über einen Zeitraum von 25 Jahren anzusammeln (§ 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. d S. 3 EStG) und abzuzinsen (§ 6 Abs. 1 Nr. 3 a lit. e S. 3 EStG) sind.583 Die deutschen Atomkraftwerke
müssen jedoch im Schnitt nach dem Atomausstiegsgesetz frühestens nach 32 Jahren
ihren Leistungsbetrieb einstellen, wobei die Zeitspanne bis zur Fälligkeit eines
Großteils der zurückgestellten Beträge unter anderem durch den sicheren Einschluss
der Anlage erheblich verlängert werden kann.
Ist die Rückstellungssumme nach 25 Jahren vollständig angesammelt, wird aber
erst später fällig, so kann das Unternehmen in der Zwischenzeit Zinsgewinne ansammeln, die je nach Steuersatz aus der Steuerfreistellung stammen. Diese Zinsgewinne können für die 17 noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke bis zu 8,5
Mrd. EUR betragen.584
Demnach führt die Anerkennung von Stilllegungsrückstellungen zu erheblichen
Begünstigungen für die deutschen Kernkraftwerkbetreiber.
2. Staatliche oder aus staatlichen Mitteln
Der Wortlaut des Art. 87 Abs. 1 EG beschränkt das Beihilfeverbot auf „staatliche
oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen“. Damit sollen jegliche staatlichen
oder mit öffentlichen Mitteln finanzierten Interventionen, seien sie mittel- oder unmittelbar, erfasst werden.585 Den Mitgliedsstaaten wird es damit unmöglich genehmen gem. § 82 f. EStDV. Die hiergegen eingereichte Nichtigkeitsklage wies das EuG
mangels Klagebefugnis des klagenden Vereins deutscher Luftfahrtunternehmen als unzulässig zurück, Rs- T-86/96, Slg. 1999, II-179).
581 So auch: Jestaedt, in: Heidenhain, § 8, Rdnr. 4; Zeitz, Der Begriff der Beihilfe, S. 179 ff.
582 Siehe näher zu den steuerlichen Vorteilen von Rückstellungen, oben Drittes Kapitel, E., I., 5.
583 Vgl. so auch: Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (316).
584 Bei Zugrundlegung von durchschnittlichen Stilllegungskosten in Höhe von 700 Mio. EUR
beträgt der entsprechende Zinsgewinn zwischen dem 25. und 32. Jahr bei Veranschlagung eines Zinssatzes von 5,5 Prozent 160 Mio. EUR, wovon derzeitig 25 Prozent direkt aus der
Steuerstundung stammen. Unter Annahme, dass der Herstellung des sicheren Einschlusses
einmalig 10 Prozent der Rückstellungssumme kostet und die restlichen 90 Prozent erst nach
weiteren 30 Jahren fällig werden, ergeben sich Zinsgewinne von fast 2 Mrd. EUR pro Kraftwerk, wovon wiederum je nach Steuersatz, also derzeitig 25 Prozent direkt aus der Steuerstundung stammt. Für die 17 Kernkraftwerke ergäbe sich damit ein Gesamtzinsgewinn von
rund 8,5 Mrd. EUR aus der Steuerstundung. Vgl. Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310
(316).
585 Vgl. Ehricke, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG/Teil 1, Art. 87, Rdnr. 61; Mederer/Triantafyllou, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 87 Rdnr. 23.
133
macht, die Beihilfebestimmungen dadurch zu umgehen, dass sie die Beihilfegewährung auf andere als staatliche Institutionen delegieren.586 Die geleistete Hilfe
muss dabei aber entweder zu Lasten des Haushalts des Mitgliedsstaates oder einer
vom Staat betrauten Einrichtung bzw. eines vom Staat kontrollierten Unternehmens
erfolgen.587 Gleichgültig ist dabei, ob die Belastung des Haushalts durch eine Ausgabe oder durch eine Mindereinnahme erfolgt.588 Ein Steuereinnahmeverlust steht
demnach der Verwendung staatlicher Mittel in Form von Ausgaben aus Steuermitteln gleich.
Das Kriterium „aus staatlichen Mitteln“ erfüllt bei den Rückstellungen für die
Stilllegung und Entsorgung der Betrag an Steuereinnahmen, welcher der Bundesrepublik Deutschland dadurch entgangen ist und weiter entgeht, dass diese Rückstellungen den zu versteuernden Gewinn mindern. Dieser Teil der bei den Unternehmen angelaufenen Mitteln, ist vom Staat gewährt worden, während die Rückstellungen selbst aus den Gewinnen der Stromerzeugung, also nicht aus staatlichen
Mitteln gebildet wurden. Im Folgenden wird daher die beihilferechtliche Relevanz
nur dieses Betrages der Steuerersparnis untersucht.
3. Begünstigung „bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige“
Der Tatbestand des Art. 87 Abs. 1 EG setzt voraus, dass die Begünstigung „bestimmten Unternehmen oder Produktionszweigen“ gewährt wird. Erforderlich ist
damit zum einen eine bestimmte Qualität des Beihilfenempfängers und zum anderen
muss das Kriterium der Selektivität erfüllt sein.589 Durch diese Vorgaben erhält der
Beihilfetatbestand in vielerlei Hinsicht eine Begrenzung.
Durch die Begrenzung der tauglichen Beihilfeempfänger auf Unternehmen und
Produktionszweige soll der Anwendungsbereich des Beihilfenverbots auf „Wirtschaftssubventionen“ begrenzt werden.590
Der Begriff des Unternehmens in Art. 87 Abs. 1 EG entspricht dem der Art. 81 ff.
und 85, 86 EG.591 Dies ergibt sich bereits aus der systematischen Verklammerung
der Art. 81 bis 89 EG, die als Wettbewerbsregeln den Schutz des innergemeinschaftlichen Wettbewerbs vor Verfälschungen als gemeinsames Ziel haben.592
Daher ist die Rechtsprechung des EuGH zum Unternehmensbegriff in Art. 85 EG,
die in der Literatur mittlerweile unumstritten ist, entsprechend anzuwenden. Demnach ist ein „Unternehmen jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit,
586 Vgl. Lübbing/Martin-Ehlers, Beihilfenrecht der EU, S. 42.
587 EuGH, Ecotrade/Altiforni die Servola SpA., Slg. 1998 I-7907 (7936 f.).
588 EuGH v. 23.02.1961, Rs. 30/59, Steenkolenmijnen/Hohe Behörde, Slg. 1961 I-7 (43).
589 Zeitz, Der Begriff der Beihilfe, S. 188.
590 Mederer/Triantafyllou, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 87 Rdnr. 20.
591 Dies geht unter anderem aus in der EuGH-Entscheidung v. 23.04.1991, Rs. C41/90, Höfner u.
Elsner/Macrotron, C-41/90, Slg. 1991, I-1979 (2016) verwendeten Formulierung hervor, nach
der im gesamten Wettbewerbsrecht der gleiche Unternehmensbegriff gilt.
592 Mederer/Triantafyllou, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 87 Rdnr. 22.
134
unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“593. Eine wirtschaftliche Tätigkeit liegt nach Ansicht des EuGH vor, wenn das betreffende Unternehmen als Anbieter und Nachfrager von Waren oder Dienstleistungen auf einem
bestehenden Markt auftritt.594 Die Kernkraftwerkbetreiber sind entweder Aktiengesellschaften und GmbHs, die auf dem Strommarkt mit anderen Energieanbietern im
Wettbewerb stehen. Damit fallen alle deutschen Kernkraftwerkbetreiber unter den
Begriff des Unternehmens im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG.
Unabhängig davon ist die Stromerzeugung in Kernkraftwerken als eigener Produktionszweig anzusehen. Der Begriff des „Produktionszweigs“ erfasst nämlich
sämtliche Gewerbezweige, also insbesondere neben dem der Güterherstellung auch
Dienstleistungs- und Handelsunternehmen und die Freien Berufe, also jede Wirtschaftstätigkeit, die auf Dauer angelegt ist. Zwar unterscheidet sich der in Kernkraftwerken erzeugte Strom physikalisch nicht von dem auf andere Art und Weise
produzierten Strom. Wirtschaftlich bilden jedoch die verschiedenen Erzeugungsarten auf dem Strommarkt die „Produktionszweige“, die miteinander im Wettbewerb
stehen. Die Kernkraftwerkbetreiber sind daher taugliche Beihilfeempfänger im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG.
Das Erfordernis der „Selektivität“595, welches sich im Gesetz im Wort „bestimmte“ Unternehmen in Art. 87 Abs. 1 EG ausdrückt, verhindert, dass Maßnahmen der allgemeinen Konjunktur- und Wirtschaftspolitik, die die Volkswirtschaft als Ganzes treffen, unter das Beihilfeverbot fallen.596 Ziel des Art. 87
Abs. 1 EG ist eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs der Unternehmen untereinander zu verhindern. Deswegen verbietet Art. 87 Abs. 1 EG grundsätzlich alle
staatlichen Sonderunterstützungen von Unternehmen und Produktionszweigen.597
Allgemeine Maßnahmen können dagegen zwar den Wirtschaftswettbewerb der Mitgliedsstaaten untereinander tangieren, bevorzugen jedoch keine bestimmten Unternehmen und werden deswegen von Art. 87 Abs. 1 EG nicht erfasst.598
Eine selektive Begünstigung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG liegt vor, wenn nach
der Zielsetzung einer Regelung oder durch ihre tatsächliche Anwendung ein bestimmter Kreis von Unternehmen bevorteilt wird.599 Entscheidend ist dabei der Aus-
593 EuGH v. 23.04.1991, Rs. C41/90, Höfner u. Elsner/Macrotron, Slg. 1991, I-1979 (2016);
EuGH v. 11.12.1997, Rs. C-55/96, Job Centre, Slg. 1997, I-7119 (7147).
594 EuGH v. 22.01.2002, Rs. C-218/00, Cisal/INAIL, Slg. 2002, I-691, 731, Rz. 23.
595 Für das Merkmal der „Selektivität“ wird in der Literatur auch die Termini „Bestimmtheit“
(u. a. Jestaedt, in: Heidenhain, § 8, Rdnr. 9), „Spezifität“ (u. a. Sanchez Rydelski, S. 69; Metaxas, S. 5), „Spezifizität“ (u. a. Lübbig/Martin-Ehlers, Rdnr. 124) und „Spezialität“ (u. a.
Koenig/Kühling/Ritter, Rdnr. 171) verwendet. Inhaltlich wird damit jedoch das Gleiche verbunden.
596 Vgl. v. Wallenberg, in: Grabitz/Hilf, Art. 87, Rdnr. 45; Lübbig/Martin-Ehlers, Beihilfenrecht
der EU, Rdnr. 124; Koenig/Kühling/Ritter, EG-Beihilfenrecht, Rdnr. 171; Jestaedt, in: Heidenhain, § 8, Rdnr. 9.
597 Zu den Ausnahmen vom grundsätzlich bestehenden Beihilfeverbot, siehe Ehricke, WM 2001,
Sonderbeilage Nr. 3 zu Heft 27/2001, S. 3 ff.
598 Vgl. Ehricke, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG/Teil 1, Art. 87, Rdnr. 80.
599 Zeitz, Der Begriff der Beihilfe, S. 199.
135
nahmecharakter des Vorteils. Dieser ist gegeben, wenn die Begünstigung nicht allen
Unternehmen oder Produktionszweigen zugute kommt, die nach den allgemeinen
Regeln des Systems in ihren Genuss kommen müssten. Handelt es sich um eine solche Ausnahme, ist weiter zu prüfen, ob diese durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems gerechtfertigt ist.600
Bezogen auf den Bereich des Steuersystems bedeutet dies, dass ein in sich kohärentes nach objektiven Kriterien aufgebautes Steuersystem keine Beihilfe darstellt.601 Um eine Beihilfe handelt es sich erst dann, wenn die Kohärenz dieses Systems durch gezielte Vergünstigungen bzw. Steueraussetzungen gestört wird. Wesentlich für die Anwendung des Art. 87 Abs. 1 EG auf eine steuerliche Regelungen
ist daher die Beantwortung der Frage, ob die Begünstigung eine Ausnahme von der
Anwendung des allgemein geltenden Steuersystems darstellt. Liegt eine solche Ausnahme vor, ist weiter zu prüfen, ob die Ausnahme oder die systeminterne Differenzierung durch die Natur oder den inneren Aufbau des Steuersystems gerechtfertigt
sind, das heißt, ob sie sich unmittelbar aus den Grund- oder Leitprinzipien des Steuersystems des jeweiligen Mitgliedsstaates ergibt.602
Andernfalls liegt eine selektive Begünstigung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG
vor. Eine solche kann sich entweder bereits aus der Konzeption der begünstigten
Steuervorschrift selbst, also durch ausdrückliche Begrenzung des Anwendungsbereichs auf bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige, oder bei einer allgemein gefassten begünstigenden Regelung aus der tatsächlichen Anwendung durch
die Steuerbehörden ergeben.603
Die steuerliche Anerkennung von Rückstellungen für die Stilllegung und den Abbau der deutschen Kernkraftwerke und die Entsorgung der dabei anfallenden radioaktiven Abfälle ist in der Literatur auf starke Kritik gestoßen. Dabei ist vor allem
umstritten, ob es sich hierbei um eine selektive Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber handelt. Diese Frage stand auch im Mittelpunkt des Rechtsstreits der
vier deutschen Stadtwerke gegen die Kommission vor dem Europäischen Gericht
erster Instanz.604
a) Kritik an der Rückstellungspraxis in der Literatur
In der Literatur vertreten vor allem Hermes605, Reich/Helios606 und Fouquet/Uexküll607 die Ansicht, dass insbesondere die Anerkennung von Stilllegungs-
600 Vgl. Ehricke, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG/Teil 1, Art. 87, Rdnr. 92.
601 Hermes, ZNER 1999, S. 156 (164).
602 Jestaedt, in: Heidenhain, § 8, Rdnr. 18.
603 Gross, Das Europäische Beihilfenrecht im Wandel, S. 29; Zeitz, Der Begriff der Beihilfe,
S. 199; Koenig/Kühling/Ritter, S. 81.
604 Vgl. EuG, Urt. Vom 26.01.2006 – T – 92/02. Näheres hierzu siehe Drittes Kapitel, F, II, 3., b)
(S. 134 ff.)
605 Hermes, ZNER 1999, S. 156 (161 ff.).
606 Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (47 ff.).
136
und Entsorgungsrückstellungen aus mehreren Gründen zu einer selektiven Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber führt und daher mit Art. 87 Abs. 1 EG nicht vereinbar ist.
aa) Nichtvorliegen der Voraussetzungen für die Bildung von Stilllegungsrückstellungen
Hermes sieht zwar in den allgemeinen handels- und steuerrechtlichen Rückstellungsvorschriften keine die Kernkraftwerkbetreiber begünstigenden Ausnahmevorschriften, da sie grundsätzlich auf alle einkommens- und körperschaftssteuerpflichtigen Unternehmen in gleicher Weise Anwendung finden.608 Doch seien
im Fall der Stilllegungspflichten die von der Rechtsprechung aufgestellten Konkretisierungsanforderungen für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen nicht erfüllt.609
Dem Atomgesetz und den atomrechtlichen Begleitvorschriften lasse sich das in
sachlicher und zeitlicher Hinsicht geforderte hinreichend konkrete Verhalten ebenso
wenig entnehmen wie eine wirksame Sanktionsbewehrung.610 Weder die Vorschriften des Atomgesetzes noch die atomrechtlichen Verordnungen sähen eine
Pflicht zur Stilllegung oder zum Abbau eines Kernkraftwerkes vor. Zudem eröffne
§ 7 Abs. 3 S. 1 AtG den Kernkraftwerkbetreibern die Möglichkeit, zwischen dem
sicheren Einschluss und dem vollständigen Abbau eines Kernkraftwerkes zu wählen.
Es sei somit nicht sicher, ob ein Kernkraftwerk überhaupt abgebaut und wenn auf
welche Weise es abgebaut werden muss. In sachlicher Hinsicht bestehe daher weder
eine konkrete Stilllegungs- noch eine konkrete Abbaupflicht.611 Unter zeitlichen Gesichtspunkten fehle es an einem Handlungszwang innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Zwar begrenze § 7 Abs. 1a AtG den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke
durch eine Reststrommenge, die in etwa einer Regellaufzeit von 32 Jahren entsprechen soll. Doch aufgrund der rechtlichen Möglichkeit, den Stilllegungszeitpunkt der
einzelnen Anlagen durch Übertragung von Reststrommengen flexibel festzulegen
und der Wahlmöglichkeit zwischen den Stilllegungsvarianten „sicherer Einschluss“
und „sofortiger Abbau“ liege es weitgehend in der Hand der Kernkraftwerkbetreiber,
den Anfall der Stilllegungs- und Abbaukosten um 30 oder mehr Jahre hinauszuschieben.612 Hinzu komme, dass auch die Sanktionsbewehrtheit der Verpflichtung
zur Stilllegung und zum Abbau der Kernkraftwerke fehle. Denn keiner der in § 46
AtG aufgeführten Sanktionstatbestände verweise auf die Stilllegung oder den Abbau
von Kernkraftwerken. Da die Finanzämter trotzdem die Stilllegungsrückstellungen
607 Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (314 ff.).
608 So auch Kessler, IStR 2006, S. 98 (100); a. A. Reich/Helios, IStR 2005 S. 44 (48), der freien
Verfügbarkeit von Rückstellungen allgemein ein Beihilfe sieht.
609 Hierzu siehe eingehend Drittes Kapitel, E., II., 1.
610 So auch Fouqeut/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (316 ff.)
611 Hermes, ZNER 1999, S. 156 (165 f.).
612 Zu den Möglichkeiten den Anfall der Stilllegungs- und Entsorgungskosten hinauszuschieben,
siehe oben Drittes Kapitel, E., II., 1., b).
137
steuerlich anerkennen, liege hierin eine Ausnahme von den allgemeinen steuerlichen
Regelungen. Diese Ausnahme begünstige nur die deutschen Kernkraftwerkbetreiber,
die eine kleine und überschaubare Gruppe von Unternehmen bilden. Somit bedeute
die steuerliche Anerkennung von Stilllegungsrückstellungen eine Begünstigung „bestimmter“ Unternehmen bzw. eines „bestimmten“ Produktionszweigs, die auch nicht
durch die Natur oder das innere System des deutschen Steuerrechts zu rechtfertigen
sei.613
bb) Sonderregeln
Fouquet/Uexküll verweisen zudem darauf, dass durch das „Steuerentlastungsgesetz“
Sonderregeln für die Atomwirtschaft eingeführt wurden, die die Kernkraftwerkbetreiber begünstigen.614 Insbesondere der Zeitraum von 25 Jahren, in dem die Stilllegungsrückstellungen in gleichen Raten gem. § 6 Abs. 3a lit. d S. 3 und § 6 Abs. 3a
lit. e S. 3 EStG angesammelt und abgezinst werden müssen, sei zu kurz bemessen
und führe zu erheblichen Zinsvorteilen zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber. Da
die Reststrommengen der einzelnen Kernkraftwerke im Durchschnitt auf 32 Jahre
Betriebsdauer angelegt sind, verstoße ein Ansammlungszeitraum von 25 Jahren gegen das Grundprinzip der zeitgerechten Zuordnung von Rückstellungen und stelle
somit eine selektive Ausnahme vom deutschen Steuersystem dar.615 Teilweise wird
jedoch der verkürzte Ansammlungszeitraum mit dem Vorsichtsprinzip gerechtfertigt. Denn eine vorsichtige Bewertung verlange, dass auch im Fall einer vorzeitigen
Stilllegung genügend Rückstellungsmittel angesammelt seien, um die Stilllegung
finanzieren zu können.616 Fouquet/Uexküll lehnen dagegen die Rechtfertigung des
verkürzten Ansammlungszeitraums durch das Vorsichtsprinzip ab. Sie verweisen
darauf, dass immer wenn ein Kernkraftwerk früher stillgelegt werde, durch die
Übertragung der Reststrommenge ein anderes Kernkraftwerk länger als 32 Jahre betrieben werden könne. Die Stilllegung des früher stillgelegten Kernkraftwerkes könne daher unproblematisch finanziert werden, wenn der Gesetzgeber eine Rechtsgrundlage schaffe, die es ermögliche gleichzeitig mit der Übertragung der Reststrommenge auch einen Teil der Rückstellungen der länger zu betreibenden Anlage
auf die kürzer zu betreibende Anlagen zu übertragen und sich der Ansammlungszeitraum für die länger zu betreibende Anlage entsprechend erhöhe.617 Damit sei eine Sonderregelung wie § 6 Abs. 3a lit. d S. 3 EStG überflüssig.
Heintzen sieht sogar durch die Einfügung des § 6 Abs. 3a lit. d S. 3 EStG erst die
Grundlage für die Ansammlung von Stilllegungsrückstellungen geschaffen. Nach
seiner Ansicht wären die Kernkraftwerkbetreiber ohne die Sonderregel des § 6
Abs. 3a lit. d S. 3 EStG verpflichtet, eine Einmalrückstellung im Zeitpunkt der Inbe-
613 Hermes, ZNER 1999, S. 156 (162 f.).
614 Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (315 ff.).
615 Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (316).
616 So Kessler, IStR 2006, S. 98 (104 f.).
617 Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (316).
138
triebnahme des Kernkraftwerks zu bilden, die aufgrund des sehr hohen Finanzbedarfs zu einer Überschuldung der Kernkraftwerkbetreiber hätte führen können.618
Auch insofern stelle § 6 Abs. 3a lit. d S. 3 EStG für die Kernkraftwerkbetreiber eine
selektive Begünstigung dar.
Eine weitere begünstigende Sonderregel zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber
enthalte § 52 Abs. 16 S. 13 EStG.619 Hiernach sind die Kernkraftwerkbetreiber verpflichtet, die bisher gebildeten Stilllegungsrückstellungen bis zu dem Betrag gewinnerhöhend aufzulösen, der sich bei der Anwendung des § 6 Abs. 3a lit. d S.3 und
lit. e S. 3 EStG ergibt. § 52 Abs. 16 S. 14 i. V. m. S. 11 EStG620 ermögliche dabei
die hiermit verbundene Steuerzahlungspflicht über einen Zeitraum von zehn Jahren
zu strecken. Dadurch werde ein Teil der zu zahlenden Steuern gestundet. Diese erneute Steuerstundung stelle eine Ausnahmeregelung dar, die nicht durch die Natur
oder den inneren Aufbau des deutschen Steuersystems gerechtfertigt sei.621
cc) Höhe der Rückstellungen
Unabhängig davon besteht der Verdacht, dass sowohl die Stilllegungs- als auch die
Entsorgungsrückstellungen überhöht seien.622 Gestützt wird dieser Verdacht darauf,
dass in anderen europäischen Ländern wie in Frankreich oder in Schweden sehr viel
niedrigere Rückstellungen für die Stilllegung und die Entsorgung gebildet werden.
Kritisiert wird vor allem, dass sich die Finanzverwaltungen der Länder strikt an die
Gutachten der Nuklear-Ingenieur-Service GmbH (NIS) einem Tochterunternehmen
der NUKEM GmbH halten, an der die Kernkraftwerkbetreiber beteiligt seien. Au-
ßerdem wird die Undurchsichtigkeit der Nachprüfungen, die fortgesetzte Unsicherheit über die Höhe der Rückstellungsvolumina und die faktische Bindung der Landesfinanzämter an die Wirtschaftsprüfer kritisiert. Deren Unabhängigkeit sei im Übrigen durch die geringe Größe des Marktes wegen der geringen Anzahl der Erzeuger
von Strom durch Kernkraft begrenzt.623
dd) Freie Verfügbarkeit über die Rückstellungen
Ein weiteres Argument zur Begründung des Beihilfecharakters sowohl der Stilllegungsrückstellungen wie auch der Entsorgungsrückstellungen betrifft die freie
Verwendungsmöglichkeit über die Rückstellungsgegenwerte. Diese verstoße gegen
den Zweck der Rückstellungsbildung als Ausprägung des Vorsichtsprinzips.624 Da
618 Heintzen, StuW 2001, S. 71 (72).
619 Hermes, ZNER 2003, S. 156 (168); Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (316).
620 früherer § 52 Abs. 16 S. 8 EStG geändert durch Gesetz v. 15.12.2003 (BGBl. I S. 2645).
621 Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (316).
622 Siehe Irrek, in: Wuppertal Papers Nr. 56, S. 21 f.
623 So Hermes, ZNER 1999, S. 156 (167); Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (318).
624 Vgl. Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (48).
139
es für die Verwendung der Rückstellungen keinerlei gesetzliche Vorgaben gebe, die
Anforderungen an das Risiko, die Rendite oder die Verfügbarkeit des Finanzvolumens stellen, könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Mittel im Falle einer
vorzeitigen außerplanmäßigen wie auch im Falle einer planmäßigen Stilllegung anderweitig vergeben seien.625 Diese Gefahr bestehe insbesondere dann, wenn ein
Kernkraftwerkbetreiber insolvent werden sollte.626 Durch das Belassen der Rückstellungsmittel zur freien Verfügbarkeit ohne genaue Kostenanalyse, Zeitplanung
und Risikoverteilung habe die Bundesrepublik Deutschland letztlich eine staatliche
Einstandsgarantie in unbezifferbarer Höhe abgegeben, die selbst eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 87 Abs. 1 EG darstelle.627 Die freie Verfügbarkeit stehe im
Gegensatz zum Vorsichtsprinzip, welches das Ziel verfolge, die Gläubiger und die
Allgemeinheit zu schützen. Zwar gelte die freie Verfügbarkeit über die Rückstellungsmittel grundsätzlich für alle Verbindlichkeitsrückstellungen, gleichgültig welchen Ursprung sie haben. Jedoch wirke sich die immense Höhe und die lange Laufzeit der Rückstellungen im Kernenergiebereich in einer Art und Weise aus, die nicht
nur einen quantitativen, sondern auch einen „qualitativen Sprung“628 darstelle und
somit einen Systembruch gleichkomme.629
So finanzierten die deutschen Kernkraftwerkbetreiber mit ihren Rückstellungsmittel u. a. Unternehmenskäufe und forcierten den Verdrängungswettbewerb. Keiner
der anderen Energieanbieter, die auf andere Energieträger gesetzt haben und mit der
nuklearen Stromerzeugung konkurrieren, habe die Möglichkeit, Rückstellungen in
ähnlicher Größenordnung zu bilden. So genössen die Kernkraftwerkbetreiber durch
die Zinsgewinne und Steuerstundungsvorteile einen großen Vorteil gegenüber konkurrierenden Unternehmen, der in dieser Höhe in keinem anderen Wirtschaftsbereich in Deutschland vorkommt. Daher sei die steuerliche Anerkennung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen schon aufgrund ihrer faktischen Auswirkungen auf dem Elektrizitätsmarkt als selektive Maßnahme anzusehen.630
b) Entscheidung des Europäischen Gerichts erster Instanz
Das Europäische Gericht erster Instanz kommt in seinem Urteil vom 26. Januar
2006 zu dem Ergebnis, dass die streitigen Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen keine Beihilfen im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG darstellen.631 Es fehle an
der Selektivität der Begünstigung. Die Anerkennung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen stelle keine Ausnahme von der allgemeinen Steuerregelung
dar.
625 Vgl. Mutschler, in: Lukes/Birkhofer (Hrsg.), 9. Atomrechtssymposium, S. 169 ( 171 f.).
626 Sauer, in: Lukes/Birkhofer(Hrsg.), 9. Atomrechtssymposium, S. 177 (192).
627 Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (48).
628 So Hermes, ZNER 1999, S. 156 (163).
629 Siehe Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (48).
630 Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (318).
631 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, RdE 2006, S. 192 ff.
140
Nach Ansicht des Europäischen Gerichts erster Instanz seien sowohl die allgemeinen Voraussetzungen für die Bildung von Rückstellungen als auch die besonderen Konkretisierungsvoraussetzungen, die der BFH für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen aufgestellt hat, erfüllt. Das Gericht entnimmt entgegen der herrschenden Meinung in der Literatur dem § 7 Abs. 3 in Verbindung mit § 9a AtG eine
Pflicht für die Betreiber, die Kernkraftwerke auf eigene Kosten stillzulegen und abzubauen.632 Diese Pflichten werden nach Ansicht des Europäischen Gerichts erster
Instanz inhaltlich durch mehrere atomrechtliche Begleitverordnungen und Leitfäden
hinreichend konkretisiert. Die Stilllegungspflicht werde durch den „Leitfaden zur
Stilllegung von Anlagen nach § 7 AtG“ konkretisiert und die Pflicht zum Abbau der
Kernkraftwerke werde durch die atomrechtlichen Verfahrensordnung, die Strahlenschutzverordnung, die atomrechtlichen Deckungsvorsorgeverordnung, die Kostenverordnung zum Atomgesetz und die atomrechtlichen Sicherheitsbeauftragten- und
Meldeverordnung inhaltlich konkretisiert.633 Auch aus der Wahlmöglichkeit zwischen den beiden Alternativen „sicherer Einschluss“ und sofortiger „Abbau“, die § 7
Abs. 3 S. 1 AtG eröffne, lasse sich keine mangelnde Konkretisierung ableiten, weil
in jedem Fall feststehe, dass alle in Betracht kommenden Maßnahmen auf Kosten
der Kernkraftwerkbetreiber erfolgen müssen.
Ebenso seien die entsprechenden Pflichten zeitlich hinreichend konkret bestimmbar. Denn „nach § 7 Abs. 1a AtG erlischt die Berechtigung zum Leistungsbetrieb des
Kernkraftwerkes, wenn es die in Anlage 3 zum AtG aufgeführte Elektrizitätsmenge
oder die sich aufgrund von Übertragungen von Produktionsquoten nach § 7 Abs. 1b
AtG ergebende Elektrizitätsmenge produziert ist“634. Somit lasse sich der „Zeitpunkt
der Stilllegung der Anlagen […] nach dem objektiven Kriterium der Erschöpfung
der zugestandenen Elektrizitätsmenge bestimmen, die die Betreiber den zuständigen
Behörden mitzuteilen hat“635. Deswegen spiele es keine Rolle mehr, dass die Betriebsgenehmigungen gem. § 17 Abs. 1 S. 4 AtG unbefristet erteilt worden seien,
denn durch § 7 Abs. 1b AtG sei der Zeitpunkt der Fälligkeit der entsprechenden
Pflichten hinreichend konkret bestimmbar.
Auch seien Verstöße gegen die Pflicht zur Stilllegung und zum Abbau, wie nach
der BFH-Rechtsprechung gefordert, mit Sanktionen bewehrt. Zum einen sehe § 17
Abs. 3 AtG die Möglichkeit des Widerrufs der Betriebsgenehmigung bei Verstößen
gegen die Vorschriften des AtG oder der dazu erlassenen Rechtsverordnungen oder
gegen die hierauf beruhenden Anordnungen und Verfügungen der Aufsichtsbehörden vor. Zum anderen bedrohe § 327 StGB jeden mit einer Freiheitsstrafe bis
zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe, wer ohne die erforderliche Genehmigung
eine betriebsbereite oder stillgelegte kerntechnische Anlage innehat oder ganz oder
teilweise abbaut oder eine solche Anlage oder ihren Betrieb wesentlich ändert. In
Bezug auf § 7 Abs. 3 AtG, wonach die Stilllegung einer Anlage sowie der sichere
Einschluss oder der Abbau der Anlage oder von Anlagenteilen einer Genehmigung
632 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 73.
633 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 18/19.
634 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 77.
635 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, RdE 2006, S. 192 ff.
141
bedürfen, könne angenommen werden, dass „die Einstellung des Betriebs eines
Kernkraftwerkes unter Verletzung des vorgeschriebenen Verfahrens und damit der
durch die einschlägigen Bestimmungen des Atomgesetzes aufgestellten Verpflichtungen den in § 327 StGB vorgesehenen Sanktionen unterliegt, da ein solcher
Verstoß den Straftatbestand des Innehabens einer stillgelegten kerntechnischen Anlage ohne Genehmigung“636 erfülle. Somit seien die Pflichten zur Stilllegung und
zum Abbau eines Kernkraftwerkes nicht nur in einem Verwaltungsverfahren durchsetzbar, sondern deren Nichtdurchführung sei auch mit strafrechtlichen Sanktionen
belegt.
Demnach erfüllen nach Ansicht des Europäischen Gerichts erster Instanz die
Stilllegungs- und Abbauverpflichtungen alle drei besonderen Anforderungen, die
der BFH an öffentlich-rechtliche Verpflichtungen stelle.
Auch der Einwand, dass die durch das „Steuerentlastungsgesetz“ eingefügten besonderen Vorschriften für Stilllegungsrückstellungen eine selektive Begünstigung
der Kernkraftwerkbetreiber darstelle, wird vom Europäischen Gericht erster Instanz
zurückgewiesen. Zwar regelten § 6 Abs. 3a lit. d S. 3 und § 6 Abs. 3a lit. e S. 3
EStG explizit den Ansammlungs- und den Abzinszeitraum für die Stilllegungsrückstellungen; diese Regelungen begründeten jedoch keine Begünstigung für die Kernkraftwerkbetreiber. Im Gegenteil werde durch die Einfügung des
§ 6 Abs. 3a lit. d S. 3 EStG der Ansammlungszeitraum für die Stilllegungsrückstellungen von 19 auf 25 Jahre verlängert, hierdurch verringere sich der Wert, den
die Kernkraftwerkbetreiber den bereits gebildeten Rückstellungen beimessen, entsprechend, so dass ein Teil der Stilllegungsrückstellungen aufgelöst werden müsse.
Auch die Pflicht zur Abzinsung der Rückstellungen gem. § 6 Abs. 3a lit. e S. 3 EStG
über einen Zeitraum von 25 Jahren auf Grundlage eines Zinssatzes von 5,5 Prozent,
führe zu einer Auflösung eines Teils der bereits gebildeten Rückstellungen und somit zu einer finanziellen Belastung für die Kernkraftwerkbetreiber. Das Steuerentlastungsgesetz schaffe daher zwar Regelungen, die eigens die Rückstellungen für die
Stilllegung von Kernkraftwerken betreffen. Diese Regelungen bezweckten jedoch
vielmehr den Betrag der bereits gebildeten Rückstellungen herabzusetzen und durch
die Auflösung eines Teils der Rückstellungen zusätzliche Steuermittel für den Staat
zu erhalten. Demnach führen die Sondervorschriften für die Stilllegung von Kernkraftwerken lediglich zu Belastungen für die Kernkraftwerkbetreiber, die auf ungefähr 6,9 Milliarden Euro beziffert wurden.637
Auch die im Verfahren vorgebrachte Kritik an der Höhe der Stilllegungs- und
Entsorgungsrückstellungen wird vom Europäischen Gericht erster Instanz nicht geteilt. Es gäbe keine Anhaltspunkte, dass die von den Kernkraftwerkbetreibern gebildeten Rückstellungen außer Verhältnis zu den tatsächlich veranschlagten Kosten für
die Stilllegung und den Abbau der Kernkraftwerke und die Entsorgung der anfallenden radioaktiven Abfälle stehen. Zwar sei die Höhe der Kosten aufgrund der geringen Erfahrung mit der Stilllegung und des teilweise langen Zeitraums bis zur Stilllegung und dem vollständigen Abbau eines Kernkraftwerkes noch ungewiss. Ebenfalls
636 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 86.
637 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 89 ff..
142
sei bislang weder ein Entsorgungskonzept noch ein Entsorgungsstandort beschlossen
worden. Ungewissheit sei jedoch den Rückstellungen immanent. Die Ermittlung der
Höhe der Kosten aufgrund des Stilllegungskostenmodells sei nicht zu beanstanden
und es seien auch die von den §§ 252-256 HGB und § 6 EStG aufgestellten gesetzlichen Bewertungsvorgaben erfüllt worden. Nach Ansicht des Europäischen Gerichts
erster Instanz bestehen daher keine Zweifel, dass die gebildeten Rückstellungen den
tatsächlichen Kosten entsprechen.638
Ebenso wenig führe die freie Verfügbarkeit über die Rückstellungsmittel zu einer
selektiven Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber. Denn Rückstellungen seien
grundsätzlich für alle steuerpflichtigen Unternehmen unabhängig von ihrem Gesellschaftszweck und dem Umfang der fraglichen Beträge frei verfügbar. Die besondere
Höhe der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen entspreche den zukünftigen
finanziellen Belastungen, die auf die Kernkraftwerkbetreiber zukommen. Dass in
§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB normierte Vorsichtsprinzip verlange gerade die Bildung
von Rückstellungen, damit die Bilanz alle vorhersehbaren Belastungen, die zum
Stichtag des Jahresabschlusses entstanden sind, berücksichtigt werden und so der
reale Vermögensbestand des Unternehmens offen gelegt werde. Der Umstand, dass
der hohe Betrag ihrer Rückstellungen den Kernkraftwerkbetreibern einen größeren
Vorteil als andere Unternehmen verschaffe, beruhe auf den tatsächlichen Gegebenheiten des Produktionszweigs und führe zu keiner selektiven Vergünstigung. Das
Europäische Gericht erster Instanz erkennt zwar das Risiko, dass die finanziellen
Mittel im Falle der Stilllegung anderweitig vergeben seien können und unter Umständen wie zum Beispiel bei der Insolvenz eines Kernkraftwerkbetreibers der Staat
einspringen müsse. Dieses Risiko bestehe jedoch bei jeder Rückstellung egal in welchem Unternehmen oder in welchem Wirtschaftszweig. Nach Ansicht des Europäischen Gerichts erster Instanz kann „eine hypothetische Nichterfüllung der Verpflichtungen der Betreiber der Kernkraftwerke bei Fälligkeit daher nicht als Anhaltspunkt
für eine selektive Begünstigung der Kernkraftwerke durch die Steuerregelung betrachtet werden“639. Auch der Umstand, dass „die Kernkraftwerkbetreiber wegen
der erheblichen Höhe der gebildeten Rückstellungen die Möglichkeit haben, für ihre
Investitionen und den Ankauf von konkurrierenden Unternehmen auf eine interne
kostengünstige Finanzierung zurückzugreifen“640 stelle das Fehlen der Selektivität
nicht in Frage.
Das Europäische Gericht erster Instanz folgt in seiner Entscheidung damit weitgehend der Argumentation der Europäischen Kommission und sieht in der steuerlichen Anerkennung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen keine Ausnahme von den allgemeinen Regeln des Steuersystems.
638 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 98 ff.
639 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 110.
640 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 111.
143
c) Eigene Stellungnahme
Die Argumentation, dass die Anerkennung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen eine selektive Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber und damit eine
Beihilfe im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG sei, stützt sich auf vier Punkte.
Zum einen sind nach der Ansicht eines Teils der Literatur bezüglich der Verpflichtungen zur Stilllegung und zum Abbau eines Kernkraftwerkes nicht die Voraussetzungen für die Bildung einer Rückstellung erfüllt. Zum anderen seien durch
das Steuerentlastungsgesetz Sonderregeln im Steuersystem geschaffen worden, die
zu einer selektiven Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber führten. Zudem werden die Höhe sowohl der Stilllegungs- als auch der Entsorgungsrückstellungen und
die Möglichkeit der freien Verfügbarkeit über die Rückstellungsmittel kritisiert.
Diese vier Ansatzpunkte werden im Folgenden näher untersucht.
aa) Nichtvorliegen der Voraussetzungen für die Bildung von Stilllegungsrückstellungen
Der von der Literatur641 vorgebrachte Einwand, dass die Voraussetzungen, die der
BFH an die Bildung von Rückstellungen für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen
gestellt hat, bezüglich der Verpflichtungen zur Stilllegung und zum Abbau der
Kernkraftwerke nicht erfüllt seinen, ist nicht zuzustimmen. Zwar lässt sich dem
Wortlaut des § 7 Abs. 3 S. 1 keine Pflicht zur Stilllegung und zum Abbau der Kernkraftwerke entnehmen, jedoch ergibt sich wie oben bereits ausführlich dargestellt642
aus § 7 Abs. 3 in Verbindung mit § 9a AtG indirekt eine Pflicht zur Stilllegung und
zum Abbau eines Kernkraftwerkes.
Diese Stilllegungs- und Abbaupflichten werden durch die atomrechtlichen Begleitverordnungen und den Leitfaden zur Stilllegung nach § 7 AtG zumindest inhaltlich hinreichend konkretisiert.643
Da allerdings die Kernkraftwerkbetreiber mehrere Möglichkeiten besitzen, die
Stilllegung und den Abbau des Kernkraftwerks hinauszuzögern, bestehen an der
zeitlichen Konkretisierung der Stilllegungs- und Abbaupflichten erhebliche Zweifel.644 Das Zeitbestimmungskriterium sieht der BFH jedoch mittlerweile nicht mehr
als unabdingbare Voraussetzung für die Bildung von Rückstellungen.645 Vielmehr
seien die Konkretisierungserfordernisse lediglich Indizien für das Merkmal „Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme“.646 Vor diesem Hintergrund kann auch bei den
Stilllegungsrückstellungen auf die Einhaltung des Zeitbestimmtheitsmerkmals ver-
641 Hier vor allem: Hermes, ZNER 1999, S. 156 (157); Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310
(316 f.).
642 Siehe oben Drittes Kapitel, C., II., 3./5.
643 Siehe oben Drittes Kapitel, E., II., 1., a).
644 Siehe oben Drittes Kapitel, E., II., 1., b).
645 BFH v. 19.11.2003 I R 77/01, BFHE 204, 135.
646 Ausführlich BFH v. 19.10.1993 VIII R 14/92, BFHE 172, 456 (459).
144
zichtet werden. Denn auch, wenn der Zeitpunkt für die Stilllegung und Beseitigung
von den Betreibern nach hinten verschoben werden kann, bleibt doch festzuhalten,
dass sie zur Stilllegung und zum Abbau verpflichtet bleiben und die dazu erforderlichen Handlungen auch hinreichend genau bestimmt sind. An der Inanspruchnahme
ist schon aufgrund der Kenntnis der zuständigen Aufsichtsbehörde von der Verpflichtung und der großen Öffentlichkeitsaufmerksamkeit nicht zu zweifeln. Demnach liegen die Rückstellungsvoraussetzungen dem Grunde nach vor.
bb) Sondervorschriften
Durch das Steuerentlastungsgesetz wurde zwar mit § 6 Abs. 3a lit. d S. 3 EStG der
Ansammlungszeitraum für die Stilllegungsrückstellungen von 19 auf 25 Jahre verlängert, was zu einer Auflösung von bereits gebildeten Rückstellungen und damit zu
höheren Steuerzahlungen durch die Kernkraftwerkbetreibern geführt hat. Insofern ist
dem Europäischen Gericht erster Instanz zuzustimmen, dass die Kernkraftwerkbetreiber hinsichtlich der alten Rechtslage schlechter gestellt wurden und die neue
Rechtslage gegenüber der alten eine Belastung darstellt.647
Allerdings war die alte Rechtslage, die auf einem Erlass des Bundesfinanzministeriums vom 25. September 1975648 beruhte, sehr umstritten649 und es darf bezweifelt werden, ob die Aufwendungen für die Stilllegung und den Abbau der Kernkraftwerke damit der Periode ihrer wirtschaftlichen Verursachung zugerechnet wurden. Denn zum einen ist fragwürdig, ob es sich bei den Stilllegungsrückstellungen
überhaupt um Ansammlungsrückstellungen oder nicht vielmehr um Einmalrückstellungen handelt.650 Zum anderen ist, auch wenn man von Ansammlungsrückstellungen ausgeht, zweifelhaft, ob der Ansammlungszeitraum von 19 Jahren
dem Grundsatz der zeitgerechten Zuordnung der Rückstellungen entsprach. Denn
vor dem Abschluss der Atomkonsensvereinbarung ging man von einer durchschnittlichen Betriebsdauer von 40 Jahren aus.651 Wenn die Rückstellungen somit
den Einnahmen aus dem Verkauf von Elektrizität zugeordnet werden sollen, würden
den Verkäufen in den ersten 19 Jahren relativ hohe Rückstellungsbeträge zugeordnet
und in den folgenden 21 Jahren gar keine mehr. Durch das Atomausstiegsgesetz
wurde zwar der durchschnittliche Leistungsbetrieb eines Kernkraftwerkes auf maximal 32 Jahren festgelegt und durch § 6 Abs. 3a lit. d S. 3 EStG ist der Ansammlungszeitraum auf 25 Jahre verlängert worden; er entspricht damit jedoch weiterhin nicht der durchschnittlich zu erwartenden Betriebsdauer eines Kernkraftwerks. Es ist zwar die Differenz zwischen dem Ansammlungszeitraum und der
647 Vgl. EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 89 ff.
648 Bundesministerium für Finanzen, Schreiben vom 29. September 1975 – IV B 2 – S 2174 –
36/75; siehe auch Dangelmaier, in: Lukes, 5. Atomrechtssymposium, S. 133 (136f.)
649 Zur Kritik siehe: Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (315).
650 So Heintzen, StuW 2001, S. 71 (72 f.).
651 Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen,
S. 46 ff.
145
durchschnittlichen Betriebsdauer reduziert worden; jedoch stehen den Betreibern die
Rückstellungsgegenwerte immer noch im Durchschnitt sieben Jahre vor ihrem Abfluss zur Verfügung. Dieser Umstand verschafft den Kernkraftwerkbetreibern zusätzliche Zinsgewinne und Liquiditätsvorteile.652 Insofern ist § 6 Abs. 3a lit. d S. 3
EStG eine begünstigende Ausnahme von den allgemeinen Steuerregeln, die grundsätzlich eine zeitgerechte Zuordnung der Rückstellungsbeträge verlangen.
Diese Ausnahmevorschrift ist jedoch entgegen einiger Stimmen in der Literatur653
durch das Vorsichtsprinzip und damit durch ein tragendes Grundprinzip des deutschen Steuerrechts gerechtfertigt. Denn das Vorsichtprinzip verlangt nicht nur, dass
die Rückstellungen im Zweifel eher zu hoch als zu niedrig anzusetzen sind, sondern
auch, dass der Ansammlungszeitraum auf Basis einer vorsichtigen Schätzung festzulegen ist. Dadurch soll sichergestellt werden, dass im Zeitpunkt des tatsächlichen
Kostenanfalls die benötigten Mittel mit hoher Wahrscheinlichkeit in ausreichendem
Maße zur Verfügung stehen. Die Regelung des § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. d S. 3 EStG
trägt diesem Gedanken in einer typisierenden Weise Rechnung, indem sie den Ansammlungszeitraum im Zweifel auf 25 Jahre festlegt. Durch den um 7 Jahre verkürzten Ansammlungszeitraum, werden unter Ausschüttungs- und Steuerbemessungsgesichtspunkten die Weichen dafür gestellt, dass im Zeitpunkt der endgültigen
Stilllegung die benötigten finanziellen Mittel mit hoher Wahrscheinlichkeit angesammelt sind.654 Der Einwand655, dass dadurch das Vorsichtsprinzip überstrapaziert
werde, greift aus mehreren Gründen zu kurz.
Bei der von den Kritikern der Regelung angeführten Betriebsdauer von 32 Jahren
handelt es sich um die der Atomkonsensvereinbarung zu Grunde liegende Regellaufzeit, also um die durchschnittliche maximale Laufzeit der Kernkraftwerke. Sie
wird nur dann erreicht, wenn die für das Kernkraftwerk aus der Gesamtbetriebsdauer
errechnete Reststrommenge tatsächlich erzeugt wird. Dazu besteht aber keine Verpflichtung. Der Kernkraftwerkbetreiber kann sich durchaus dafür entscheiden, ein
Kernkraftwerk früher stillzulegen. Dies kann vielfältige Gründe haben, zum Beispiel
können teure Nachrüstungsverpflichtungen oder ein Störfall ihn vom Weiterbetrieb
des Kernkraftwerks absehen lassen. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1b AtG ermöglicht
den Betreibern in diesen Fällen die Strommengen von dem früher stillgelegten
Kernkraftwerk auf ein anderes Kernkraftwerk zu übertragen, so dass das Gesetz
selbst einen Anreiz dazu gibt, einige vor allem ältere Kernkraftwerke früher als erst
nach 32 Jahren von Netz zu nehmen.656 Eine typisierende Ansammlungsregelung,
die dem Vorsichtsprinzip gerecht wird, muss daher eine volle Rückstellungsdotierung vor Ablauf der maximalen durchschnittlichen Betriebsdauer vorsehen,
damit die benötigten Mittel auch in diesen Fällen rechtzeitig angesammelt sind.657
652 Siehe ausführlich hierzu oben Drittes Kapitel, E., I., 5.
653 Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (316).
654 So auch Kessler, IStR 2006, S. 98 (104).
655 Vgl. Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (316).
656 Müller-Dehn, in: Posser/Schmans/Müller-Dehn, Atomgesetz, § 7b, Rdnr. 6 ff.
657 So auch Kessler, IStR 2006, S. 98 (104).
146
Insoweit besteht eine vergleichbare Problemlage wie bei der planmäßigen Abschreibung. Auch hier begegnet man dem Umstand, dass die gesetzlich normierten
oder von der Finanzverwaltung nach den AfA-Tabellen als typisierender Beurteilungsmaßstab herangezogenen Abschreibungsdauer regelmäßig hinter der im
Durchschnitt zu erwartenden technischen, vielfach sogar hinter der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer der betroffenen Anlagegüter zurückbleiben. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers den Ansammlungszeitraum kürzer festzulegen als die Regellaufzeit, liegt damit auf einer Linie mit der ebenfalls vorsichtsgeprägten Bestimmung steuerlicher Nutzungsdauern von Anlagengütern.658
Fouquet/Uexküll wollen das Vorsichtsprinzip nicht als Begründung für die Diskrepanz zwischen der Regellaufzeit der Kernkraftwerke und dem Ansammlungszeitraum gelten lassen.659 Zwar erkennen sie auch die Gefahr, dass bei einer vorzeitigen Stilllegung die notwenigen Mittel noch nicht angesammelt worden sind und
somit unter Umständen eine Finanzierungslücke entsteht. Sie schlagen jedoch statt
eines verkürzten Ansammlungszeitraum eine Gesetzesänderung vor, die vorsehen
solle, dass gleichzeitig mit der Übertragung der Reststrommenge einen Teil der
Rückstellungen der länger zu betreibenden Anlage auf die kürzer zu betreibende zu
übertragen sei, so dass deren Stilllegung bezahlt werden könne. Diese Gesetzes-
änderung würde allerdings die Aufgabe des Einzelbewertungsgrundsatzes bei den
Stilllegungsrückstellungen der Kernkraftwerkbetreiber bedeuten und damit gegen
ein zentrales Konstruktionselement im handels- und steuerbilanziellen Gewinnermittlungsmodell verstoßen. Denn der Einzelbewertungsgrundsatz verlangt, dass
alle Vermögensgegenstände und Schulden nach ihren individuellen Faktoren zu bewerten sind. Ziel dieses Prinzips ist es, eine Verrechnung unrealisierter Vermögensmehrungen und -minderungen bei unterschiedlichen Bewertungsobjekten zu
verhindern und im Zusammenspiel mit dem Realisations- und Imparitätsprinzip das
Vorsichtsprinzip zur Geltung zu bringen. Wenn Rückstellungen von einem Kernkraftwerk auf ein anderes übertragen würden, käme es zu einer solchen Verrechnung
zwischen den einzelnen Kernkraftwerken. Fouquet/Uexküll plädieren somit mit ihrem Reformvorschlag für einen Systembruch im deutschen Steuerbilanzrecht und
die Schaffung eines Sonderrechts für Stilllegungsrückstellungen. Im Gegensatz zum
Vorschlag von Fouquet/Uexküll fußt die derzeitige gesetzliche Ansammlungsregelung gerade auf dem Einzelbewertungsgrundsatz, da die Stilllegungs- und Abbaukosten für jedes Kernkraftwerk einzeln ermittelt und bewertet werden. Insofern
fügt sich die geltende Ansammlungsregelung besser in das deutsche Steuersystem
ein.660
Für die geltende Ansammlungsregelung spricht zudem, dass die Stilllegungsverpflichtungen zum einen auf Basis der Preisverhältnisse am Stichtag zu bewerten und
zum anderen abzuzinsen sind. Der laufende Betrieb der Anlage muss neben den
jährlich den Rückstellung zuzuführenden Anteil an den gesamten Stilllegungs- und
Abbaukosten zusätzlich die Aufzinsung des Vorjahresbetrags sowie einen etwaigen
658 Vgl. Kessler, IStR 2006, S. 98 (104).
659 Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (315).
660 Siehe Kessler, IStR 2006, S. 98 (104).
147
Aufstockungsbetrag wegen zwischenzeitlicher Preissteigerungen alimentieren. Dieses Bewertungsschema ist besonders in Zeiten steigender Preise alles andere als vorsichtig. Es führt in der Anfangsphase der Rückstellungsbildung zu einer relativ niedrigen Vorsorge und in der Endphase steigen die Rückstellungszuführungen progressiv an. Die damit verbundene Gefahr, dass die finanziellen Mittel bei einer vorzeitigen Stilllegung nicht vorhanden sind, lässt sich durch einen verkürzten Ansammlungszeitraum und dem damit verbundenen zeitlich beschleunigten Rückstellungsaufbau reduzieren. Er führt zu höheren jährlichen Zuführungen, die den Effekt aus der Abzinsung und Nichtberücksichtigung künftiger Kostensteigerungen
teilweise kompensieren. Somit wird deutlich, dass der gegenüber der Regellaufzeit
der Kernkraftwerke um sieben Jahre verkürzte Ansammlungszeitraum auch der besonderen steuerlichen Bewertungsmethodik für die Stilllegungsrückstellungen geschuldet ist. Vor diesem Hintergrund ist die vorsichtsgeprägte Typisierung des Ansammlungszeitraums durch § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. d S. 3 EStG mit der Struktur und
der inneren Natur des deutschen Steuersystems zu rechtfertigen.661
Auch der von Heintzen662 vorgebrachte Einwand, grundsätzlich sei für die Stilllegung und den Abbau von Kernkraftwerken eine Einmalrückstellung zu bilden und
nur aufgrund der Sonderregel des § 6 Abs. 3a lit. d S. 3 EStG dürften die Stilllegungsrückstellungen gleichmäßig über 25 Jahre hinweg angesammelt werden, ist
nicht zutreffend. Es ist zwar richtig, dass nach den allgemeinen handelsrechtlichen
Bewertungsvorschriften und der BFH-Rechtsprechung eine Einmalrückstellung für
die Stilllegung und den Abbau von Kernkraftwerken zu bilden wäre, da die Verpflichtung zur Stilllegung und zum Abbau rechtlich schon mit der Inbetriebnahme
voll entstanden ist.663 Heintzen verkennt jedoch, dass der Gesetzgeber durch das
„Steuerentlastungsgesetz“ mit § 6 Abs. 3a lit. d S. 1 EStG eine von den handelsrechtlichen Vorschriften abweichende steuerliche Bewertungsvorschrift für Verbindlichkeitsrückstellungen geschaffen hat.664 Hiernach sind alle Verbindlichkeitsrückstellungen, für deren Entstehen im wirtschaftlichen Sinne der laufende Betrieb
ursächlich ist, jährlich in Raten anzusammeln. Diese besondere steuerliche Bewertungsregel soll die so genannten unechten Ansammlungsrückstellungen erfassen.665
Hierunter fallen Verpflichtungen, deren Verpflichtungsumfang von Anfang an feststeht und nicht jährlich anwächst und die mit dieser Verpflichtung in Zusammenhang stehenden Erträge erst zukünftig anfallen.666 Als Beispiel hierfür nennt die Gesetzesbegründung Abbruchverpflichtungen.667 Damit fallen auch die Stilllegungsund Abbauverpflichtungen unter § 6 Abs. 3a lit. d S. 1 EStG, denn auch bei ihnen
steht der Umfang der Verpflichtung bereits mit der Inbetriebnahme des Kernkraft-
661 Siehe Kessler, IStR 2006, S. 98 (105).
662 Heintzen, StuW 2001, S. 71 (72).
663 Siehe oben Drittes Kapitel, E., II., 4.
664 Deren Ziel es nach der Gesetzesbegründung war die Praxis der Ansammlungsrückstellungen
gegen die BFH-Rechtsprechung zu schützen. Vgl. BT-Drucksache 14/23, 170.
665 Hiby, in: Lippross, Steuerrecht, § 6 EStG, Rdnr. 321.3.
666 Ortmann-Babel, in: Lademann, EStG, § 6, Rdnr. 864d.
667 BT-Drucksache 14/443, S. 23 f.
148
werkes fest und wächst nicht mehr über die Betriebsdauer an.668 Die Erträge fallen
jedoch erst mit dem Verkauf der produzierten Energie an. Da § 6 Abs. 3a lit. d S. 1
EStG für alle Unternehmen und Produktionszweige gleichermaßen gilt, stellt diese
Vorschrift eine allgemeine Regelung dar. Somit wären die Rückstellungen für die
Stilllegung und den Abbau von Kernkraftwerken auch ohne die Sonderregel des § 6
Abs. 3a lit. d S. 3 EStG steuerlich in gleichen Raten anzusammeln. § 6 Abs. 3a lit. d
S. 3 EStG legt lediglich den Ansammlungszeitraum für die Stilllegungsverpflichtung
auf 25 Jahre fest, wenn der Zeitpunkt der Stilllegung nicht feststeht. Diese Sondervorschrift ist, wie oben gezeigt669, durch das Vorsichtsprinzip des deutschen Steuerrechts gerechtfertigt, so dass hierin keine selektive Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber zu sehen ist.
Die von einigen in der Literatur670 außerdem kritisierte Regelung des §§ 52
Abs. 16 S. 14 i. V. m. S. 11 EStG stellt eine Übergangsregelung dar. Sie soll die
Folgen der neu eingeführten Abzinspflicht, die gem. § 52 Abs. 16 S. 7 EStG auch
auf bereits gebildete Rückstellungen anwendbar ist, abmildern. Hierdurch soll verhindert werden, dass die betroffenen Unternehmen die Rückstellungen mit einem
Schlag auflösen müssen und dadurch in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Die
Regelung begünstigt insofern die betroffenen Unternehmen. Die Regelung gilt jedoch gem. §§ 52 Abs. 16 S. 14 i. V. m. S. 11 EStG für alle vom neuen Abzinsgebot
für Verbindlichkeiten und Rückstellungen betroffenen Unternehmen. Sie ist somit
nicht selektiv begünstigend nur für die Kernkraftwerkbetreiber. Auch ist eine solche
Übergangsregelung, die die Folgen einer Neuregelung abmildern soll, mit der Natur
des deutschen Steuersystems vereinbar.
cc) Höhe der Rückstellungen
Die absolute Höhe der von den Kernkraftwerkbetreibern gebildeten Stilllegungsund Entsorgungsrückstellungen ist in der Literatur stark kritisiert worden.671
Es wird der Vorwurf erhoben, dass sowohl die Stilllegungs- als auch die Entsorgungsrückstellungen zu hoch angesetzt seien. Hiergegen muss jedoch eingewandt
werden, dass die Bewertungsvorschriften der §§ 252–256 HGB und § 6 EStG von
den Kernkraftwerkbetreibern, wie oben ausführlich dargelegt, eingehalten wurden.672 Inwiefern die einzelnen Kostenposten betriebswirtschaftlich korrekt abgeschätzt worden sind, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht überprüft werden. Hierfür
fehlen nähere Kenntnisse über das im Einzelfall verfolgte Stilllegungs- und Entsorgungskonzept, über die zu ihrer Umsetzung erforderlichen Maßnahmen und über die
durch sie verursachten Aufwendungen. Diese Informationen sind jedoch öffentlich
nicht zugänglich.
668 Zumindest nicht mehr im relevanten Maße.
669 Siehe oben Drittes Kapitel, F., II., 3., c), bb).
670 Vgl. Hermes, ZNER 1999, S. 156 (167 f.).
671 Siehe Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (318); Hermes, ZNER 1999, S. 156 (166 f.).
672 Siehe oben Drittes Kapitel, E., III.
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Diese Intransparenz gibt zwar Anlass zur Kritik. Sie begründet aber nicht den
Verdacht einer überhöhten Rückstellungsbildung. Zumal die zuständigen Landesfinanzbehörden die Möglichkeit haben, die erfolgten Kostenschätzungen nachzuprüfen und diese bislang nicht beanstandet haben. Inwiefern sie sich dabei auf
Gutachten der NIS GmbH und den Aussagen der Wirtschaftsprüfer stützt, kann in
dieser Arbeit nicht überprüft werden und fällt auch weitgehend in das Ermessen der
Landesfinanzbehörden. Aufgrund ihres fiskalischen Interesses an einer möglichst
niedrigen Rückstellungshöhe besteht auch kein Anlass, an der ordnungsgemäßen
Ermessensausübung zu zweifeln.
Der Hinweis, dass im Ausland die Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen
niedriger seien, kann nicht als Beleg für zu hoch angesetzte Rückstellungen dienen.
Denn ein Vergleich zwischen den Kostenschätzungen in Deutschland und in anderen
Ländern könnte allenfalls dann eine Aussagekraft entnommen werden, wenn diesen
Schätzungen ein übereinstimmendes Stilllegungs- und Entsorgungskonzept zu
Grunde läge. Die einzelnen Länder haben jedoch sehr unterschiedliche Stilllegungsund Entsorgungskonzepte.673 Insbesondere die in allen Ländern bislang noch ungelöste Endlagerproblematik bestimmt dabei entscheidend die Höhe der geschätzten
Kosten. Eine Aussage welches Land diese am korrektesten vornimmt, lässt sich
kaum machen.674 Nicht zuletzt existieren in den einzelnen Ländern sehr unterschiedliche methodische Bewertungsmaßstäbe, die in den national divergierenden Steuerrechtsordnungen begründet sind und einen erheblichen Einfluss auf die Höhe der
Rückstellungen haben.675
Demnach gibt es keine Anhaltspunkte, dass der Betrag, der von den Kernkraftwerkbetreibern unter der gemeinsamen Kontrolle der Wirtschaftsprüfer und der zuständigen Länderfinanzbehörden gebildeten Rückstellungen außer Verhältnis zu den
tatsächlich anfallenden Kosten für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle und die
Erfüllung der Verpflichtungen aufgrund der Stilllegung und des Abbaus der Kernkraftwerke steht.676
dd) Freie Verfügbarkeit
Von einigem Gewicht ist die Argumentation von Hermes677, dass die immense Höhe
der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen und deren lange Laufzeit einen
„qualitativen Sprung“678 im Hinblick auf deren freie Verfügbarkeit bewirke, der mit
dem allgemeinen System der Rückstellungsbildung nicht mehr zu vereinbaren sei,
673 Siehe ausführlich Wuppertal Institute for climate, environment and energy, Comparison
among different decommissioning funds methodologies for nuclear installations, Final Report, S. 24.
674 Vgl. Drasdo, Kosten der Endlagerung radioaktiver Abfälle, S. 193 ff.
675 Siehe Kessler, IStR 2006, S. 98 (106).
676 So auch EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 111; ders, RdE 2006, S. 192 (194).
677 Hermes, ZNER 1999, S. 156 (167 f. )
678 Hermes, ZNER 1999, S. 156 (167).
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so dass in deren Anerkennung eine selektive Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber liege.679
Zunächst ist insofern allerdings einzuwenden, dass Rückstellungen, gleichgültig
für welche Verbindlichkeit, gleich welcher Höhe und gleichgültig, von wem sie angelegt werden, gem. § 249 Abs. 3 S. 2 HGB prinzipiell frei verfügbar sind. Dieser
Umstand wirkt sich bei den Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen aufgrund
ihrer enormen Höhe und der langen Laufzeit besonders vorteilhaft für die Kernkraftwerkbetreiber aus. Sie erhalten hierdurch kostengünstige Innenfinanzierungsmöglichkeiten und damit ohne Zweifel einen großen Wettbewerbsvorteil gegenüber
konkurrierenden Energieanbietern.680 Wenngleich dieser Vorteil heftig kritisiert
wird und auch Änderungsvorschläge vorgebracht werden, ergibt er sich aus der Anwendung der allgemeinen Rückstellungsregeln und stellt keine nur bestimmte Produktionszweige begünstigende Ausnahme dar.
Der Umstand, dass sich dieser Vorteil für die Kernkraftwerkbetreiber besonders
stark auswirkt, liegt im System begründet. Denn die Rückstellungshöhe bildet das
Äquivalent zu den mit dieser Summe abzusichernden Verbindlichkeiten, die bei der
Stilllegung und beim Abbau eines Kernkraftwerks und bei der Entsorgung der radioaktiven Abfälle gerade besonders hoch sind. Solche, auf tatsächlichen Gegebenheiten eines Produktionszweiges beruhende und lediglich der Rückstellungshöhe
nach bestehende Unterschiede bei der Anwendung von allgemeinen Regeln impliziert für sich genommen nicht die Selektivität einer Begünstigung.681 So nehmen
beispielsweise Regelungen, die die Besteuerung der Arbeit für alle Unternehmen
verringern und damit zugleich für arbeitsintensive Industriezweige eine höhere Entlastung als für kapitalintensive Unternehmen bewirken, nicht allein hierdurch den
Charakter einer Beihilfe an.682 Hinzutreten muss vielmehr, dass die Maßnahme von
den Regeln des allgemeinen Steuersystems abweicht. Rein tatsächliche Auswirkungen reichen für die Begründung einer „selektiven Begünstigung“ nicht aus.
Auch der von Reich/Helios683 vorgebrachte Einwand, die Anerkennung von Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen verstoße gegen das Vorsichtsprinzip, überzeugt nicht. Denn der Anwendungsbereich des Vorsichtsprinzips für die Bilanz erstreckt sich ausschließlich auf Fragen der Bilanzierung und Bewertung.684 Zur Art
und Weise der Verwendung der Rückstellungsmittel, enthält das Bilanzrecht keine
Beschränkungen. Der Gläubigerschutz wird im Bereich der Verwendung lediglich
durch Informationen gewährleistet. Die Bilanz selbst dient dem Kaufmann zur
Selbstinformation und soll ihn zwingen, in regelmäßigen Abständen sich ein Bild
679 Siehe. Kühling, RdE 2001, S. 93 (101).
680 Siehe zu den wirtschaftlichen Konsequenzen der Rückstellungsbildung oben Drittes Kapitel,
E., I., 5.
681 So Kühling, RdE 2001, S. 93 (101).
682 Vgl. Mitteilung der Kommission über Beihilfenüberwachung und Senkung der Arbeitskosten,
ABl. 1997 C 1/10, 12, Rdnr. 11 ff.; Entscheidung der Kommission vom 3.07.2001, Beihilfe N
232/01, Abl. 2001 C 268/5, dem zustimmend v. Wallenberg, in: Grabitz/Hilf, EU, Art. 87,
Rdnr. 45.
683 Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (48).
684 Kessler, IStR 2006, S. 98 (107).
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von seinen Vermögensverhältnissen zu machen. Dadurch soll seine Insolvenz vermieden und Dritte vor deren negativen Folgen geschützt werden.685 Bei Kapitalgesellschaften kommt zu diesem Informationszweck der Bilanz die Ausschüttungsbegrenzungsfunktion hinzu. Danach dürfen nur erwirtschaftete Vermögenszuwächse
als Gewinne an die Gesellschafter verteilt werden, die dem Unternehmen mit Rücksicht auf Gläubigerinteressen ohne Bedenken entziehbar sind.686 Von weitergehenden Verfügungsbeschränkungen hat der Gesetzgeber abgesehen. Zwar können die
fehlenden Verfügungsbeschränkungen letztlich im Insolvenzfall zu einer Einstandspflicht der Bundesrepublik Deutschland führen. Diese Gefahr besteht aber bei allen
öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen und insbesondere bei den Umweltschutzverpflichtungen und ist damit keine Ausnahme vom allgemeinen System, sondern eine
systemimmanente Gefahr. Zu einer selektiven Begünstigung führt sie somit nicht.
Eine ganz andere Frage ist, ob der Gesetzgeber de lege ferenda die Einführung
von Verfügungsbeschränkungen für die Rückstellungsgegenwerte erwägen sollte.
Sie ist weniger bilanzrechtlicher als vielmehr ordnungspolitischer Natur und betrifft
ein mehrschichtiges Problem. Dieses soll umfassend im fünften Kapitel687 behandelt
werden.
ee) Zusammenfassung
Demnach ist zwar das Wettbewerbsrecht des EG-Vertrages auch für den Bereich der
Atomenergie anwendbar. Die steuerliche Anerkennung von Rückstellung für die
Entsorgung von radioaktiven Abfällen und die Stilllegung und den Abbau von
Kernkraftwerken erfüllt aber nicht den Tatbestand einer Beihilfe gem. Art. 87 Abs. 1
EG, da sie keine selektive Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber darstellt.688
1. Entgegen den Einwänden erfüllen die Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen sowohl die allgemeinen als auch die besonderen Rückstellungsvoraussetzungen für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen.
2. Auch die durch das Steuerentlastungsgesetz eingeführten Sonderregeln führen nicht zu einer selektiven Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber. Sie
sind mit dem deutschen Steuersystem vereinbar und führen nicht zu einer
systemwidrigen Bevorzugung der deutschen Kernkraftwerkbetreiber.
3. Ob die Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen zu hoch angesetzt
worden sind, kann mangels entsprechender Informationen nicht beurteilt
werden. Die regelmäßigen Kontrollen durch die Wirtschaftsprüfer und die
zuständigen Länderfinanzbehörden legen jedoch den Schluss nahe, dass die
Höhe der Rückstellungen korrekt ermittelt worden ist.
4. Auch die fehlenden Verfügungsbeschränkungen über die Rückstellungen
können keine selektive Begünstigung der deutschen Kernkraftwerkbetreiber
685 Siehe zu den Zwecken der Bilanz Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzen, S. 85.
686 Hüffer, in: Staub, § 242, Rdnr. 8.
687 Siehe unten Fünftes Kapitel, B.
688 So auch EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 111; ders, RdE 2006, S. 192 (194).
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begründen, da die freie Verfügbarkeit über Rückstellungen dem deutschen
Steuersystem immanent ist.
Demzufolge ist die Rückstellungspraxis der deutschen Kernkraftwerkbetreiber sowohl mit dem nationalen als auch mit dem europäischen Recht vereinbar.
G. Zusammenfassung der deutschen Finanzierungsvorsorge
Die finanzielle Verantwortung für alle bei der Stilllegung und Entsorgung anfallenden Kosten tragen in Deutschland die Betreiber der Kernkraftwerke. Sie sind nach
deutschem Recht dazu verpflichtet, für die größtenteils erst in mehreren Jahren bzw.
sogar Jahrzehnten anfallenden Kosten auf zwei Wegen Vorsorge zu betreiben.
An den laufenden Ausgaben für die Planung und Errichtung von Endlagern werden die Kernkraftwerkbetreiber gem. § 21b Abs. 2, 3 AtG in Verbindung mit der
Endlagervorausleistungsverordnung in Form von Vorausleistungen auf die Beiträge
für die Investitionskosten der Endlager beteiligt. Diese Vorausleistungen werden mit
den in Zukunft nach § 21b AtG zu zahlenden Beiträgen verrechnet. So müssen die
Kernkraftwerkbetreiber bereits Jahrzehnte vor dem Entstehen der eigentlichen Beitragspflicht Vorauszahlungen an den Staat abführen. Die rechtlichen Einwände gegen diese Art der Finanzierungsvorsorge wurden durch die Novellierung der Endlagervorausleistungsverordnung im Jahr 2002 weitgehend beseitigt, so dass die Finanzierung über Vorausleistungen mittlerweile den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht. Hieran hat auch die Änderung des Entsorgungskonzeptes nichts ge-
ändert.
Für den weit überwiegenden Teil der Stilllegungs- und Entsorgungskosten betreiben die deutschen Kernkraftwerkbetreiber Vorsorge durch bilanzielle Berücksichtigung in Form von Rückstellungen. Die mit dieser Form der Finanzierungsvorsorge verbundenen Zins- und Liquiditätsvorteile haben allerdings Zweifel an der
rechtlichen Zulässigkeit der Rückstellungspraxis aufkommen lassen. Die Rückstellungspraxis der Kernkraftwerkbetreiber erfüllt aber, wie oben gezeigt, die handels- und steuerrechtlichen Vorgaben und verstößt nicht gegen das europäische Beihilferecht. Insofern ist die Kritik zurückzuweisen.
Der Großteil der Finanzierungsvorsorge basiert damit auf der unternehmensinternen Lösung durch bilanztechnische Berücksichtigung in Form von Rückstellungen, die durch die Vorausleistungen nach der Endlagervorausleistungsverordnung lediglich ergänzt und unterstützt wird. Da nach deutschem Recht die
Rückstellungen für die Unternehmen frei verfügbar bleiben, ist die Finanzierungsvorsorge damit weitgehend von der Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft der
Kernkraftwerkbetreiber im Bedarfsfall abhängig. Insbesondere das hiermit verbundene Finanzierungsrisiko, aber auch die mit der Rückstellungsbildung zusammenhängenden Wettbewerbsverzerrungen sind zwei Kritikpunkte am deutschen Finanzierungssystem, auf die im fünften Kapitel noch mal näher eingegangen wird.689
689 Siehe unten Fünftes Kapitel, B.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die nukleare Entsorgung und die Stilllegung von Kernkraftwerken ist nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Die hohen Kosten und der lange Zeitraum, über den sich die notwendigen Stilllegungs- und Entsorgungsmaßnahmen erstrecken, stellen besondere Anforderungen an die finanzielle Vorsorge.
Dieses Buch analysiert die gesetzlichen Vorschriften, nach denen in Deutschland und der Schweiz finanzielle Vorsorge für die Stilllegung und Entsorgung betrieben wird, da diese beiden Länder unterschiedliche Wege gewählt haben, die weltweit exemplarisch für die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Problem sind. In Deutschland basiert die Finanzierungsvorsorge auf einer unternehmensinternen Lösung durch die Bildung von Rückstellungen bei den kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen. Diese Art der Finanzierungsvorsorge führt zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber. Inwieweit diese mit dem nationalen und dem europäischen Recht vereinbar sind, bildet ein Schwerpunkt dieses Buchs. Ein anderer Schwerpunkt ist der Vergleich mit dem unternehmensexternen Finanzierungssystem, das die Schweiz zur Finanzierungsvorsorge gewählt hat.