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B. Rechtsgrundlagen des deutschen Atomrechts
Das deutsche Atomrecht ist durch ein Geflecht nationaler und internationaler Normen gekennzeichnet. Auf nationaler Ebene sind das Gesetz über die friedliche Nutzung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz)68 sowie die
hierzu ergangenen atomrechtlichen Rechtsverordnungen69 von grundlegender Bedeutung. Neben den speziellen atomrechtlichen Normen enthalten insbesondere die
Grundrechte und einige Normen des Verwaltungs- und Privatrechts wichtige normative Vorgaben. Diese werden ergänzt und zum Teil auch beeinflusst durch zahlreiche europa- sowie völkerrechtliche Normen. Vor allem der Vertrag zur Gründung
der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) vom 25. März 195770 (im folgenden EAG-Vertrag) in dem die Mitgliedsstaaten, eine Vielzahl ihrer Souveränitätsrechte im Bereich der friedlichen Nutzung der Kernenergie an die Gemeinschaft
übertragen haben, aber auch das sonstige Gemeinschaftsrecht spielt für das deutsche
Atomrecht eine wichtige Rolle.
I. Entwicklung des Atomrechts in Deutschland bis 1998
Bis 1955 untersagten die alliierten Besatzungsmächte die Nutzung der Kernenergie
in Deutschland.71 Erst nach der Aufhebung dieses grundsätzlichen Verbots konnte
der Deutsche Bundestag am 23. Dezember 1959 mit dem deutschen Atomgesetz die
rechtliche Grundlage für die Nutzung der Kernenergie in Deutschland schaffen.72
Unmittelbar vor der Verabschiedung des Atomgesetzes wurde vom Bundestag am
gleichen Tag ein Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes beschlossen. Dieses wies
dem Bund in Art. 74 Nr. 11b GG73 die konkurrierende Zuständigkeit für „die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken, die Errichtung und den
Betrieb von Anlagen, die diesen Zwecken dienen, den Schutz gegen Gefahren, die
bei Freiwerden von Kernenergie oder durch ionisierende Strahlen entstehen, und
die Beseitigung radioaktiver Stoffe“ zu und eröffnete die Möglichkeit der Bundesauftragsverwaltung für die auf dieser Grundlage ergehenden Gesetze (Art. 87 c
68 Gesetz über die friedliche Nutzung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren
(Atomgesetz) vom 23.12.1959 (BGBl I. S. 814) in der Fassung der Bekanntmachung vom
15.07.1985 (BGBl. I. S. 1565) zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 12.08.2005 (BGBl. I. S. 2365).
69 Straßburg, in: Michaelis/Salander, Handbuch Kernenergie, S. 670.
70 Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. März 1957
(BGBl. 1957 II S. 1014) in der Fassung des Europäischen Unionsvertrages vom 7. Februar
1992, BGBl. 1992 II S. 1253 (1286); zuletzt geändert durch die Akte zum Beitrittsvertrag
vom 16. April 2003 (BGBl. 2003 II S. 1410).
71 Posner, Kernenergie, S. 26; Straßburg, in: Michaelis/Salander, Handbuch Kernenergie,
S. 671.
72 Straßburg, in: Michaelis/Salander, Handbuch Kernenergie, S. 670.
73 Heute in geänderter Fassung in Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG.
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GG).74 Die Grundgesetzänderung trat zugleich mit dem Atomgesetz am 1. Januar
1960 in Kraft.75
Bei den Arbeiten zum Atomgesetz in den Jahren 1956 bis 1959 bestand die
Hauptintention darin, unter Sicherstellung des Schutzes von Leben, Gesundheit und
Sachgütern sowie der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland Möglichkeiten für die Wirtschaft und Wissenschaft zu schaffen, sich auf dem
Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu betätigen.76 Das Atomgesetz erfüllte dafür neben einer Schutz-77 auch eine Förderfunktion78, ohne jedoch konkrete
Förderprogramme zu enthalten. Im Mittelpunkt standen Regelungen über die Errichtung und den Betrieb von kerntechnischen Anlagen und den Umgang mit radioaktiven Stoffen während des Betriebs. Nach der Konzeption des Atomgesetzes sollte der
Staat sich auf eine Aufsichtsfunktion beschränken und die Privatwirtschaft bei der
Nutzung der Kernenergie fördern und kontrollieren.
Die Frage der Stilllegung und Entsorgung wurde im Atomgesetz von 1959 noch
weitgehend vernachlässigt. Erst als der gesellschaftliche Protest gegen die Nutzung
der Kernenergie in Deutschland in den 70er Jahren zunehmend stärker wurde, tauchten immer häufiger Fragen zu den Risiken und den Gefahren der Stilllegung und
Entsorgung auf. Daraufhin wurden 1976 eigene Regelungen bezüglich der Stilllegung und Entsorgung durch die Einfügung des § 7 Abs. 3 AtG und der §§ 9a–9c in
das Atomgesetz79 sowie durch die Strahlenschutzverordnung80 geschaffen.81 Hierdurch wurde die Grundlage für ein integriertes Entsorgungssystem in Deutschland
gelegt.
Die Verantwortung für die Stilllegung und Beseitigung der kerntechnischen Anlagen wurde der Privatwirtschaft auferlegt, während der Staat die Verantwortung für
die Endlagerung der radioaktiven Abfälle übernahm. Hierauf basierend entwickelte
die deutsche Bundesregierung in den folgenden Jahren zusammen mit den Kernkraftwerkbetreibern ein umfassendes Entsorgungskonzept für die radioaktiven Abfälle.82 Dieses hatte bis zur Bundestagswahl 1998 weitgehend Bestand. Nach dem
Regierungswechsel im Herbst 1998 wurde erstmals eine Bundesregierung gebildet,
die die Nutzung der Kernenergie ablehnte und einen möglichst schnellen Ausstieg
74 Nachdem Zweifel an dem verfassungsgemäßen Zustandekommen des Atomgesetzes aufgrund
dessen Verabschiedung am gleichen Tage wie die Änderung des Grundgesetzes aufgekommen waren, wurde zur Erledigung dieser Streitfrage das „Gesetz zur Bereinigung von Verfahrensmängeln beim Erlaß einiger Gesetze“ vom 25. März 1974 (BGBl 1974 I, 769) erlassen.
Siehe hierzu. Fischerhof, AtG, Einf. Rdnr. 33.
75 BGBl. 1959 I, 813.
76 Bundestags-Drucksache 2/3026, S. 17/759, S. 18.
77 Vgl. § 1 Nr. 2 AtG (1959).
78 Vgl. § 1 Nr. 1 AtG (1959).
79 Viertes Gesetz zur Änderung des Atomgesetz vom 30.08.1976 (BGBl 1976 I 2573)
80 Verordnung über den Schutz vor Schäden durch ionisierende Strahlen (Strahlenschutzverordnung) vom 13.10.1976 (BGBl 1976 I 2905).
81 Rabben, Rechtsprobleme der atomare Entsorgung, S. 1.
82 Siehe hierzu ausführlich im Dritten Kapitel, C., I., 3., a).
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anstrebte.83 Nach Verhandlungen mit der Energiewirtschaft unterzeichnete die neue
Bundesregierung dann gemeinsam mit den großen Energieversorgungsunternehmen
am 11. Juni 2000 eine Vereinbarung84, die den geordneten Ausstieg aus der Nutzung
der Kernenergie vorsah.
II. Die aktuelle Rechtslage nach dem Atomausstiegsgesetz
Die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 11. Juni 2000 wurde durch die Novelle zum Atomgesetz vom 22. März
2002, dem sog. „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur
gewerblichen Erzeugung von Elektrizität (Atomausstiegsgesetz)“85 umgesetzt. Wesentliche Neuerungen des Atomgesetzes waren die Streichung des Förderzwecks,
die Begrenzung der Gesamtlaufzeit der Anlagen auf rund 32 Jahre86, das Verbot des
Neubaus von Kernkraftwerken87 und das Verbot der Wiederaufarbeitung.88 Damit
wurde der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie gesetzlich festgeschrieben.
Dazu entwickelte die Bundesregierung ein neues Entsorgungskonzept, das zum einen darauf setzte, durch einen möglichst raschen Ausstieg den Anfall von weiteren
Mengen radioaktiver Abfälle zu vermindern und zum anderen die bereits angefallenen und die noch anfallenden radioaktiven Abfälle auf Kosten der Kernkraftwerkbetreiber in einem Endlager sicher zu entsorgen.89 Vor diesem Hintergrund
wird besonders die Frage der Finanzierung und Finanzierungsvorsorge für die Stilllegung und Beseitigung aktuell.
C. Finanzierung der Stilllegungs- und Entsorgungskosten
Um die Finanzierungsvorsorge für die Stilllegung von Kernkraftwerken und die Entsorgung der radioaktiven Abfälle in Deutschland untersuchen zu können, muss vorab der Frage nachgegangen werden, wer nach deutschem Recht zur Stilllegung und
zur Beseitigung der Kernkraftwerke und zur Entsorgung der radioaktiven Abfälle
verpflichtet ist und wer die finanzielle Verantwortung hierfür zu tragen hat. Das
83 Siehe Hennenhöfer, in: Posser/Schmans/Müller-Dehn, AtG, S. 8.
84 Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen vom 11.
Juni 2000, abgedruckt in: Posser/Schmans/Müller-Dehn, AtG, S. 285 ff.
85 Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von
Elektrizität vom 22.04.2002 (BGBl. 2002, S. 1351 ff.).
86 Vgl. § 7 Abs. 1a Satz 1 AtG. Nach dem die Berechtigung zum Leistungsbetrieb erlischt,
wenn die in Anlage 3 Spalte 2 für jedes Kernkraftwerk individuell festgelegte Reststrommenge produziert worden ist.
87 Vgl. § 7 Absatz 1 Satz 2 AtG. Hierdurch wurde die Genehmigung von Neuanlagen verboten.
88 Vgl. § 9a Absatz 1 Satz 2 AtG. Die Wiederaufarbeitung wurde ab dem 1. Juli 2005 verboten.
Bis dahin durften die Verträge mit den Wiederaufarbeitungsanlagen die Frankreich und in
Großbritannien erfüllt werden.
89 Zur neuen Entsorgungsstrategie der Bundesregierung siehe Drittes Kapitel, I., 3.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die nukleare Entsorgung und die Stilllegung von Kernkraftwerken ist nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Die hohen Kosten und der lange Zeitraum, über den sich die notwendigen Stilllegungs- und Entsorgungsmaßnahmen erstrecken, stellen besondere Anforderungen an die finanzielle Vorsorge.
Dieses Buch analysiert die gesetzlichen Vorschriften, nach denen in Deutschland und der Schweiz finanzielle Vorsorge für die Stilllegung und Entsorgung betrieben wird, da diese beiden Länder unterschiedliche Wege gewählt haben, die weltweit exemplarisch für die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Problem sind. In Deutschland basiert die Finanzierungsvorsorge auf einer unternehmensinternen Lösung durch die Bildung von Rückstellungen bei den kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen. Diese Art der Finanzierungsvorsorge führt zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber. Inwieweit diese mit dem nationalen und dem europäischen Recht vereinbar sind, bildet ein Schwerpunkt dieses Buchs. Ein anderer Schwerpunkt ist der Vergleich mit dem unternehmensexternen Finanzierungssystem, das die Schweiz zur Finanzierungsvorsorge gewählt hat.