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III. Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen
Die Bewertung von Rückstellungen richtet sich nach den allgemeinen Bewertungsvorschriften in den §§ 252 – 256 HGB und den in §§ 5, 6 EStG geregelten steuerlichen Sondervorschriften. Gegenstand der Bewertung sind bei Rückstellungen alle
eindeutig abgrenzbaren Einzelrisiken, § 253 Abs. 1 S. 3 HGB. Demnach müssen die
Stilllegungs-, Abbau- und Entsorgungskosten für jedes Kernkraftwerk einzeln bewertet werden.
Die Bewertung und insbesondere die Höhe, der von den Kernkraftwerkbetreibern
gebildeten Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen ist in letzter Zeit zunehmend angezweifelt worden.452 Dieser Aspekt der Thematik hat eine enorme Brisanz, da die zurückgestellten Beträge die üblichen Rückstellungsdimensionen bei
weitem sprengen.453
1. Höhe der Rückstellungen
Rückstellungen sind wie Verbindlichkeiten nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG in entsprechender Anwendung von § 6 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu bewerten. Das bedeutet eine
Bewertung zum vermeintlichen Erfüllungsbetrag, also dem Geldbetrag, der zur Erfüllung der Verpflichtung wahrscheinlich erforderlich ist.454
Da die Kosten für die Stilllegung und Entsorgung im Erfüllungszeitpunkt noch
ungewiss sind, sind für die Ermittlung der Höhe der zu bildenden Rückstellungen
Schätzungen unvermeidbar. Der Schätzungsspielraum wird durch § 253 Abs. 1 S. 2
HGB eingegrenzt. Hiernach sind Rückstellungen nur in Höhe des Betrages anzusetzen, der nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendig ist. Das Wort
„nur“ bedeutet, dass die Bildung von stillen Reserven durch zu hoch angesetzte
Rückstellungen nicht erlaubt ist.455 Nach dem Grundsatz der Vorsicht gem. § 252
Abs. 1 Nr. 4 HGB soll zwar stets der höchste Betrag angenommen werden, dies allerdings nur unter der Voraussetzung gleicher Eintrittswahrscheinlichkeit. Ansonsten ist der Betrag maßgeblich der am wahrscheinlichsten ist.456
a) Ermittlung der Höhe der Stilllegungs- und Abbaukosten
Bei der Ermittlung des Erfüllungswertes für die Verpflichtung zur Stilllegung und
zum Abbau von Kernkraftwerken besteht die Schwierigkeit, die in einem erst weit in
der Zukunft liegenden Zeitpunkt aufzubringenden Kosten auf die jeweiligen Bilanz-
452 Siehe Hermes, ZNER 1999, S. 156 (162); Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (312 ff.).
453 Siehe Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (312).
454 Ballwieser, in: MüKo, HGB, § 253, Rdnr. 108; Kleindiek, in Staub, HGB, § 253, Rdnr. 24.
455 Vgl. Wiedmann, HGB, § 252, Rdnr. 28; Gotthardt, Rückstellungen und Umweltschutz, S. 99.
456 Kleindiek, in : Staub, HGB, § 252, Rdnr. 23.
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stichtage zurück zu beziehen. In der Praxis werden hierfür die Stilllegungs- und Beseitigungskosten jährlich neu geschätzt.457 Diese Schätzung erfolgt auf der Basis ingenieurwissenschaftlicher Gutachten der Nuklear-Ingenieur-Service GmbH (NIS).458
Die NIS GmbH ermittelt die Stilllegungs- und Beseitigungskosten für jeden Kraftwerkstyp auf Basis des von ihr entwickelten Stilllegungskostenmodells (STILL-
KO).459
Zur Kostenermittlung wurden zwei Referenzkernkraftwerke ausgewählt: Biblis A
mit Druckwasserreaktor und 1225 MW elektrischer Leistung und Brunsbüttel mit
Siedewasserreaktor und 806 MW elektrischer Leistung.460 Auf der Grundlage bewerteter Maßnahmen erstellt die NIS GmbH für diese beiden Kernkraftwerke ein eigenes Kostenmodell, welches einzelne Stilllegungsvorgänge für das Kernkraftwerk
kostenmäßig abbildet. Die geschätzten Kosten beinhalten u. a. die Herleitung und
den Betrieb des sicheren Einschlusses, den Abriss und die Entsorgung der aktivierten und kontaminierten Anlagenteile.461 Für alle Arbeitsphasen wurden Kostenvoranschläge von entsprechenden Spezialfirmen eingeholt. Durch Risikozuschläge
wurde den wegen mangelnder Erfahrung mit den auszuführenden Tätigkeiten auftretenden Kalkulationsprobleme Rechnung getragen.462 Dieses Vorgehen stützt sich auf
das aus § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB ergebende Vorsichtsprinzip, welches im Zweifeln
einen höheren Kostenansatz rechtfertigt.463
Das gesamte Kostenmodell wurde variabel ausgestaltet.464 Es erfasst strukturgleiche bzw. strukturähnliche Zusammenhänge; die Struktur wird dabei durch 24
Kosteneinflussgrößen bestimmt, deren Variation die Ermittlung der Kosten für jedes
einzelne Kernkraftwerk ermöglicht.465 Anhand dieses Modells können die Energieversorgungsunternehmen, wie nach § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB (Einzelbewertungsgrundsatz) verlangt, die Kosten für jedes einzelne Kernkraftwerk unter Berücksichtigung des geplanten Stilllegungskonzepts abschätzen.
Rechtlich entspricht die Abschätzung der Kosten damit den Bewertungsvorgaben.
457 Vgl. eingehend: Irrek, Wuppertal Papers Nr. 53, S. 7; Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen, S. 24.
458 Reinhard, ET 1982, S. 657 (658).
459 Vgl. näher bei Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen, S. 46.
460 Irrek, Wuppertal Papers Nr. 53, S. 16.
461 Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen,
S. 24.
462 Gotthardt, Rückstellungen und Umweltschutz, S. 139.
463 Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen,
S. 24.
464 Gotthardt, Rückstellungen und Umweltschutz, S. 140.
465 Reinhard, ET 1982, S. 657 (658); Irrek, Wuppertal Papers Nr. 53, S. 17.
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b) Ermittlung der Höhe der Entsorgungskosten
Die Rückstellungen für die Entsorgung umfassen die Kosten für die Konditionierung, Zwischenlagerung und Endlagerung der abgebrannten Brennelemente
und radioaktiven Betriebsmittel. Maßgeblich für die Rückstellungsbildung sind die
geschätzten Entsorgungspreise pro Gewichtseinheit des jeweils zu entsorgenden Materials am Bilanzstichtag. Die Schätzungen differenzieren dabei je nach Abfallart
und Abfallmenge. Konkret wird zwischen radioaktiven wärmeentwickelnden Abfällen, zu denen vor allem die abgebrannten Brennelemente gehören und den radioaktiven Abfällen mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung differenziert, da nach dem
alten Entsorgungskonzept für diese Abfälle unterschiedliche Endlager vorgesehen
waren.466
Die Ermittlung der Höhe der voraussichtlichen Kosten für die Konditionierung
und Zwischenlagerung sind dabei weitgehend problemlos, da diese auf der Grundlage der derzeitigen Konditionierungs- und Zwischenlagerungskosten erfolgen können. Die Ermittlung des Erfüllungsbetrages für die Endlagerkosten ist dagegen erheblich schwieriger, da bislang weder ein Entsorgungskonzept noch ein Entsorgungsstandort verbindlich festgelegt wurde. Die Schätzungen basieren daher bislang
noch auf dem alten Entsorgungskonzept, nach dem mit Gorleben und Schacht Konrad zwei Endlagerstandorte geplant waren. Grundlage der Kostenabschätzungen sind
die Planwerte für die Erkundung, die Errichtung und den Betrieb von Gorleben und
Schacht Konrad. Grundsätzlich ist gegen diese Art der Kostenschätzung nichts einzuwenden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Entsorgungsrückstellungen
an das neue Entsorgungskonzept angepasst werden müssen. Solange allerdings noch
nicht geklärt ist, ob es eine neue Endlagersuche geben wird und wie umfangreich sie
sein wird, ist die Rückstellungsbildung auf der Grundlage des alten Entsorgungskonzepts rechtlich nicht zu beanstanden.
Eine betriebswirtschaftliche Überprüfung der Schätzungen für die Stilllegungsund Entsorgungskosten kann in dieser Arbeit nicht erfolgen, da es hierzu näherer
Kenntnisse über das im Einzelfall verfolgte Stilllegungs- und Abbaukonzept, die zu
ihrer Umsetzung erforderlichen Maßnahmen und über die durch sie verursachten
Aufwendungen bedarf. Diese Informationen sind öffentlich nicht zugänglich.467 Allerdings erfolgt eine jährliche Überprüfung dieser Kostenschätzungen durch die
Landesfinanzbehörden. Da ihnen ein fiskalisches Interesse an einer möglichst niedrigen Rückstellungshöhe zu unterstellen ist, dürfen ihre jährlichen Überprüfungen
als korrekt unterstellt werden.468 Bis auf den in den anfänglichen Schätzungen mit
466 Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen,
S. 50.
467 Kessler, IStR 2006, S. 98 (106).
468 Auch wenn in der Literatur (siehe Hermes, ZNER 1999, S. 156 (163 f.); Fouquet/Uexküll,
ZNER 2003, S. 310 (318)), immer wieder Zweifel an der Höhe der Schätzungen aufkommen,
fehlen doch die notwendigen Beweise hierfür. Hierauf hat auch das Europäische Gericht erster Instanz in seiner Entscheidung hingewiesen. Siehe EuG, Urteil vom 26.01.2006 - T-
92/02, RdE 2006, S. 192 f.
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enthaltenem konventionellen Abbau der Anlage, also den Abriss des dekontaminierten Reaktorgebäudes, haben die Landesfinanzbehörden die Kostenschätzungen bisher unbeanstandet gelassen.469 Daher ist davon auszugehen, dass die geschätzten
Kosten nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendig sind.
2. Berücksichtigung von Preissteigerungen
Die Entwicklung der Stilllegungs- und Entsorgungskosten wird neben der Abänderung des zugrunde gelegten Stilllegungs- bzw. Entsorgungskonzepts im Wesentlichen von der realen Teuerung und der allgemeinen Preisentwicklung bestimmt.470
Die Schätzungen erfolgen auf Basis des Preisniveaus des Bilanzstichtags.471 Die
jährlichen Preissteigerungen werden somit erst in den Jahren berücksichtigt, in denen sie anfallen. Dementsprechend müssen jedes Jahr die in den Vorjahren zurückgestellten Beträge wertmäßig an das jeweilige Preisniveau angeglichen werden.
Künftige Kostensteigerungen werden nicht berücksichtigt. Dies entspricht der
ständigen Rechtsprechung des BFH.472 Diese Rechtsprechung ist jedoch in der Literatur gerade im Hinblick auf die Nichtberücksichtigung von künftigen Kostensteigerungen zunehmend in die Kritik geraten.473 Es wird gefordert, vom Preisniveau
der vermeintlichen Erfüllungsperiode auszugehen.474
Auf den ersten Blick scheint diese Kritik berechtigt, denn wenn die Rückstellung
nach dem Erfüllungsbetrag bemessen werden soll, dieser jedoch wegen einer Preiserhöhung höher ausfällt, müsste eigentlich dieser höhere Betrag maßgeblich sein.475
Dies würde allerdings zu erheblichen Prognoseproblemen führen. Insbesondere bei
langfristigen ungewissen Verbindlichkeiten, wie bei den Verpflichtungen zur Stilllegung und Entsorgung, dürfte die Prognose der zukünftigen Entwicklung von Preisen und Löhnen erhebliche Unsicherheiten in sich bergen. Weder Erfahrungen noch
die Fortschreibung vergangener Trends führen hier weiter, denn ein Blick in die
Vergangenheit zeigt, dass die tatsächliche Entwicklung des Preisniveaus immer
wieder davon abweicht.476 Eine Berücksichtigung künftiger Preisentwicklung würde
den Unternehmen daher einen erheblichen Beurteilungsspielraum verschaffen und
ihnen ermöglichen, den Gewinn und damit auch die Steuerbelastung nach eigenem
469 BMF vom 13.02.2001, E C 3 – F 2516 – 20/10 (n.v.); Kessler, IStR 2006, S. 98 (106).
470 Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen,
S. 24.
471 Irrek, Wuppertal Papers Nr. 53, S. 17.
472 BFH vom 10.02.1975, I R 28/73, BStBl. 1975 II, S. 480 (482); BFH vom 7.10.1982, IV R
39/80, BStBl. 1983, S. 104 (106); BFH vom 3.12.1991, VII R 88/87, BStBl 1993 II, S. 89
(92f.).
473 Siehe unter anderem: Mayr, Rückstellungen, S. 274f.;
474 Mayr, Rückstellungen, S. 274.
475 Vgl. Gotthardt, Rückstellungen und Umweltschutz, S. 147
476 Groh, BB 1988, S. 27 (31).
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Ermessen zu beeinflussen. Die strenge Stichtagsbewertung, die der BFH vornimmt,
lässt sich deswegen mit dem Bemühen um Bilanzobjektivierung rechtfertigen.477
Die Kernkraftwerkbetreiber gehen daher bei den Schätzungen ihrer Stilllegungsund Entsorgungskosten zu Recht nicht vom Preisniveau der Erfüllungsperiode, sondern immer von Preisniveau zum Zeitpunkt der Bilanzaufstellung aus. Damit wird
allerdings in der Regel der wahre Verpflichtungsumfang zu niedrig ausgewiesen und
infolgedessen ein unter dem Blickwinkel der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zu hoher Gewinn ermittelt.478
3. Abzinsung
Wegen der besonderen Höhe und dem langen Zeitraum über den die Stilllegungsund Entsorgungsrückstellungen angesammelt werden, kommt der Frage der Abzinsung eine besondere Bedeutung zu.
Grundsätzlich kam nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des „Steuerentlastungsgesetzes“ eine Abzinsung von unverzinslichen Verbindlichkeitsrückstellungen nicht
in Betracht, da dies gegen das Imparitätsprinzip verstoßen hätte.479 Die Kernkraftwerkbetreiber erhielten so aufgrund der besonderen Höhe und der Dauer der Rückstellungen einen sehr hohen Zinsgewinn, den die kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen aufgrund der freien Verfügbarkeit über die Rückstellungsbeträge als zinslosen Kredit zur Innenfinanzierung nutzen konnten.480
Erst mit dem „Steuerentlastungsgesetz“ wurde eine Pflicht zur Abzinsung eingeführt.481 Der neue § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. e S. 1 EStG sieht vor, dass unverzinsliche
Verpflichtungen mit 5,5 Prozent abzuzinsen sind. Dies bedeutet, dass die passivierten Beträge so hoch angesetzt werden müssen, dass sie zum Zeitpunkt der voraussichtlichen Fälligkeit der ungewissen Verbindlichkeit unter Einschluss eines jährlichen Zinssatzes von 5,5 Prozent die notwendige Höhe erreicht haben werden. Durch
die Abzinsung soll erreicht werden, dass bei den rückstellungsbildenden Unternehmen geringere Zinsgewinne aufgrund der steuerstundenden Wirkung der Rückstellung auflaufen.482
Bei der Passivierung der Entsorgungskosten für die Brennelemente und radioaktiven Betriebsmittel müssen demnach bereits bei ihrem Einsatz im Reaktor die Beträge so hoch angesetzt werden, dass bei ihrem Austausch nach der durchschnittlichen
477 So auch Groh, BB 1988, S. 27 (30).
478 Vgl. Kütting/Kessler, DStR 1998, S. 1937 (1945).
479 Siehe Hermes, ZNER 1999, S. 156 (160).
480 Siehe Irrek, Wuppertal Papers Nr. 53, S. 22; Hermes, ZNER 1999, S. 156 (158).
481 Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass die Abzinsung von Rückstellungen nach § 6
Abs. 1 Nr. 3a lit d) EStG nicht dazu geeignet ist, den Zinsgewinn aus dem steuerbefreiten Betrag beim Staat anzusiedeln. Die Abzinsung wirkt sich lediglich auf die Höhe der jährlich zurückzustellenden Summe aus.
482 Vgl. Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (311).
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Lebensdauer inklusive 5,5 Prozent Zins und Zinseszins die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung stehen.
Für den Abzinszeitraum für die Verpflichtung, ein Kernkraftwerk stillzulegen,
enthält § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. e S. 3 EStG dagegen eine Sonderregelung. Hiernach ist
der Zeitraum von der erstmaligen Nutzung bis zu dem Zeitpunkt, in dem mit der
Stilllegung des Kernkraftwerkes begonnen werden muss, maßgeblich. Sollte der
Zeitpunkt der Stilllegung nicht feststehen, beträgt der Zeitraum für die Abzinsung 25
Jahre.
Nach § 52 Abs. 16 S. 12 EStG ist diese neue Abzinsregelung auch auf die bereits
vor dem im Jahr 1999 gebildeten Rückstellungen anzuwenden. Dadurch wurden die
Kernkraftwerkbetreiber gezwungen, einen Teil ihrer Rückstellungen aufzulösen. Um
die Folgen abzumildern, wurde den rückstellenden Unternehmen durch § 52 Abs. 16
S. 11 EStG die Möglichkeit gegeben, die gewinnerhöhende Auflösung der Rückstellungen gleichmäßig auf zehn Jahre zu verteilen.
In der Praxis führte diese Neuregelung dazu, dass die Kernkraftwerkbetreiber
Rückstellungen in der Höhe von 6,9 Mrd. Euro auflösen mussten.483 In der Literatur
wird insbesondere der Abzinszeitraum von 25 Jahren für Stilllegungskosten von
Kernkraftwerken kritisiert, da dieser aufgrund der Festlegung der Restlaufzeiten auf
32 Jahre zu kurz bemessen sei.484 Auf diese Kritik wird in dieser Arbeit noch im Zusammenhang mit der europarechtlichen Beihilfeproblematik eingegangen.485
4. Art der Rückstellungsbildung
a) Ansammlung der Stilllegungsrückstellungen
Seit dem Steuerentlastungsgesetz sammeln die Kernkraftwerkbetreiber gem. § 6
Abs. 1 Nr. 3a lit. d S. 3 EStG die gesamten Stilllegungs- und Beseitigungskosten inklusive der Entsorgungskosten für die radioaktiv kontaminierten Anlagenteile zeitanteilig in gleichen Raten über einen Zeitraum von 25 Jahren an.486 Vor dem Steuerentlastungsgesetz betrug der Ansammlungszeitraum aufgrund eines Erlasses des Finanzministeriums 19 Jahre.487 Durch die gesetzliche Verlängerung der Ansammlungsdauer mussten die Kernkraftwerkbetreiber einen Teil ihrer Rückstellungen gewinnerhöhend auflösen. Hierfür erhielten sie gem. § 52 Abs. 16 S. 11 EStG die
Möglichkeit die Auflösung auf 10 Jahre gleichmäßig zu verteilen.
483 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, Rdnr. 89 ff.
484 Vgl. Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (313).
485 Siehe hierzu Drittes Kapitel, F, II, 3., c), bb).
486 Eingehend auf die genaue Berechnungsmethode, siehe Heintzen, StuW 2001, S. 71 (72 f.).
487 Ursprünglich wurde davon ausgegangen, dass ein Kernkraftwerk durchschnittlich 20 Jahr in
Betrieb sein wird. Deswegen legte das Finanzministerium 19 Jahre als Ansammlungszeitraum
fest. Vgl. Hermes, ZNER 1999, S. 156 (160).
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Die Verlängerung des Ansammlungszeitraums führt dazu, dass in der Regel erst
nach 25 Jahren Betriebslaufzeit die Mittel für die Stilllegung und Beseitigung des
Kernkraftwerkes vollständig verfügbar sind. Damit besteht die Gefahr, dass bei einer
vorzeitigen, nicht planmäßigen Stilllegung nicht ausreichend Finanzmittel zur Verfügung stehen.488
b) Bilanzierung der Entsorgungsrückstellungen
Im Gegensatz zu den Stilllegungsrückstellungen werden die Rückstellungen für die
Entsorgung der abgebrannten Brennelemente und der radioaktiven Betriebsmittel
über den Zeitraum ihrer durchschnittlichen Lebensdauer hin angesammelt. Der Gesetzgeber hat hierfür keine Pauschalisierung wie bei den Stilllegungs- und Abbaukosten vorgenommen, so dass je nach voraussichtlicher Lebensdauer der Brennelemente bzw. der Betriebsmittels zu differenzieren ist.
Bilanziert werden die Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen meist direkt
bei den „Betreibern“, das heißt bei den Gesellschaften, die für die Stilllegung, Beseitigung und Entsorgung verantwortlich sind. In den Fällen, in denen Kernkraftwerke
direkt von einem der größeren Energieversorgungskonzerne, wie zum Beispiel der
E.ON AG, der RWE AG oder der EnBW AG betrieben werden, werden die Rückstellungen bei den großen EVU-Aktiengesellschaften selbst angesammelt. In den
anderen Fällen hat die Betreibergesellschaft die Rechtsform einer GmbH, an der die
großen Energieversorgungsunternehmen die Anteile halten. Ein Beispiel ist die
Krümmel GmbH, die das Kernkraftwerk Krümmel betreibt und deren Anteilseigner
die Vattenfall Europe AG und die E.ON AG sind. Die Rückstellungsbildung erfolgt
dann in der Regel bei der Betreiber-GmbH.
Dementsprechend trägt in diesem Fall grundsätzlich die Betreiber-GmbH die finanzielle Verantwortung für die Stilllegungs- und Entsorgungskosten. Ein Rückgriff
auf die an der GmbH beteiligten Mutterkonzerne ist nur bei entsprechenden konzerninternen Regelungen möglich. Inwieweit die konzerninternen Verträge entsprechende Haftungs- und Schuldübernahmen vorsehen, kann in dieser Arbeit nicht beurteilt werden, da die Verträge öffentlich nicht zugänglich sind.489
IV. Zusammenfassung
Nach dem deutschen Handels- und Steuerbilanzrecht ist es den deutschen Kernkraftwerkbetreibern nicht nur erlaubt, sondern sie sind sogar dazu verpflichtet, für
die auf sie zukommenden Stilllegungs- und Entsorgungskosten Rückstellungen zu
bilden.
488 Siehe Kessler, IStR 2006, S. 98 (104 f.).
489 Irrek, in: Wuppertal Paper Nr. 53, S. 9.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die nukleare Entsorgung und die Stilllegung von Kernkraftwerken ist nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Die hohen Kosten und der lange Zeitraum, über den sich die notwendigen Stilllegungs- und Entsorgungsmaßnahmen erstrecken, stellen besondere Anforderungen an die finanzielle Vorsorge.
Dieses Buch analysiert die gesetzlichen Vorschriften, nach denen in Deutschland und der Schweiz finanzielle Vorsorge für die Stilllegung und Entsorgung betrieben wird, da diese beiden Länder unterschiedliche Wege gewählt haben, die weltweit exemplarisch für die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Problem sind. In Deutschland basiert die Finanzierungsvorsorge auf einer unternehmensinternen Lösung durch die Bildung von Rückstellungen bei den kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen. Diese Art der Finanzierungsvorsorge führt zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber. Inwieweit diese mit dem nationalen und dem europäischen Recht vereinbar sind, bildet ein Schwerpunkt dieses Buchs. Ein anderer Schwerpunkt ist der Vergleich mit dem unternehmensexternen Finanzierungssystem, das die Schweiz zur Finanzierungsvorsorge gewählt hat.