284
Dworkins Kritik lenkt aber den Blick auf den neuralgischen Punkt des Rechtspragmatismus, nämlich die Frage, wie sich unter den Auspizien eines realistischen
Rechtsbegriffs überhaupt noch die Frage nach der Rationalität und Legitimität von
Recht stellen und beantworten lässt. Der Rechtspragmatismus sah das Recht als Instrument zur Durchsetzung politischer und sozialer Zwecke. Doch dieser Instrumentalismus beantwortet die eingangs gestellte Frage nicht, sondern verschiebt sie nur
auf eine andere Ebene. Denn auch hinsichtlich der Zwecke, die durch das Recht
verwirklicht werden, stellt sich die Frage nach Rationalität und Legitimation.
4. Das Verhältnis von Recht und Demokratie
Der vorangegangene Abschnitt hat deutlich gemacht, dass sich mit dem modernen
Rechtspragmatismus vor allem zwei ungelöste Fragen verbinden. Die eine ist die,
wie sich unter den Auspizien eines realistischen Rechtsbegriffs überhaupt noch die
Legitimität von Rechtsakten begründen lässt. Die andere betrifft das Problem, wie
sich Vorhersehbarkeit, Rechtssicherheit und Gesetzesbindung mit einer folgenorientierten Rechtsanwendungspraxis vereinbaren lassen. Im folgenden soll aufgezeigt
werden, wie sich diese Fragen vielleicht beantworten lassen, wenn die pragmatistische Rechtstheorie im Zusammenspiel mit einem pragmatistischen Verständnis von
Demokratie betrachtet wird und welche Auswirkungen ein derartiges Verständnis
auf die Frage nach der Möglichkeit und Zulässigkeit einer richterlichen Normenkontrolle hat.
a) Autonomie und Legitimität des Rechts
Die rechtstheoretische Leistung des Positivismus bestand darin, Recht und Moralität
voneinander zu entkoppeln. Das Recht erlangte dadurch eine normative Autonomie
in dem Sinne, dass sich seine Legitimität nun nicht mehr von seiner Richtigkeit im
moralischen Sinne ableitete, sondern dass es die Kriterien seiner Legitimität aus sich
selbst schöpfen konnte. Für den Positivismus979 bemisst sich die Legitimität von
Normen und rechtlichen Entscheidungen primär an deren rechtlicher Geltung. Diese
wiederum beruht darauf, dass das Recht in einem formal ordnungsgemäßen Verfahren gesetzt wurde (Hinzukommen muss außerdem ein Mindestmaß an sozialer
979 Unter Positivismus soll in diesem Zusammenhang eine Auffassung in der Tradition von
Kelsen, aber auch Austin und Hart verstanden werden, die für den Rechtsbegriff entscheidend auf die Gesetztheit des Rechts abstellt, während das Element der sozialen Wirksamkeit nur ergänzend hinzutritt. Freilich kann man mit guten Gründen auch dort von Positivismus sprechen, wo das recht in erster Linie anhand seiner sozialen Wirksamkeit identifiziert wird, wie etwa bei Holmes oder der soziologischen Rechtstheorie Theodor Geigers.
Vgl. dazu Alexy (2005) S. 31 ff.
285
Wirksamkeit, was aber für die Frage der Legitimität ohne Bedeutung ist)980. Legitimität ist somit keine Frage des materiellen Inhalts mehr, sondern eine Frage der
Form bzw. des Rechtssetzungsverfahrens. Dieses Verfahren ist seinerseits durch
Normen geregelt, die ihre Geltung wiederum aus anderen Normen ableiten. Um einen infiniten Regress zu vermeiden, führt der Positivismus die Geltung der Rechtsordnung auf eine Grundnorm (Kelsen) zurück981, oder er postuliert wie Hart eine
"rule of recognition" als Erkenntnisregel982, die dazu dient, Rechtsnormen identifizieren zu können und auf diese Weise auch deren normative Geltung begründet. Im
Rechtspositivismus von Kelsen und Hart war das Recht somit zwar von der Moral
emanzipiert, dennoch war seine Geltung nicht rein faktischer Natur, sondern hatte
einen spezifischen normativen Sollenscharakter, der dem Begriff des Rechts selbst
entsprang. Insoweit kann im Positivismus Kelsens und Harts von einer normativen
Autonomie des Rechts insbesondere gegenüber der Moral gesprochen werden.
Die Verklammerung von Recht und Moral im Naturrecht diente nicht zuletzt dem
Zweck, dem Recht seine Autonomie gegenüber der Politik zu sichern. Dadurch, dass
die Rechtsgeltung an die Übereinstimmung mit materiellen naturrechtlichen Normen
gebunden war, wurde der Befugnis des Gesetzgebers, beliebige Inhalte für Recht zu
erklären, Grenzen gesetzt983. Für den Rechtspositivismus hingegen ist es selbstverständlich, dass der Gesetzgeber prinzipiell jeden beliebigen Inhalt in Gesetzesform
gießen und somit zu geltendem Recht werden lassen kann984. Gleichwohl gehen
auch die meisten Vertreter des Rechtspositivismus von einer Autonomie des Rechts
gegenüber der Politik aus. Diese Autonomie war vor allem eine Folge des Rechtsformalismus, der zwar nicht notwendig mit dem Positivismus einhergeht, aber dennoch oftmals mit diesem zusammentrifft. Der Formalismus unterwirft die Rechtsanwendung einer eigenen rechtsspezifischen Rationalität, die sich von der moralischer Diskurse ebenso unterscheidet wie von der der Politik. Diese Rationalität entsprang der besonderen Form juristischer Argumentation, die die Kohärenz des
Rechts als eines logisch stimmigen Systems von Begriffen und Prinzipien sichern
sollte985. Diese formale Autonomie des Rechts gegenüber der Politik ändert zwar
nichts daran, dass der materielle Inhalt des Rechts durch den Gesetzgeber und damit
durch den politischen Prozess bestimmt wird. Gleichwohl zwingt sie diesen Inhalten
eine bestimmte formale rechtliche Struktur auf. Je nach Ausdifferenziertheit dieser
formalen Struktur kann sie dazu führen, dass sich bestimmte Inhalte dann gar nicht
mehr in Recht umsetzen lassen, weil sie mit dessen formaler Eigenstruktur nicht
kompatibel sind.
Aus Sicht des Rechtspragmatismus war das Konzept von der normativen Autonomie des Rechts als eines Systems, das seine Legitimität aus sich selbst heraus be-
980 Vgl. etwa Kelsen (1960) S. 219; Hart (1973) S. 142 ff.
981 Kelsen (1960) S. 196 ff.
982 Hart (1973) S. 142 ff.
983 Dazu Tamanaha (2006) S. 216 f.
984 Vgl. Kelsen (1960) S. 201.
985 Vgl. dazu Weinrib (1988) S. 344 f.; Postema (1996) S. 82 ff.
286
gründen konnte, ebenso Mythos und metaphysische Fiktion wie die Idee einer formalen Autonomie, die eine spezifischen Rationalität der Rechtsanwendung postulierte. Das Recht als Vorhersage der tatsächlichen Entscheidungspraxis der Rechtsanwender besaß zwar eine ihm immanente faktische Regelhaftigkeit und Kohärenz,
aus dieser ließ sich jedoch keine rechtsspezifische normative Verpflichtungskraft
ableiten. Die vom Formalismus propagierte Eigenrationalität des Rechts entlarvte
der Rechtspragmatismus als einen Deckmantel für politische Zweckerwägungen, die
den eigentlichen Kern jeder rechtlichen Entscheidung bildeten.
b) Der Zusammenhang von Rechts- und Demokratietheorie im Pragmatismus
Wie konnte aber auf dieser Grundlage überhaupt noch die Rationalität und Legitimität rechtlicher Entscheidungen begründet werden? Die ursprüngliche Antwort des
Rechtspragmatismus, die Jurisprudenz als eine empirisch fundierten Sozialwissenschaft und -technologie neu zu konzipieren, in der das Recht als Instrument zur
Durchsetzung von mit den Mitteln der modernen Sozialwissenschaft bestimmbaren
objektiven "social interests" verstanden wurde, erwies sich auf die Dauer als nicht
tragfähig986.
Realistischer Rechtsbegriff und Rechtsinstrumentalismus allein waren nicht imstande, die Fragen nach der Legitimität und Rationalität des Rechts zu beantworten.
Seine Kritiker haben dem Rechtspragmatismus deshalb vorgehalten, eine gänzlich
wertneutrale, normativ gehaltlose Theorie des Rechts zu propagieren987, die die Geltung des Rechts allein auf Zwang und die Durchsetzung überlegener gesellschaftlicher Machtverhältnisse zurückzuführen vermag.
Lon Fuller hat daraus den Schluss gezogen, dass die Einbeziehung naturrechtlicher Elemente in das Recht unvermeidlich ist, wenn dieses Recht berechtigten Anspruch auf Legitimität erheben soll988. Es bietet sich aber noch eine weitere Antwort
an, wenn man sich deutlich macht, dass das Rechtsverständnis des Pragmatismus
sich sondern vor dem Hintergrund einer demokratisch verfassten Gesellschaft entwickelt hat. Die pragmatistische Rechtstheorie war immer eine Rechtstheorie für
den demokratischen Staat. Dieser Zusammenhang war den meisten Rechtspragmatisten so selbstverständlich, dass sie nicht ausdrücklich auf ihn hinwiesen. Wenn
aber etwa John Dewey das Recht als ein Instrument zur Erreichung politischer Ziele
betrachtete, so stand für ihn außer Frage, dass diese Ziele aus einem demokratischen
Verfahren hervorgegangen sein mussten.
Im Lichte dieses Zusammenhangs lässt sich die Frage beantworten, woraus in einer pragmatistischen Rechtstheorie letztendlich die Legitimität des Rechts als nor-
986 Vgl.obenS. 271 ff.
987 Vgl. Löffelholz (1961) S. 146 f.; Fuller (1968) S. 8 ff.; Summers (1982) S. 33 ff., 42; Tamanaha (1996) S. 355, ders. (2006) S. 219; ähnlich in Bezug auf Holmes Fikentscher
(1975) S. 213 ff..
988 Vgl. dazu Fuller (1964) S. 96 ff.; ders. (1968) S. 112 ff.
287
mativer und nicht bloß faktischer Geltungsanspruch resultiert: Wenn das Recht nämlich im Sinne des Rechtspragmatismus lediglich ein Instrument zur Durchsetzung
bestimmter politischer und sozialer Zwecke ist, so kann nur deren Legitimität auch
diejenige des Rechts begründen. Maßgeblich ist folglich, ob die Zwecke des Rechts
aus einem politischen Verfahren hervorgehen, dessen Ergebnisse für sich normative
Verbindlichkeit beanspruchen dürfen. Die Legitimitätsfrage entscheidet sich für den
Pragmatismus somit nicht in der Rechts- sondern in der Demokratietheorie.
Anders als das Recht definiert der Pragmatismus ja die Demokratie nicht ausschließlich aus einer empirischen und realistischen Perspektive989, sondern sein Demokratiemodell hat, wie im zweiten Teil dieser Arbeit festgestellt wurde, einen klaren normativen Gehalt: Die Ergebnisse des demokratischen Verfahrens sind nicht
lediglich Ausdruck bestimmter realer Machtverhältnisse, sondern sie können einen
berechtigten Anspruch auf Rationalität und Legitimität erheben. Erst in Verbindung
mit einem pragmatistischen Verständnis von Demokratie erschließt sich deshalb der
vollständige Gehalt der pragmatistischen Rechtstheorie auch in seiner normativen
Dimension. Dieser Aspekt war lange Zeit in den Hintergrund getreten, weil die
Rechtspragmatisten so sehr auf den objektiv-wissenschaftlichen Charakter der
Rechtsanwendung abstellten. Aber auch diese Wissenschaftlichkeit war ja kein
Selbstzweck, sondern in den Dienst eines demokratischen Gemeinwesens gestellt.
Die pragmatistische Demokratietheorie ist daher die notwendige Voraussetzung und
Ergänzung zu einem pragmatistischen Rechtsverständnis.
Die Idee, dass zwischen Rechts- und Demokratietheorie ein innerer Zusammenhang besteht, ist freilich keine exklusive Einsicht des Pragmatismus. Überlegungen
hierzu finden sich etwa auch bei Hans Kelsen. Für ihn gehören seine "Reine Rechtslehre" und Demokratie deswegen zusammen, weil beide der Ausdruck eines erkenntnistheoretischen Gründen unvermeidlichen Wertrelativismus sind. Ebenso wie
der Rechtspositivismus der reinen Rechtslehre jeden Bezug auf eine materielle Konzeption von Gerechtigkeit unterlässt, ist der demokratische Gedanke ein Ausdruck
der Tatsache, dass es im politischen Bereich keine objektive Wahrheit mehr geben
kann und daher der Meinung eines jeden im politischen Prozess gleiches Gewicht
zukommt990. Ein derartiges Verständnis hat jedoch zur Konsequenz, dass die Legitimation des Rechts ebenso wie die der Demokratie auf reichlich schwachen Beinen
steht. Aufgrund des vorausgesetzten Wertrelativismus können die Entscheidungen
des demokratischen Gesetzgebers keinen Anspruch auf materielle Richtigkeit oder
Rationalität geltend machen. Sie erscheinen als das letztendlich zufällige Resultat
gesellschaftlicher Interessenkämpfe, die durch das Mehrheitsprinzip entschieden
werden. Die so entstandenen Normen werden von den Adressaten vor allem deshalb
befolgt, weil anderenfalls Sanktionen drohen. Nicht zufällig definiert Kelsen die
Rechtsordnung daher als normative Zwangsordnung991. Im Vergleich zur pragmatistischen Demokratietheorie, bei der sich die Rationalität und Legitimität gesetzge-
989 Diesen Aspekt übersieht Summers (1982) S. 36 ff.
990 Kelsen (1929) S. 101; zu Kelsen Demokratieverständnis umfassend Dreier (1986) S. 249 ff.
991 Kelsen (1960) S. 45 ff.
288
berischer Entscheidungen aus den epistemologischen Qualitäten eines deliberativen
politischen Verfahrens speist, fallen der normative Gehalt und die Überzeugungskraft von Kelsens Demokratieverständnis wesentlich schwächer aus.
Der pragmatistische Weg, Rationalität und Legitimität des Rechts im Zusammenspiel mit einer normativ gehaltvollen Theorie des demokratischen Verfahrens zu begründen, erweist sich so eine interessante Alternative sowohl zu einer rein realistischen und damit normativ unverbindlichen Betrachtungsweise des Rechts als auch
zu solchen Auffassungen, die wie Kelsen auf einer normativen Autonomie des
Rechts beharren wollen.
c) Gesetzesbindung
Welche Konsequenzen hat nun die Einsicht in den Zusammenhang von Recht und
demokratischem Verfahren für die Rechtspraxis, nachdem das ursprüngliche Vorhaben des Rechtspragmatismus, die Richter als "social engineers" bei ihren Entscheidungen auf Folgenberücksichtigung im Interesse eines mit wissenschaftlichen Methoden bestimmbaren eindeutigen common good zu verpflichten, gescheitert war?
Dieses Scheitern nötigt nicht notwendig dazu, die Idee von public interests und
einem auf ihre Verwirklichung gerichteten Rechtsinstrumentalismus gleich ganz ad
acta zu legen. Die pragmatistische Demokratietheorie legt es stattdessen nahe, den
demokratischen Prozess als Quelle für die Bestimmung des common good und der
public interests heranzuziehen. Für den Pragmatismus besteht schließlich die genuine Rolle der demokratischen Öffentlichkeit genau darin, zu erforschen, welche Belange für das öffentliche Wohl relevant sind und mit welchen Mitteln dieses am geeignetsten befördert wird. Aus dieser Sicht stellen sich die vom demokratischen Gesetzgeber erlassenen Normen als die ausdrücklichste Manifestation legitimer öffentlicher Interessen und des gemeinen Wohls dar.
Von dieser Prämisse ausgehend muss dem Gedanken der Gesetzesbindung von
Richtern und Verwaltung eine größere Bedeutung eingeräumt werden, als dies im
klassischen Rechtspragmatismus der Fall war. Dewey etwa hatte ja den vom Gesetzgeber erlassenen Normen nur den Charakter von begründeten Hypothesen zugebilligt, von denen der Richter im Einzelfall abweichen konnte, wenn dadurch dem
öffentlichen Interesse besser gedient war. Dabei war unterstellt, dass der Richter in
der Lage war, Gemeinwohlinteressen zutreffend zu erkennen, die über das hinausgingen, was im Gesetzestext festgeschrieben war. Diese Unterstellung hatte sich als
nicht zutreffend erwiesen.
Da die von einem demokratischen Gesetzgeber erlassenen Normen in einer pluralistischen Gesellschaft den verlässlichsten Indikator dafür abgeben, was als Gemeinwohl anzusehen ist, folgt aus einem pragmatistisches Rechtsverständnis eigentlich eine strenge Bindung des Richters an das Gesetz nahe. So legt das Zusammenspiel von pragmatistischer Rechts- und Demokratietheorie eine Konzeption nahe, die
man als "demokratischen Positivismus" bezeichnen könnte. Vom herkömmlichen
rechtstheoretischen Positivismus unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht mehr
289
von einer Autonomie des Rechts ausgeht, das seine normative Geltung selbst begründen könnte, sondern das Recht wird fest an den demokratischen Prozess gekoppelt, von dem es seine politische Zielprogrammierung und seine Legitimität erfährt.
Zwischen Gesetzesbindung im Dienste eines demokratischen Positivismus und
einem Rechtsinstrumentalismus besteht dabei nicht notwendigerweise ein Widerspruch992. Für den pragmatischen Rechtsinstrumentalismus ist die Setzung und Anwendung von Recht in den Dienst einer Verwirklichung öffentlicher Interessen gestellt. Da aber das öffentliche Interesse nicht unabhängig vom demokratischen Prozess bestimmt werden kann, werden die Rechtsanwender im Regelfall an die Wertungen gebunden bleiben, die in den Normtexten zum Ausdruck kommen.
Gesetzesbindung ist daher in einem rechtspragmatistischen Sinn nicht dahingehend zu verstehen, dass die Normen die richterliche Entscheidung gewissermaßen
programmieren. Sie hat vielmehr die Bedeutung, dass die vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassenen Normen als Ausdruck der öffentlichen Interessen
den Rahmen abstecken, innerhalb dessen sich die folgenorientierten Erwägungen
des Gerichts zu bewegen haben. Die Rechtsanwendung folgt somit weiterhin dem
pragmatistischen Modell, die Entscheidung primär an den erwünschten Folgen auszurichten. Die Gesetzesbindung führt daher nicht notwendigerweise zu einer Wiederkehr des Formalismus, in dem Sinne, dass eine am Gesetz orientierte Rechtsanwendung notwendig die Form einer schematischen Subsumtion unter die Begriffe
des Normtextes annehmen muss993. Die Gesetze liefern vielmehr im Rahmen einer
Folgenprognose und -abwägung die notwendige Orientierung dafür, welche Folgen
im Sinne des Gemeinwohls als wünschenswert anzusehen sind.
Gleichwohl wirft das hier skizzierte pragmatistische Verständnis von gesetzesbindung zwei Fragen auf: Zum einen die, wie zu verfahren ist, wenn die Normtexte
Interpretationsspielraum lassen. Zum anderen, ob eine strenge Gesetzesbindung
auch dann bestehen soll, wenn eine Entscheidung nach der Norm dem öffentlichen
Interesse evident nicht mehr gerecht wird, etwa dann, wenn sich die tatsächlichen
Verhältnisse seit Erlass der Norm grundlegend geändert haben.
Ist ein Normtext nicht eindeutig und daher der Interpretation bedürftig, so stellt
sich die Frage, anhand welcher Auslegungsregeln zu verfahren ist. Aus Sicht des
Rechtspragmatismus dürfte dabei eine Auslegung anhand der zu erwartenden Entscheidungsfolgen zu bevorzugen sein. Demnach wäre zunächst zu ermitteln, zu welchen praktischen Konsequenzen die verschiedenen Entscheidungsalternativen führen, die sich aus dem offenen Normtext ergeben. Sodann wäre der Interpretation der
Vorzug zu geben, die zu einer Entscheidung führt, deren faktische Konsequenzen
am ehesten geeignet scheinen, das öffentliche Interesse zu befördern. Soweit dieses
nicht dem auslegungsbedürftigen Normtext selbst entnommen werden kann, kann
auf den systematischen Kontext der Norm bzw. andere Normtexte, insbesondere
solche höherrangiger Normen, zurückgegriffen werden. Problematisch ist es im Sinne einer pragmatistischen Rechtstheorie jedoch, wenn die Auslegung auf Prinzipien
992 So aber Tamanaha (2006) S. 227 ff.
993 In diese Richtung argumentieren Schauer (1988) S. 509 f.; sowie Scalia (1997) S. 25.
290
und Werte zurückgeführt wird, die sich nicht einem eindeutigen Normtext entnehmen lassen, sondern etwa Präzedenzentscheidungen oder dem Gewohnheitsrecht
entstammen, oder von denen angenommen wird, dass sie der Rechtsordnung im
ganzen zugrunde liegen ohne je ausdrücklich kodifiziert worden zu sein. Einer richterlichen Rechtsfortbildung sind daher in einem rechtspragmatistisch fundierten demokratischen Positivismus von Haus aus enge Grenzen gesetzt. Insbesondere dürfte
es nicht statthaft sein, unter Berufung auf ungeschriebenes Recht entgegen einem
eindeutig statuierten Gesetzeswortlaut zu entscheiden. Dass eine solche Position sich
gerade im Geltungsbereich des Common Law, wo richterliche Rechtsschöpfung traditionell eine große Rolle spielt und es zudem an einer systematischen Methodik der
statuory interpretation fehlt994, fragen lassen muss, inwieweit sie denn mit der
Rechtswirklichkeit vereinbar ist, liegt auf der Hand. In praktisch allen Rechtsordnungen ist die Summe der für die Rechtsanwendung erheblichen Normen nicht mit
den kodifizierten Gesetzen identisch sondern geht deutlich über diese hinaus. Die
Anwendung des einfachen Gesetzesrechts wird oftmals erst durch den Rückgriff auf
dogmatische Strukturen ermöglicht, die niemals explizit kodifiziert wurden, sondern
über lange Zeit hinweg durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft entwickelt
worden sind. Die Geltung solchen Rechts lässt sich in einem System des demokratischen Positivismus aber zumindest daraus begründen, dass seine Existenz vom Gesetzgeber nicht in Frage gestellt sondern toleriert wird, denn er hat ja prinzipiell jederzeit die Möglichkeit, derartige ungeschriebene Normen durch den Erlass entsprechender Gesetze zu widerrufen oder abzuändern.
Für den Fall, dass der Normtext zwar eine eindeutige Entscheidung vorgibt, deren
Ergebnis aber evident nicht dem öffentlichen Wohl entspricht, hatte Dewey eine
eindeutige Befugnis des Richters bejaht, contra legem zu entscheiden995. Dies erscheint aber zu weitgehend, da den Gerichten keine Erkenntniskompetenz im Hinblick auf das öffentliche Interesse über die Auslegung von Normtexten hinaus zukommt. Daher wird ein solches Abweichen vom eindeutigen Gesetzeswortlaut wohl
nur in solchen Fällen statthaft sein, wo sich das in Frage stehende öffentliche Interesse eindeutig aus dem Normtext und der Systematik anderer Gesetze ergibt. Ist
dies zweifelhaft, so wird im Regelfall gemäß der Norm zu entscheiden sein, auch
wenn dies im Einzelfall zu einem ungewollten Ergebnis führt, denn die Anpassung
fehlerhafter oder überholter Normtexte an veränderte gesellschaftliche Bedürfnisse
muss primär Angelegenheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers bleiben.
In jedem Fall dürfte in einem System des demokratischen Positivismus die Anforderung an die Gerichte bestehen, ihre Entscheidungen im Hinblick auf die
zugrunde gelegten öffentlichen Interessen und Folgenabwägungen umfassend zu begründen. Gerade weil die richterliche Entscheidung durch die Gesetze nicht mehr
994 "The hard truth of the matter is that American Courts have no intelligible, generally accepted and consistently apllied theory of statuory interpretation.", Hart/Sacks (1958) S.
1169. Zur Problematik der Common-Law-Tradition im Hinblick auf demokratische Legitimation siehe auch Scalia (1997) S. 9 ff.
995 Vgl. oben S. 248 f.
291
logisch determiniert wird, sondern es sich dabei in vielen Fällen um einen Gestaltungsakt innerhalb eines durch interpretationsfähige Normtexte geschaffenen Ermessensspielraums handelt, ist es erforderlich, dass die Gerichte offenlegen, an welchen Interessen und Folgenabschätzungen sie ihre Entscheidung ausgerichtet haben
und diese entscheidungstragenden Erwägungen nicht hinter einem Mantel einer
scheinbar objektiven Auslegung verstecken996.
Gleichzeitig gewährleistet eine Gesetzesbindung auch die Vorhersehbarkeit der
Rechtsanwendung und damit die Rechtssicherheit. Indem sie einen Rahmen schafft
für die Folgenorientierung, die nach pragmatistischem Verständnis den Kern der
Rechtsanwendung ausmacht, sorgt sie dafür, dass sie Rechtsanwendung aus Sicht
der von ihr Betroffenen berechenbar und gleichförmig wird. Eine Bindung der
Rechtsanwendung an allgemeine Gesetze ist letztlich die Voraussetzung dafür, das
Recht pragmatistisch als die Vorhersage dessen zu begreifen, was die Gerichte tatsächlich tun, denn sie ist es, die eine Vorhersagbarkeit der Entscheidungen gewährleistet.
d) Gerichtliche Kontrolle des demokratischen Gesetzgebers
Besondere Probleme wirft die Frage nach der Zulässigkeit und dem Umfang einer
Kontrolle des demokratischen Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht auf, bei
der dem Gericht die Kompetenz zukommt, vom Gesetzgeber erlassene Normen für
nichtig zu erklären (Judicial Review). Die vielfältigen Facetten dieses komplexen
Problems können an dieser Stelle nicht umfassend erörtert werden997. Mit einem
pragmatistischen Verständnis von Recht und Demokratie, wie es vorstehend erörterte wurde, ist das Institut einer richterlichen Normenkontrolle jedenfalls nicht von
vornherein unvereinbar. Zwar folgt aus der Kritik des Pragmatismus an der Autonomie des Rechts und aus seiner Demokratietheorie ein grundsätzlicher Vorrang des
demokratischen Verfahrens. Da sich der demokratische Gesetzgeber aber einer
Selbstbindung etwa an den Grundrechtskatalog einer Verfassung unterwerfen kann,
kann er sich im Hinblick auf die Einhaltung dieser Selbstbindung auch der Kontrolle
einer unabhängigen Instanz wie etwa einem Verfassungsgericht unterwerfen. Zudem
ist der demokratische Gesetzgeber daran gehindert, über solche Institutionen und
Garantien zu disponieren, die dem Erhalt der Funktionsfähigkeit des demokratischen
Verfahrens selbst dienen. So hat er jene Grundrechte zu achten, die wie etwa die
Meinungsfreiheit, Voraussetzung rationaler deliberativer Willensbildungsprozesse in
der demokratischen Öffentlichkeit sind998. Es liegt daher nahe, einem unabhängigen
Verfassungsgericht die Rolle eines Hüters des demokratischen Prozesses zuzuwei-
996 Vgl. zu "Scheinbegründungen" bei gerichtlichen Entscheidungen auch Rüthers (2007) Rn.
913 ff.
997 Für eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Frage siehe insb. Habermas (2001 b) S.
136 f.; Zurn (2007).
998 Siehe oben S. 187 ff.
292
sen, der darüber wacht, dass der demokratische Gesetzgeber seinen Handlungsspielraum nicht überschreitet999. Eine solches Verständnis zieht dem Kompetenzbereich
des Verfassungsgerichts zur Judicial Review freilich engere Grenzen als eine Auffassung, die die Verfassung als eine objektive Wertordnung begreift, die nicht allein
die Spielregeln des demokratischen Verfahrens regelt, sondern die normativen
Grundlagen der Gesellschaft verkörpert1000 und dementsprechend das Verfassungsgericht ermächtigt, im Wege der richterlichen Normenkontrolle dem Gesetzgeber
immer dann Einhalt zu gebieten hat, wenn dieser durch seine Tätigkeit diese Grundlagen verlässt. Einem pragmatistischen Demokratieverständnis entspricht es dagegen
eher, die normativen Grundlagen der Gesellschaft nicht in dem zwar interpretationsfähigen aber dennoch vergleichweise starren Text einer Verfassung zu verankern,
sondern als etwas zu begreifen, dass durch die Dynamik des deliberativen öffentlichen Willensbildungsprozesses immerzu aufs Neue revidiert und weiterentwickelt
wird. Eine Auffassung, die O.W. Holmes in einem seiner Urteilsvoten auf die Formel gebracht hat, dass die Verfassung selbst als ein fortdauerndes Experiment begriffen werden muss1001. Für ein zur Normenkontrolle befugten Verfassungsgerichts
folgt daraus, dass es seine Aufgaben nicht nur im Sinne einer bloßen Interpretation
des Verfassungstextes verstehen darf, sondern auch ein offenes Ohr für die öffentlichen Diskurse außerhalb der juristischen Sphäre haben muss, in denen sich die Zivilgesellschaft darüber verständigt, was als gerecht und sozial wünschenswert gelten
soll1002.
Man kann den mit einer pragmatistischen Rechts- und Demokratietheorie verbundenen demokratischen Positivismus als den Endpunkt einer Entwicklung der Entmystifizierung und Säkularisierung des Rechts deuten. In der Moderne hatte sich die
zunächst die positivistische Einsicht durchgesetzt, dass weder ein Naturrecht noch
eine universal gedachte Vernunft dessen Geltung a priori garantieren konnten. Anders als seine Kritiker es ihm oft unterstellt haben, zieht der Pragmatismus daraus
aber nicht den Schluss, dass die Geltung des Rechts rein faktischer Natur und ein
Ergebnis kontingenter gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist. Im Lichte eines
pragmatistischen Verständnisses von Recht und deliberativer Demokratie kann
vielmehr auch eine normative Geltung des Rechts begründet werden, die sich aus
seiner Entstehung aus einem deliberativen demokratischen Verfahren speist, in dem
die öffentliche Vernunft der Gesetzgebungsverfahren autonomer Subjekte ihren
normativen Gehalt entfaltet.
999 Eine entsprechende Konzeption findet sich etwa bei Cass Sunstein, vgl. unten S. 305 ff.
1000 Ein derartiges Verständnis findet sich etwa beim deutschen Bundesverfassungsgericht, vgl.
BVerfG 7, 198, 205 f. Kritisch hierzu Habermas (1994) S. 309 ff.
1001 Abrams vs. United States, 250 U.S. 616, 630 (1919). Ähnlich auch Habermas (2001 b) S.
144, der die Konstituierung der normativen Grundlagen der Gemeinschaft als einen sich
selbst korrigierenden fortwährenden Lernprozess versteht.
1002 Dazu etwa Michelmann (1999) S. 58 ff.
293
IV. Das pragmatistische Erbe in der neueren amerikanischen Rechtstheorie
Seinen stärksten Einfluss übte der Pragmatismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf
die amerikanische Rechtstheorie aus. Doch das bedeutet nicht, dass er mit dem Ende
des Legal Realism von der Bildfläche verschwunden wäre. Anders als in der akademischen Philosophie, wo der Pragmatismus nach dem zweiten Weltkrieg zunächst
beinahe in Vergessenheit geriet und erst ab den 80er Jahren wieder eine Renaissance
erfuhr, blieb er in der amerikanischen Rechtstheorie in der einen oder anderen Form
durchgängig wirksam. In seiner theoriekritischen Ausprägung beeinflusste er insbesondere die Bewegung der "Critical Legal Studies"1003. Der pragmatische Instrumentalismus hingegen prägte vor allem die Economic Analysis of Law. Seine starke Akzentuierung von empirischer Folgenanalyse und -bewertung wurde in der amerikanischen Rechtswissenschaft fast schon zum Allgemeingut. Im folgenden sollen zwei
zeitgenössische Vertreter pragmatistischen Denkens in der amerikanischen Rechtstheorie vorgestellt werden. Dabei interessieren vor allem ihre Ausführungen zum
Verhältnis von Recht und Demokratie.
1. Richard Posner: Economic Analysis of Law und Legal Pragmatism
Richard Posner gehört zu den einflussreichsten zeitgenössischen Rechtstheoretikern
in den USA. Gleichzeitig Professor an der University of Chicago und Oberster Richter am Seventh Circuit Court of Appeals hat Posner zahlreiche Bücher und Aufsätze
zu rechtstheoretischen Themen veröffentlicht. In Deutschland kennt man ihn vor allem als wichtigen Protagonisten der Economic Analysis of Law. Posner ist darüber
hinaus aber auch einer der engagiertesten Vertreter eines modernen "Legal Pragmatism" im amerikanischen Rechtsdenken.
Die in den USA außerordentlich einflussreiche "Economic Analysis of Law" beschäftigt sich mit der Untersuchung der ökonomischen Folgen von Gesetzgebung
und Rechtsakten1004. Ihre philosophischen Grundlagen werden zumeist in der Philosophie des Utilitarismus verortet. Einen mindestens ebenso wichtigen Einfluss dürfte
jedoch der Pragmatismus ausgeübt haben. Erst der durch die pragmatistische Philosophie bewirkte "realistic turn" im amerikanischen Rechtsdenken führte ja dazu,
dass das Recht vor allem auch anhand seiner konkreten sozialen Konsequenzen in
den Blick geriet. Die Economic Analysis of Law ist ein exemplarisches Beispiel für
die konsequentialistische Betrachtungsweise des Rechts1005, die die klassischen
Rechtspragmatisten von Holmes bis Dewey immer eingefordert haben. Daher ist es
durchaus nahe liegend, dass Posner sich selbst dem Lager des "Legal Pragmatism"
zuordnet.
1003 Vgl. Horwitz (1992) S. 269 f.; Duxbury (1995) S. 427 ff.
1004 Dazu Posner (1972).
1005 Vgl. dazu etwa Eidenmüller (2005) S. 175 ff.; 264 ff.; Cotter (1996).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.