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als im Rechtsdenken von Holmes und Pound den konsequentesten Ausdruck pragmatistischen Denkens im Recht sieht926.
Nach den hier aufgeführten Merkmalen pragmatistischer Rechtstheorie weisen
Pound und vor allem Holmes aber wesentlich pragmatistischere Züge auf als der
Legal Realism, der sich eher als eine einseitige Zuspitzung einiger Elemente der
durch Holmes eingeleiteten empiristischen Wende in der amerikanischen Rechtswissenschaft darstellt.
2. Die empiristische Wende im amerikanischen Rechtsdenken
Der Rechtspragmatismus entstand als eine Reaktion auf die Krise, in die das amerikanische Rechtsdenken gegen Ende des 19. Jahrhunderts geraten war: Der an den
Universitäten gelehrte und an vielen Gerichten praktizierte juristische Formalismus
hatte zu einer Kluft zwischen dem Recht und der sozialen Wirklichkeit geführt. Dieser Form von Begriffsjurisprudenz, für die Rechtsanwendung vor allem eine Frage
korrekter logischer Begriffsoperationen war, entsprang eine Rechtsprechungspraxis,
die zunehmend als unflexibel, unzeitgemäß und oftmals auch als ungerecht empfunden wurde. Die Lochner-Entscheidung927 ist das prominenteste Beispiel für dieses
Auseinanderklaffen von Recht und sozialer Wirklichkeit.
a) Realistischer Rechtsbegriff statt des Dualismus von Sein und Sollen
Der Rechtspragmatismus hatte sich zur Aufgabe gesetzt, diese Kluft wieder zu
schließen. Er leitete dafür einen radikalen rechtstheoretischen Paradigmenwechsel
ein, der am deutlichsten in seinem realistischen Rechtsbegriff zum Ausdruck kam.
Die traditionelle Rechtstheorie hatte eine rationalistische Auffassung vom Wesen
des Rechts. Es war für sie in erster Linie ein Gefüge aus Normen, Prinzipien und
Begriffen. Dieser Sphäre des normativen Sollens stand die empirische Rechtswirklichkeit gegenüber und daher war das große Thema der rationalistischen Rechtstheorie, wie das Verhältnis von Sein und Sollen zu bestimmen war.
Diesem Rationalismus setzte der Rechtspragmatismus ein primär empirisches
Verständnis des Rechts entgegen, wie es sich in seinem realistischen Rechtsbegriff
ausdrückt. Das Recht war eine Form der Gestaltung der sozialen Umwelt, entsprechend war die Bedeutung des Rechtsbegriffs definiert durch die sozialen Konsequenzen, die die Rechtsanwendung hervorbrachte. Dieser Rechtsbegriff erwuchs
konsequent aus dem Boden der pragmatistischen Philosophie. Aus deren Perspektive
erschien die strikte Trennung von Sein und Sollen, die das rationalistische Rechtsverständnis charakterisierte, nur als ein weiterer überflüssiger Dualismus, der einer
926 Fikentscher (1975) S. 275 ff.; ähnlich Rea-Frauchiger (2006) S. 29.
927 Dazu oben S. 211.
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vergeblichen Suche nach absoluter Gewissheit in einem fiktiven Reich der Begriffe
entsprang. Für den Pragmatismus, für den die Bedeutung eines Begriffs ausschließlich in dessen praktisch wahrnehmbaren Folgen bestehen konnte, war es selbstverständlich, dass auch der Rechtsbegriff nur von seinen sozialen Konsequenzen her
bestimmt werden konnte. Das Problem der Vermittlung von Sein und Sollen stellt
sich für den Rechtspragmatismus nicht, da dieses Spannungsverhältnis hier schon
von vornherein zugunsten des Seins aufgelöst worden ist928.
b) Instrumentalismus statt Autonomie des Rechts
Die vom Rechtspragmatismus vollzogene empirische Wende hatte zur Folge, dass
das Recht weitgehend seine Autonomie einbüßte. Autonomie des Rechts meint dabei dessen Fähigkeit, die Kriterien seiner Anwendung selbst vorzugeben und über
eigene Standards der Rationalität zu verfügen. Indem der Rechtspragmatismus das
Recht aber zu einem bloßen Teilaspekt des empirisch zu beobachtenden sozialen
Geschehens erklärte, war klargestellt, dass es nicht seinen eigenen Regeln zu folgen
hatte, sondern denen, die auch die übrige soziale Wirklichkeit bestimmten. Aus der
naturalistisch-evolutionären Weltsicht des Pragmatismus waren diese bestimmt
durch die Erfordernisse zur Anpassung an eine sich stetig verändernde natürliche
und soziale Umwelt. Die Rationalität, mit der diesen Erfordernissen nach pragmatistischer Auffassung am besten beizukommen war, war die eines experimentellen
Instrumentalismus. Dessen Logik von Situationsanalyse, Folgenabschätzung und
Zweck-Mittel-Relationen musste auch die rechtliche Praxis gehorchen. Das Recht
unterschied sich so nur noch durch seinen Gegenstandsbereich aber nicht mehr
durch seine Methode von anderen gesellschaftlichen Institutionen wie Politik oder
Wirtschaft.
Zwar konstatierte auch der realistische Rechtsbegriff, indem er nicht auf die bloße
Summe der rechtlichen Entscheidungen, sondern auf deren Vorhersehbarkeit abstellte, dass der praktischen Rechtsanwendung eine durch die Normen und Prinzipien
des Rechts bestimmte Regelhaftigkeit zugrunde lag. Doch auch diese Regelhaftigkeit war nicht mehr einer selbstzweckhaften Rechtsidee verpflichtet, sondern war
wiederum nur ein Instrument zur Beförderung allgemeiner sozialer Interessen, die
eine größtmögliche Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit rechtlicher Entscheidungen wünschenswert erscheinen ließen. Die Rechtsanwendung ist demnach nur auf
den ersten Blick tatsächlich durch das rationale System der Normen, Prinzipien und
Rechtsbegriffe determiniert. Der Richter scheint tatsächlich lediglich den Einzelfall
unter die allgemeine Norm zu subsumieren und so zu seiner Entscheidung zu gelangen. Aus pragmatistischer Sicht ist es freilich nicht die Norm als Sollensvorschrift,
die die Entscheidung determiniert. Die Norm wird im Rechtspragmatismus gerade
nicht als Sollensanweisung an den Richter verstanden, sondern als eine Hypothese,
928 Vgl. dazu auch Habermas (1992) S. 245 ff.
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die die Erfahrung verallgemeinert, dass die in der Norm vorgesehene Rechtsfolge
(d.h. die faktischen sozialen Konsequenzen der Entscheidung) zu einem sozial und
politisch wünschenswerten Ergebnis führen wird. Entscheidend ist folglich nicht,
dass die Norm besagt, der Richter solle so entscheiden, wie die Norm es nahe legt.
Ausschlaggebend ist vielmehr immer die Erwägung, dass die Entscheidung sozial
wünschenswerte Folgen zeitigen wird. Daher steht die regelgeleitete Rechtsanwendung immer unter dem Vorbehalt, dass sie zu einem sozial gewünschten Ergebnis
führt. Normen und Prinzipien können daher im Einzelfall auch suspendiert werden,
wenn die Abwägung der Entscheidungsfolgen zu dem Ergebnis führt, dass diese sozial unerwünscht sind.
c) Sozialtechnologie statt Geisteswissenschaft
Die empirische Betrachtungsweise des Rechts und dessen Instrumentalisierung für
politische Zweckprogramme machten es dem Rechtspragmatismus möglich, ein
quasi sozialtechnologisches Rechtsverständnis zu propagieren. Der Rechtspragmatismus entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa um dieselbe Zeit, als sich auch
die modernen Sozialwissenschaften als eine Verbindung aus empirischer Feldanalyse mit statistischen Methoden entwickelten. Speziell in den Vereinigten Staaten trugen diese neuen Sozialwissenschaften von Beginn an einen stark technokratischen
Zug. Anders als in Europa orientierten sich die neuen Sozialwissenschaften hier in
ihren Fragestellungen und Methoden nicht am Vorbild der Geisteswissenschaften,
insbesondere der Geschichte, sondern am Vorbild der Naturwissenschaften929. Ihre
Aufgabe sah man nicht nur in zweckfreiem Erkenntnisgewinn, sondern vor allem
auch in der Ermöglichung der Steuerung komplexer gesellschaftlicher Vorgänge. Es
ging weniger um eine Sinndeutung historischer Entwicklungen, die zu bestimmten
sozialen Institutionen geführt hatten, sondern um Steuerung und Machbarkeit von
sozialem Fortschritt. Das Ziel war die Entwicklung einer rationalen Sozialtechnologie, durch die die Gesellschaft genauso kontrolliert und gesteuert werden konnte,
wie sich durch Physik und Ingenieurswissenschaften natürliche Vorgänge beherrschen ließen930. Was die Möglichkeiten einer solchen Entwicklung anbelangte, war
man zunächst ausgesprochen optimistisch. Man erwartete, dass die Sozialwissenschaften über kurz oder lang ebenso enorme Fortschritte verzeichnen würden, wie
dies die Naturwissenschaften seit der Neuzeit erreicht hatten, wenn man sich nur an
deren Methoden orientieren würde. Dieser sozialtechnologische Machbarkeitsoptimismus war ein wesentliches Kennzeichen der progressivistischen Bewegung, die
Anfang des 20. Jahrhunderts dem politischen Klima in den Vereinigten Staaten ihren
929 Vgl. dazu Ross (1991), die auch betont, dass das naturwissenschaftlich geprägte Selbstverständnis der modernen Sozialwissenschaften sich nicht zuletzt dem Einfluss der pragmatistischen Wissenschaftstheorie verdankt, S. 326 ff.
930 „there is no reason why political science may not be as truly scientific as chemistry or physics” , Odegard (1940) S. 159.
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Stempel aufdrückte931. Dass er sich nicht bewahrheitete, worauf später noch näher
einzugehen sein wird932, war eine wichtige Ursache für die Krise, in die der Legal
Realism und mit ihm der gesamte Rechtsinstrumentalismus in den vierziger Jahren
des letzten Jahrhunderts gerieten.
d) Der Sonderweg der amerikanischen Rechtstheorie
Mit ihrer empiristischen Wende hat die amerikanische Rechtstheorie einen Sonderweg beschritten. Auch die europäische, insbesondere die deutsche Rechtstheorie sah
sich zum Ende des 19. Jahrhunderts vor die Aufgabe gestellt, die Dogmen der Begriffsjurisprudenz zu überwinden, die offensichtlich der Rechtswirklichkeit nicht
mehr gerecht wurden. Kurzfristig sah es auch hier so aus, als würde die Rechtswissenschaft sich in eine empirischere Richtung entwickeln. Insbesondere Rudolf von
Jherings „Der Zweck im Recht“ schien, beeinflusst vom Positivismus Comtes und
dem britischen Utilitarismus, den Weg für ein naturalistisches, von realen sozialen
Zwecken bestimmtes Rechtsverständnis ebnen zu wollen933. Doch diese Auffassung
konnte sich in Deutschland nicht durchsetzen. Gleiches gilt für die Freirechtsschule,
die den Richter von der strikten Bindung an das Gesetz befreien und ihn stattdessen
nur noch den sozialen Interessen des Gemeinwohls verpflichten wollten, ein Programm, mit dem sie in den Vereinigten Staaten bei den Vertretern des Legal Realism durchaus Anklang fanden934. Stattdessen wurde in Deutschland die Begriffsjurisprudenz von der Interessen- bzw. Wertungsjurisprudenz abgelöst. Hier wurde das
Recht zwar auch gesellschaftlichen Interessen dienstbar gemacht, doch sollten diese
Interessen nicht auf empirischem Wege, sondern primär durch die Auslegung der
Gesetze ermittelt werden. In Verbindung mit dem Erstarken einer Theorie der „objektiv-teleologischen“ Auslegung wurde so im Ergebnis an der Autonomie des
Rechts als einem rationalen Gefüge von Normen festgehalten. Statt der Errichtung
begrifflicher Systeme und logischer Deduktion standen nun die Probleme der richtigen Interpretation von Normtexten im Vordergrund, wobei aber weiterhin auf
rechtsinterne Kriterien zurückgegriffen wurde. Rechtsanwendung blieb so in erster
Linie Rechtsfindung und -gewinnung. Ein instrumentalistisches Rechtsverständnis,
das die Rechtsanwendung als Sozialtechnologie verstand, die sich vor allem an
rechtsexternen Entscheidungsfolgen zu orientieren hatte, blieb der deutschen
Rechtstheorie hingegen fremd.
Dass die Antworten auf die Krise der Begriffsjurisprudenz in den USA und
Deutschland so gänzlich verschieden ausfallen konnten, dürfte daran gelegen haben,
dass die Rechtswissenschaften in beiden Ländern vor einem unterschiedlichen philosophischen Hintergrund operierten. In Deutschland war die Rechtswissenschaft
931 Purcell (1973) S. 26 ff.; Ross (1991) S. 247 ff.
932 Siehe unten S. 271 ff.
933 Vgl. dazu Rüthers (2007) Rn. 518 ff.; Wieacker (1996) S. 450 ff.
934 Dazu oben S. 260 f.
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unter den erstarkenden Einfluss des Neukantianismus geraten. Dieser hielt an einer
strengen Trennung von Sein und Sollen fest und war in der Tradition der kantischen
Wissenschaftstheorie skeptisch gegenüber der Empirie. Dem entsprach eine strikte
Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Da die Rechtswissenschaft zu den
letzteren gezählt wurde, war es nicht verwunderlich, dass empirischnaturwissenschaftliche Denkweisen kaum von ihr rezipiert wurden. Dagegen entwickelte sich die Rechtstheorie in den Vereinigten Staaten vor dem Hintergrund der
Vorherrschaft der pragmatistischen Philosophie. Für sie war die experimentelle
Vorgehensweise der Naturwissenschaften die wissenschaftliche Methode schlechthin. Vor diesem Hintergrund konnte dann auch eine vorwiegend empirisch ausgerichtete Rechtstheorie besser gedeihen, als dies im kantianischen Klima in Deutschland hätte gelingen können.
3. Die Kritik am Rechtspragmatismus
Der Rechtspragmatismus hat von Beginn an zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen. Die Einwände können grob in vier Gruppen unterteilt werden: Eine Stossrichtung der Kritik zielt gegen den pragmatistischen Rechtsbegriff, dem vorgeworfen
wird, das Phänomen Recht nicht angemessen zu beschreiben. Problematisch ist auch
die bedeutende Rolle, die der Rechtspragmatismus den empirischen Sozialwissenschaften bei der Rechtsanwendung zuschreibt. Ein weiteres Problem besteht in der
mit einem instrumentalistischen Rechtsverständnis tendenziell verbundenen Schwächung der richterlichen Gesetzesbindung. Schließlich hat Ronald Dworkin noch eine
grundsätzliche Kritik des pragmatistischen Rechtsinstrumentalismus vorgelegt, die
auf die Unverzichtbarkeit der Autonomie des Rechts abzielt.
a) Die Kritik am pragmatistischen Rechtsbegriff
Der pragmatistische Rechtsbegriff begreift das Recht in erster Linie als ein empirisches Phänomen. Recht ist danach wesentlich die Voraussage dessen, was die Gerichte tatsächlich entscheiden werden.
Man kann einem so gefassten Rechtsbegriff jedoch vorwerfen, nicht realistisch
oder empirisch genug zu sein935. Denn wenn Recht die Voraussage dessen ist, was
die Gerichte entscheiden werden, so stellt sich die Frage, wie Richter bzw. andere
Amtsträger von sonstigen Entscheidungsträgern zu unterscheiden sind. Weshalb
sind die sozial relevanten Entscheidungen von Richtern Recht, nicht aber die sozial
ebenfalls relevanten Entscheidungen eines Managers? Die Unterscheidung zwischen
einem Richter bzw. sonstigem Amtsträger und einem Laien ist aber eine normative,
935 So etwa Bechtler (1977) S. 40; Hart (1973) S. 190; Rea-Frauchiger (2006) S. 157.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.