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ging es um ein Gesetz des Staates New York, dass die Arbeitszeit in Bäckereien auf
60 Stunden pro Woche beschränkte. Der Supreme Court erachtete dieses Gesetz für
verfassungswidrig, weil es gegen die Due-Process-Klausel des 14. Amendments
verstoße: Es beeinträchtige in verfassungswidriger Weise die Vertragsfreiheit, weil
es einem Arbeiter, der freiwillig länger als 60 Stunden arbeiten wollte, dieses nicht
gestatte.
Die Argumentation des Supreme Courts war eine rein begriffsjuristisch-formale
im Stile Langdells685. Die Due-Process-Klausel verbietet die Einschränkung bürgerlicher Freiheit ohne gerichtlichen Prozess. Der Begriff der Freiheit umfasst auch die
Freiheit zum Abschluss eines Arbeitsvertrages. Daher verstößt ein Gesetz, dass diese
Freiheit einschränkt, ohne für jeden Einzelfall ein gerichtliches Verfahren vorzusehen, gegen das 14. Amendment.
Holmes weist in seinem Dissent zu diesem Urteil zunächst darauf hin, dass die
formalistische Interpretation des Freiheitsbegriffs im 14. Amendment zu einem absurden Widerspruch mit der übrigen Rechtsordnung führt, da gesetzliche Freiheitseinschränkungen im amerikanischen wie in jedem anderen Recht völlig selbstverständlich sind, wie sich schon an den Schulgesetzen zeige686.
Nach Holmes Einschätzung ist das Urteil des Supreme Courts zudem nur vorderhand ein Ergebnis logischer Auslegung des Begriffs Freiheit. Es sei ein Irrtum, anzunehmen, dass sich allein aus abstrakten Aussagen mit zwingender Logik konkrete
Fälle entscheiden ließen: „General propositions do not decide concrete cases.“687
Letztlich beruhe das Urteil darauf, dass das Gericht einer bestimmten Wirtschaftstheorie – nämlich der des Laissez-Faire-Kapitalismus – anhänge und versuche, diese in den Text der Verfassung hineinzulesen. Dieser sei aber gerade keine
Präferenz für eine bestimmte Wirtschaftsordnung zu entnehmen688. Die Lochner-
Entscheidung bildet damit ein Paradebeispiel dafür, wie eine formallogische Argumentation dazu dient, politische Präferenzen zu verbergen, die in Wahrheit die eigentliche Grundlage der Entscheidung bilden.
3. Der Rechtsbegriff der „Prediction Theory of Law“
Im Gegensatz zur Tradition der "Analytical Jurisprudence" stand für Holmes im
Zentrum des Rechts nicht die Logik, sondern Erfahrung. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Konzepts von "law as experience" ist ein spezifischer Rechtsbegriff. Denn
Holmes radikale Abkehr von der traditionellen analytischen Rechtstheorie führte da-
685 Vgl. auch Feldman (2000) S. 100 f. Differenzierend Grey (2003) S. 494 ff., der betont, dass
die Lochner-Entscheidung neben einer formalistischen vor allem auch von einer naturrechtlichen Argumentation getragen wird.
686 Holmes (1992) S. 306. Auch hier wieder ein typisches Holmes-Argument, das einer formalistischen Rechtsauffassung die empirische Rechtswirklichkeit entgegenhält.
687 Holmes (1992) S. 306.
688 Holmes (1992) S. 306.
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zu, dass er auch deren auf der Imperativentheorie basierenden Rechtsbegriff revidieren musste689. Austins Auffassung, wonach jegliches Recht auf den Befehl eines
Souveräns zurückzuführen sei690, war als eine rein begriffsanalytische Definition des
Rechtsbegriffs gedacht, und konnte daher dem Anspruch Holmes’ nicht gerecht
werden, Recht als „experience“ zu begreifen, d.h. als reales Phänomen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Holmes musste stattdessen an einem realistischen Rechtsbegriff
gelegen sein, der gerade diesen Bezug zur empirischen Wirklichkeit betonte.
a) Die "Prediction Theory of Law" und die pragmatische Maxime
Mit seiner „Prediction Theory of Law“ hat Holmes einen solchen Rechtsbegriff
formuliert. In „The Path of the Law“, einem Vortrag vor Studenten der Harvard-Law
School, der 1897 in der Harvard Law Review veröffentlicht wurde und der zu einem
der einflussreichsten und meistzitierten Beiträge der amerikanischen Rechtswissenschaft werden sollte, hat Holmes ihm seine wohl prägnanteste Form gegeben:
„The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I
mean by the law.“691.
Dass es ihm dabei tatsächlich um einen ausschließlich realistischen, von allen
normativen Implikationen freien Rechtsbegriff ging, wird aus den vorausgehenden
Ausführungen von Holmes deutlich, in denen er seine Zuhörer auffordert, ich für die
Betrachtung des Rechts von allen moralischen Erwägungen freizumachen, und stattdessen den Standpunkt eines „bösen Mannes“ einzunehmen, um das Recht von einer
amoralischen und damit normativ neutralen Warte aus untersuchen zu können:
„If You want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad man, who cares
only for the material consequences which such knowledge enables him to predict, not as a
good one, who finds his reasons for conduct, wheter inside the law or outside of it, in the
vaguer sanctions of conscience.“692
Rechtsnormen und Präjudizien stellen nach der "Prediction Theory" nichts anderes dar als Vorhersagen dessen, was die Gerichte tatsächlich entscheiden werden.
Das Recht wird somit von Holmes aus der abstrakten Ebene deontologischer Rechte
und Pflichten herabgeholt und ganz auf dem Boden der Tatsachen verankert. Entscheidend ist „what the courts will do in fact“, also die empirisch feststellbaren tatsächlichen Auswirkungen des Rechts auf die soziale Wirklichkeit. Der Sinngehalt
einer Rechtsnorm besteht deshalb für Holmes nicht in der Begründung von Rechten
und Pflichten, sondern darin, dass sie für ein bestimmtes Verhalten den Eintritt bestimmter Folgen prognostiziert, die gegebenenfalls durch die Entscheidung des Gerichts herbeigeführt werden. Wenn es z.B. in § 212 StGB heißt „Wer einen Men-
689 Dazu auch Kellogg (2007) S. 64 ff.
690 Austin (1832) S. 10 ff.
691 Holmes (1992) S. 163.
692 Holmes (1992) S. 162.
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schen tötet ... wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft“, so besteht der rechtliche Sinngehalt dieser Vorschrift nach Holmes nicht in
dem Verbot, einen anderen zu töten, sondern in der Vorhersage, dass das Töten eines Menschen – die anschließende Verhaftung des Täters vorausgesetzt – dazu führt,
dass der Täter für mindestens fünf Jahre ins Gefängnis muss.
Holmes’ Prediction-Theory erinnert bereits auf den ersten Blick stark an Peirces
pragmatische Maxime. Indem Holmes den Rechtsbegriff auf wahrnehmbare praktische Konsequenzen, nämlich das tatsächliche Entscheidungsverhalten der Gerichte,
zurückführt, führt er getreu der pragmatischen Maxime die Bedeutung des Rechtsbegriffes auf dessen wahrnehmbare Auswirkungen in Form der von den Gerichten
gefällten Entscheidungen zurück693.
Max Fisch hat als erster auf diese Verwandtschaft hingewiesen694, die schon allein deswegen nahe liegt, weil Holmes ebenso wie Peirce Mitglied des Metaphysical
Club in Cambridge war. Zeitweilig ging Fisch sogar davon aus, dass die pragmatische Maxime von Peirce letztlich nur die Verallgemeinerung von Holmes’ Prediction-Theory darstellt. Eine These, die er dann aber später wieder zurückgenommen
hat695. Ob nun die pragmatische Maxime zur Prediction-Theory geführt hat oder
umgekehrt, muss an dieser Stelle ungeklärt bleiben. Dass aber der Ursprung von
beiden letztlich in den Ideen zu suchen ist, die im Metaphysical Club kursierten, ist
jedenfalls hoch wahrscheinlich. Bereits in seiner ersten juristischen Veröffentlichung „Codes and the Arrangement of the Law“696 aus dem Jahr 1870 betont Holmes die Tätigkeit der Gerichte für die Definition dessen, was Recht ausmacht:
„Courts ... give rise to lawyers, whose only concern is with such rules that the courts
enforce.“697. Zwei Jahre später hatte die Prediction-Theory bereits Gestalt angenommen: „The only question for the lawyer is, how will the judges act? Any motive
for their action, be it constitution, statute, custom or precedent, which can be relied
upon as likely in the generality of cases to prevail, is worthy of consideration as one
of the sources of law, in a treatise on jurisprudence.“698. Holmes entwickelte seine
Prediction Theory in etwa zur selben Zeit wie Peirce die pragmatische Maxime.
Letztere wurde zwar erstmals 1878 in dem Aufsatz „How to make our ideas clear“
in ihrer endgültigen Form ausformuliert, der zugrunde liegende Gedanke lässt sich
bei Peirce aber bereits 1871 nachweisen699. Beide Ideen sind also zu einer Zeit gebo-
693 Ganz ähnlich führt in der deutschen Peirce-Rezeption etwa Lege (1999) S. 490 ff. die Bedeutung von Rechtsbegriffen auf deren Rechtsfolgen zurück. Allerdings würde Holmes
wohl die strenge Unterscheidung von Rechts- und Realfolgen, die Lege vornimmt (vgl.
ders. (1999) S. 494 f.), zurückweisen, da gerade die Einbeziehung der Realfolgen in die
richterliche Entscheidungspraxis die wesentliche Schlussfolgerung seines Konzepts von
"Law as Experience" darstellt.
694 Fisch (1942).
695 Vgl. die Nachweise bei Schulz (1988) S. 113 Fn. 119.
696 Holmes (1984) S. 77f.
697 Holmes (1984) S. 81.
698 Holmes (1984) S. 92.
699 Vgl. dazu oben S. 38 Fn. 68.
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ren worden, als Peirce und Holmes Mitglieder des Metaphysical Clubs waren. Auch
wenn Holmes dem Club nicht so eng verbunden war und mit Peirce kaum Kontakt
pflegte700, so pflegte er doch regen Austausch mit Chauncey Wright und Nicholas
St. John Green, die ihrerseits beide die Arbeiten von Peirce beeinflußten701. Beide
hatten sich Bains Konzept von Überzeugungen als Verhaltensdispositionen zu eigen
gemacht702, in dem bereits die Überwindung des Gegensatzes von Geist und Handlung, Theorie und Praxis angelegt war und das so zur Keimzelle des Pragmatismus
werden konnte703. Auch Holmes war ein Anhänger von Bains These, dass Ideen und
Überzeugungen als Dispositionen zu einem bestimmten Verhalten aufgefasst werden
mussten: „Every idea is an excitement. It offers itself for belief and if believed is
acted upon unless some other belief outweighs it or some failure of energy stifles the
movement at its birth.“704. Auch wenn deshalb nicht eindeutig festzustellen ist, dass
Holmes und Peirce einander – in welcher Richtung auch immer - direkt beeinflusst
haben, so bleibt doch festzuhalten, dass sowohl die pragmatische Maxime als auch
die Prediction-Theory die Fortentwicklung jener metaphysikkritischen und evolutionistischen Ideen darstellen, die im Metaphysical Club kultiviert worden sind. Holmes hat für die Prediction-Theory zwar niemals das Prädikat pragmatisch in Anspruch genommen, dass er mit ihr inhaltlich aber den Rechtsbegriff nach denselben
Kriterien bestimmte, wie sie in der pragmatischen Maxime enthalten sind, liegt auf
der Hand.
b) Die Bedeutung der "Prediction Theory of Law"
Ebenso wie die pragmatische Maxime führt auch die Prediction-Theory bei oberflächlicher Lesart leicht zu Missverständnissen. So darf sie nicht in dem reduktionistischen Sinne missverstanden werden, dass das Recht identisch sei mit der Summe der von den Gerichten getroffenen Entscheidungen. Denn dann wären ja auch
alle gesetzlichen Normen so lange kein Recht, bis nicht ein Gericht diese Norm zur
Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat. Holmes spricht aber bewusst davon,
dass das Recht nicht aus den Entscheidungen der Gerichte selbst besteht, sondern
aus den Vorhersagen, wie die Gerichte entscheiden würden. Ebenso wie bei der
pragmatischen Maxime Peirces die Bedeutung des Begriffs nicht in ´den ganz konkreten praktischen Folgen aufgeht, sondern in der Regelhaftigkeit, mit der der Gegenstand des Begriffs seine Folgen zeitigt, ist auch bei Holmes das Recht durch diejenigen Folgen (d.h. Entscheidungen) definiert, die es voraussichtlich kraft der ihm
immanenten Regelhaftigkeit in Zukunft hervorbringen wird.
700 Vgl. dazu oben S. 204 ff.
701 Vgl. Schulz (1988) S. 91 ff.;
702 Zu Green vgl. Wiener (1969) S. 154, 169; zu Wright siehe Schulz (1988) S. 91 ff.
703 Dazu oben S. 34 f..
704 Holmes (1992) S. 322.
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Nur aufgrund dieser Regelhaftigkeit kann es überhaupt sinnvoll sein, davon zu
sprechen, dass ein konkretes einzelnes Urteil im rechtlichen Sinne falsch ist. Dies ist
nämlich dann der Fall, wenn es den Vorhersagen widerspricht, die sich aus den Gesetzen und Präjudizien ergeben. Gleichwohl wird dadurch eine Fortentwicklung des
Rechts nicht ausgeschlossen. Folgen nämlich auf das konkrete Urteil weitere desselben Inhalts, so verlieren die Präjudizien und Gesetze ihre Vorhersagekraft und damit
mangels faktischer Geltung ihren Rechtscharakter. Im Gegenzug wird die neue Urteilspraxis zum Recht, weil nunmehr sie es ist, die Regelhaftigkeit und Vorhersagbarkeit verbürgt.
Allerdings lässt sich fragen, ob Holmes Rechtsbegriff nicht zu eng ist, wenn er
das Recht auf die Entscheidungspraxis der Gerichte beschränkt705. Schließlich enthalten moderne Rechtssysteme durchaus auch Normen, die nie zum Gegenstand
richterlicher Entscheidungen werden. Zu nennen wäre hier beispielsweise das durch
völkerrechtliche Verträge geschaffene Völkerrecht, das keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegt, gleichwohl aber eine Bindungswirkung unter den vertragsschlie-
ßenden Staaten entfaltet. Auch Holmes selbst spricht an anderer Stelle diesem Völkerrecht durchaus Rechtscharakter zu706. Dies ist allerdings kein grundsätzliches Argument gegen einen realistischen Rechtsbegriff, sondern nur gegen eine allzu enge
Fassung desselben. Da auch diese Normen praktisch wahrnehmbare Konsequenzen
hervorbringen, in dem sie tatsächliches Verhalten steuern, sind sie der Subsumtion
unter einen realistischen Rechtsbegriff ohne weiteres fähig707.
Auf den ersten Blick scheint Holmes Rechtsbegriff zirkulär zu sein. Denn wenn
das Recht dadurch definiert ist, wie die Gerichte tatsächlich entscheiden, stellt sich
die Frage, nach welchen Kriterien diese Entscheidungen denn dann erfolgen sollen.
Dieses Zirkelproblem ergibt sich aber nur dann, wenn man die Prediction-Theory
aus der internen Perspektive des Richters heraus anwenden will. Dem Richter, der
wissen möchte, wie er einen konkreten Fall entscheiden soll, bietet die Prediction-
Theory hierfür keine Anhaltspunkte außer dem Verweis darauf, wie bislang in ähnlichen Fällen entschieden wurde. Für diese Richterperspektive hat Holmes seine Theorie allerdings auch gar nicht konzipiert708. Sie ist vielmehr von vornherein als eine
Beschreibung des Rechts von außen her gedacht, als eine Beschreibung etwa aus der
Perspektive des Anwalts, der einen Klienten berät, bzw. aus der Perspektive des
„bad man“, der das Recht völlig nüchtern und ohne moralische Implikationen als
einen Teil der sozialen Wirklichkeit betrachtet, den er bei den Plänen für sein Handeln zu berücksichtigen hat. Die Prediction Theory ist so in erster Linie als eine Definition aus der Perspektive des Rechtsanwalts zu sehen, für den der Umgang mit
705 Summers (1982) S. 129.
706 Holmes (1984) S. 81.
707 Zu dem Einwand, der realistische Rechtsbegriff könne nicht angeben, welche Entscheidungen überhaupt dem Bereich des Rechts zuzuordnen sind, vgl. unten S. 269 f.
708 Der entsprechende Einwand von Summers (1982) S. 131 greift daher nicht durch. Vgl. auch
Grey (1989) S. 835 f.. Das realistische Rechtsverständnis aus der Perspektive des Richters
wird von Cardozo in "The Nature of the Judicial Process" thematisiert, dazu auch Posner
(1990) S. 32.
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dem Recht Teil seines täglichen Handwerks ist709. Und aus der Sicht eines Anwalts,
der einen Mandanten zu beraten hat, ist es in der Tat angebracht, im Recht vor allem
das zu sehen, was die Gerichte tatsächlich entscheiden werden. Da der Anwalt regelmäßig nicht selbst zu entscheiden hat, ist für ihn deskriptive Außenperspektive
der „Prediction Theory“ durchaus angemessen, ebenso wie für denjenigen, der sich
z.B. als Soziologe darauf beschränkt, das Recht von einer externen Position aus zu
untersuchen.
c) Das Verhältnis von Recht und Moral
Das Recht hat gemäß der Prediction Theory nicht den Charakter einer deontologischen Sollensordnung, die Rechte und Pflichten begründet und so auf das Verhalten
der Rechtsunterworfenen einwirkt. Das Recht bewirkt Verhaltenssteuerung vielmehr
dadurch, dass die Bürger die Folgenprognosen, die das Recht für bestimmte Verhaltensformen enthält, im Rahmen ihrer Zweck-Mittel-Kalküle berücksichtigen.
Dass im Recht überhaupt von Pflichten und Rechten die Rede ist, ist für Holmes
in den meisten Fällen das Resultat einer Sprachverwirrung, einer fehlerhaften Übertragung moralischer Begrifflichkeiten auf das Recht. Diese Sprachverwirrung sieht
Holmes besonders im Vertragsrecht am Werk710. Schließen zwei Parteien einen Vertrag, so liegt die rechtliche Bedeutung dieses Aktes nicht daran, dass dadurch Rechte
und Pflichten begründet werden, sondern die Bedeutung besteht darin, dass gegebenenfalls durch ein Gericht die Vornahme der Leistung oder die Zahlung von Schadensersatz erzwungen werden kann711. Das Recht legt danach sozusagen nur den
„Preis“ für bestimmte Verhaltensweisen fest.
Daraus folgt, dass die Eintreibung des Preises, d.h. die Durchsetzbarkeit, untrennbarer Bestandteil des Rechts ist. Ein Gesetz, dass de facto nicht durchgesetzt werden
kann (Holmes wählt dafür das ironische Beispiel einer gesetzlichen Erhöhung des
Bierpreises in Deutschland, die unweigerlich zu einem Volksaufstand führen würde)
wäre nur eine leere Worthülse, aber kein Recht712. Daher kann nach Holmes von einem Recht im Sinne eines subjektiven Anspruchs („legal right“) nur im Sinne einer
Position gesprochen werden, für deren Durchsetzung sich der Inhaber realistischerweise der Staatsgewalt wird bedienen können713.
Während die Durchsetzbarkeit damit essentiell zum Recht gehört, gilt dies für
seine Richtigkeit im moralischen Sinne gerade nicht, was sich schon daraus ergibt,
dass Holmes seinen Rechtsbegriff aus der Perspektive des "bad man" entwickelt.
709 „for men who want to use it [the body of the law] as the instrument of their business“,
Holmes (1992) S. 161.
710 „Nowhere is the confusion between legal and moral ideas more manifest than in the law of
contracts.“, Holmes (1992) S. 164.
711 Vgl. Holmes (1992) S. 163 f.
712 Holmes (1992) S. 162.
713 Holmes (1963) S. 169.
218
Diese Entkopplung von Recht und Moral hat dabei nicht nur den Sinn, sprachliche
Verwirrungen zu vermeiden, sondern sie ist zwingend, weil Recht und Moral für
Holmes vollkommen unterschiedlichen Sphären angehören. Die Moralität ist für ihn
in der inneren Sphäre des individuellen Gewissens angesiedelt, ihre Normen sind
nicht erzwingbar. Das Recht hingegen dient der Erzwingung äußerlicher Verhaltenskonformität, unabhängig von der inneren Einstellung der Rechtsunterworfenen.
Holmes unterscheidet hier Recht und Moral nach denselben Kriterien wie Kant in
der Metaphysik der Sitten, bei dem das Recht ebenfalls „überhaupt nur das zum Objekte hat, was äußerlich ist“714. Wenn Recht und Moral somit unterschiedliche Gegenstandsbereiche betreffen – hier äußeres Verhalten und dort innere Einstellungen
– so wäre dies allein aber noch kein Hinderungsgrund, Recht und Moral insoweit zu
verbinden, als das erstere diejenigen äußeren Handlungen erzwingt, die mit dem
übereinstimmen, was letztere dem Gewissen aufgibt. Dem steht jedoch Holmes
grundsätzlicher moralischer Skeptizismus entgegen. Holmes verortet die Moral nicht
von ungefähr im individuellen Gewissen und macht sie dadurch gewissermaßen zur
Privatangelegenheit. Einen objektiven Maßstab, an dem sich die individuelle Moral
zwingend auszurichten hätte, gibt es für Holmes nicht, für den schon der Blick auf
die Geschichte der Menschheit die grundsätzliche Kontingenz und Zeitbedingtheit
aller moralischen Überzeugungen nahelegt. Für Holmes unterliegt auch das Reich
der Moral dem „law of fashion“715, Fragen der Moral sind daher für ihn ebenso wenig objektiv zu beantworten wie Fragen des Stils oder des Geschmacks. Eine Überzeugung, die vielleicht durch seine Bürgerkriegserfahrungen geprägt wurde, als er
die Erfahrung machen mußte, dass innerhalb ein und derselben aufgeklärten Gesellschaft die Kluft zwischen den moralischen Überzeugungen so groß werden kann,
dass sie einen Bürgerkrieg zur Folge hat716.
Nur scheinbar im Widerspruch dazu steht Holmes ebenfalls in „The Path of the
Law“ gemachte Äußerung: „The law is the witness and the external deposit of our
moral life. Its history is the history of the moral development of the race.“717. Holmes bringt darin zum Ausdruck, dass eine Quelle des Rechts durchaus auch die kollektiven moralischen Überzeugungen einer Gesellschaft sein können. Holmes konzediert auch, dass ein Recht, das eklatant den moralischen Überzeugungen einer Bevölkerungsmehrheit widerspricht, wohl kaum durchsetzbar wäre und ihm dann gegebenenfalls wegen der mangelnden Durchsetzbarkeit (und eben nicht wegen seiner
normativen Immoralität) der Rechtscharakter abzusprechen wäre. Das Recht stellt
somit zwar keinen Teilbereich der Moral dar, wird aber durch sie zumindest in seinen Gestaltungsmöglichkeiten tatsächlich begrenzt718. Entscheidend ist jedoch, dass
es bei diesen Erwägungen nicht darum geht, Moral als normativen Maßstab heranzuziehen, der eine Unterscheidung von richtigem und falschem Recht ermöglichen
714 Kant, AA VI, 232.
715 Holmes (1992) S. 186.
716 Vgl. dazu Howe (1951) S. 537 f.
717 Holmes (1992) S. 161.
718 Holmes (1992) S. 162.
219
würde, sondern darum, vorhandene moralische Überzeugungen als ein gegebenes
soziales Faktum zu berücksichtigen719. Dass Moral eine Quelle und unter Umständen auch eine faktische Begrenzung des Rechts darstellen kann, bedeutet deshalb
gerade nicht, dass damit auch der Inhalt des Rechts moralischer Natur ist720. Holmes
formuliert die Prediction-Theory gerade deshalb vom Standpunkt eines „bad man“
aus, um eben diese Unabhängigkeit des Rechts von der Moral klarzustellen721.
d) Das Verhältnis von Sein und Sollen
Der Rechtsbegriff der Prediction-Theory beinhaltet nicht nur eine strenge Trennung
von Recht und Moral. Indem er das Recht letztendlich auf das faktische Sein der tatsächlichen Entscheidungen der Gerichte und der mittel der ihnen immanenten Regelhaftigkeit geschaffenen sozialen Fakten reduziert, wird die normative Sollenskomponente vielmehr gänzlich ausgeblendet und das Recht allein als ein Phänomen
faktischen sozialen Seins definiert. Holmes hat damit einen „realistic turn“ in der
amerikanischen Rechtstheorie eingeleitet, der noch bis heute fortwirkt722.
Im Gegensatz zum realistischen Rechtsbegriff von Holmes steht der vor allem
auch in der kontinentaleuropäischen Rechtstheorie aber auch in Teilen der angloamerikanischen Tradition vorherrschende Rechtsbegriff, der das Recht als ein System von Normen definiert, wobei unter den Begriff der Norm sowohl Regeln als
auch Rechtsprinzipien fallen723. Da dieser Rechtsbegriff zumeist positivistisch verstanden wird, ist auch mit ihm eine vollständige oder zumindest weitgehende Trennung von Recht und Moral verbunden. Dadurch, dass er den Begriff der Norm in
den Mittelpunkt stellt, räumt er aber der Sollensdimension des Rechts eine besondere Bedeutung ein. Dies gilt insbesondere für den Positivismus von Hans Kelsen, der
in der Tradition des Neukantianismus stehend die strikte Wesensverschiedenheit von
Recht als einem Gefüge von Sollensnormen einerseits und dem Recht als einer empirisch feststellbaren Seinstatsache andererseits betont724. Die Dualität zwischen
Sein und Sollen, zwischen Faktizität und normativem Geltungsanspruch ist damit
schon in die Grundstruktur des Rechts eingelassen. Wie das Verhältnis der Sphären
von Sein und Sollen, deren strikte Trennung seit Kant jedenfalls in der deutschen
Rechtstheorie tradiert wird, zueinander zu bestimmen ist, und welche Wechselwir-
719 „The first requirement of a sound body of law is, that it should correspond with the actual
feelings and demands of the community, whether right or wrong.“, Holmes (1963) S. 36,
vgl. auch ebd. S. 38.
720 Vgl. auch Howe (1951) S. 541 f.
721 Diese normative Unabhängigkeit rechtfertigt es auch, Holmes als Positivisten zu betrachten, bei allen Unterschieden zum Positivismus etwa Austins und Hart, auf die Kellogg
(2007) S. 36 ff. zurecht hinweist.
722 Vgl. dazu Posner in Holmes (1992) xi.
723 Vgl. hierzu z.B. Alexy (2005) S. 201; Rüthers (2007) S. 41; für die anglo-amerikanische
Rechtstheorie vgl. etwa Hart (1973) S. 131 ff.; Dworkin (1967) S. 47.
724 Kelsen (1923) S. 70 ff.; dazu auch Dreier (1986) S.27 ff.
220
kungen zwischen den beiden Sphären bestehen, stellt für diese rechtstheoretische
Tradition ein, wenn nicht sogar das zentrale Problem dar725.
Demgegenüber reduziert der realistische Rechtsbegriff den Begriff der Norm auf
die bloße Vorhersage einer Entscheidung und damit eines tatsächlichen Ereignisses
in der Seinssphäre. Das Problem einer Vermittlung von Sein und Sollen stellt sich
hier nicht, da die Sollenskomponente ausgeblendet wird.
Aus pragmatistischer Sicht stellt die strikte Trennung von Sein und Sollen nur einen weiteren überflüssigen Dualismus dar, den es nicht nur in der Ethik, sondern
auch im Recht zu überwinden gilt. Die Etablierung einer eigenständigen, verselbständigten Sollenssphäre mit eigenem ontologischen Status stellt danach ebenso einen aus einer verfehlten „Suche nach Gewißheit“ resultierenden intellektualistischen
Fehlschluss dar, wie die Verselbständigung von bestimmten Qualitäten der Erfahrung zu einem „Reich der Ideen“726. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es daher
gerechtfertigt, Holmes Rechtsbegriff nicht nur das Prädikat „realistisch“ sondern
auch das Prädikat „pragmatistisch“ zuzuschreiben. Holmes Rechtsbegriff verändert
die Bedeutung von Rechtserkenntnis in derselben Weise, wie die pragmatistische
Philosophie den Erkenntnisbegriff revolutionierte. Es geht nicht mehr darum, das
Recht als etwas bereits objektiv Vorgegebenes zu entdecken, sondern es geht um die
Gestaltung von Wirklichkeit. Der pragmatistische Rechtsbegriff impliziert eine vollständige Abkehr von Deontologie hin zu einem rechtlichen Konsequentialismus.
Zwar sagte Holmes selbst an einer Stelle, „the judging of law by its effects and results did not have to wait for William James“727. Und in der Tat beinhaltete schon
Benthams Utilitarismus eine konsequentialistische Rechtsauffassung. Anders als bei
Holmes steht der Rechtsbegriff des Utilitarismus aber noch immer auf dem Fundament einer dualistischen Philosophie, die streng zwischen Sein und Sollen unterscheidet. So ist das utilitaristische Prinzip des „größten Glücks der größten Zahl“ ein
mit den Mitteln der Vernunft deduziertes deontologisches Prinzip, auch wenn es zu
seiner Verwirklichung eine Berücksichtigung von Handlungskonsequenzen erfordert. Bei Holmes hingegen ist das Recht dieser deontologischen Komponente völlig
entkleidet und wird ausschließlich als ein reales Phänomen begriffen, das seine Rolle im evolutionären Kampf um das Dasein zu spielen hat728.
Holmes Prediction-Theory treibt dem Rechtsbegriff so seinen normativen Gehalt
aus. Die Norm verweist nicht mehr auf das, was sein soll, verbunden mit der Forderung, die Wirklichkeit daran zu messen. Stattdessen stellt sie nurmehr eine Prognose
darüber dar, was – z.B. in Form einer gerichtlichen Entscheidung – tatsächlich geschehen wird729.
725 So Röhl (2001) S. 111.
726 Vgl. oben S. 44 f.
727 Holmes-Laski-Letters 20 (Brief vom 15. September 1915).
728 In einem Brief an Laski spricht Holmes selbst von einer „rough equation between isness
and oughtness“, Holmes-Laski-Letters II S. 948; dazu Rogat (1964) S. 236.
729 Vgl. etwa Holmes Ausführungen in seinem Aufsatz "Natural Law" von 1918: "for legal
purposes a right is only the hypostasis of a prophecy - the imagination of a substance sup-
221
4. "The Common Law"
Die Abkehr von der analytischen Jurisprudenz und die Etablierung eines realistischen Rechtsbegriffs bedeuteten nicht nur einen Richtungswechsel in der Rechtstheorie. Holmes zog daraus auch konkrete dogmatische Konsequenzen bei der Interpretation des materiellen Rechts. Das zeigt sich insbesondere in „The Common Law“
von 1881, wo Holmes versucht, die vielfältige Rechtsmaterie des Common Law zu
systematisieren und zu ordnen. Für dieses Projekt bedient sich Holmes zweier verschiedener methodischer Ansätze. Zum einen widmet er sich der Untersuchung des
geschichtlichen Ursprungs einzelner Common-Law-Rules, zum anderen versucht er,
allgemeine Prinzipien und Begriffe herauszuarbeiten, die diesen Regelungen
zugrunde liegen.
a) Die Evolution des Rechts
Holmes verwendet zunächst viel Raum dafür, die Entstehungsgeschichte der Common Law Regeln darzustellen730. Holmes versteht das Recht als die Verkörperung
der historischen Entwicklung eines Volkes und daher erscheint ihm ein Verständnis
dieser Entwicklung unentbehrlich für das Verständnis des gegenwärtigen Rechts:
„In order to know what it [the law] is, we must know what it has been.“731. In dieser
historisierenden Betrachtungsweise des Rechts dürfte Holmes von der historischen
Rechtsschule im Gefolge Savignys beeinflusst gewesen sein, die im 19. Jahrhundert
über den den Engländer Sir Henry Maine und James Coolidge Carter auch im angloamerikanischen Rechtskreis zu gewissem Einfluss gelangt war732. Anders als die historische Rechtsschule sieht Holmes die Entwicklung des Rechts aber nicht aus der
Perspektive einer Kulturgeschichte, in der ein tätiger Volksgeist am Werk ist, sondern als Produkt einer Evolution im Sinne Darwins, in deren Zug sich diejenigen
Regeln und Gebräuche herausbilden, die sich für die Gemeinschaft im sozialen Daseinskampf als die brauchbarsten erwiesen haben. Diese evolutionäre Sichtweise des
Rechts wird deutlich, wenn Holmes an einer Stelle über einige alte Entscheidungen
im Common Law sagt, sie seien letztlich anachronistische Überbleibsel im Korpus
des Rechts, die in der heutigen Zeit keinen Zweck mehr haben, und er dazu den anatomischen Vergleich mit einem funktionslosen Knochen im Skelett der Katze beporting the fact that the public force will be brought to bear upon those who do things said
to contravene it", Holmes (1992) S. 182.
730 Vgl. z.B. Holmes (1963) S. 9 ff., 130 ff., 297 ff.
731 Holmes (1963) S. 5.
732 Zu Holmes’ Beeinflussung durch die historische Rechtsschule vgl. Burrow (1992) S. 25 ff.;
Reimann (1992) S. 97 f., zum Einfluss der historischen Schule in den USA allgemein ders.
(1993) S. 114 ff., Feldman (2000) S. 105 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.