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6. Probleme des moralischen Prozeduralismus
Der Einwand, die pragmatistische Ethik sei relativistisch und vermöge deshalb die
Möglichkeit einer wissenschaftlich objektiven Behandlung moralischer Fragen nicht
zu verbürgen, erwies sich somit als nicht durchschlagend. Der moralische Prozeduralismus begegnet jedoch noch vier anderen triftigen Einwänden. Deren erster lautet,
dass Deweys Ethik Probleme hat, Kriterien für die richtige Durchführung der moralischen Deliberation anzugeben. Fraglich ist außerdem, ob der pragmatistische Prozeduralismus auch dort weiter hilft, wo es an einem gemeinsamen kulturellen Kontext der Beteiligten fehlt oder wo existenzielle Entscheidungen getroffen werden
müssen. Darüber hinaus lässt sich fragen, ob der Prozeduralismus der pragmatistischen Ethik nicht so strukturiert ist, dass er zahlreiche Möglichkeiten ethischer Argumentation von vornherein ausschließt. Der vierte Einwand schließlich betrifft die
grundlegende Prämisse der pragmatistischen Moralphilosophie, dass die Behandlung
moralischer Probleme nur einen Sonderfall des allgemeinen Forschungsprozesses
darstellt.
a) Das Kriterienproblem
Die entscheidende Frage für einen moralischen Prozeduralismus lautet, welchen Anforderungen die moralische Reflexion genügen muss, damit ihre Resultate den Status einer “warranted assertibility” für sich beanspruchen können. Der Ablauf der
moralischen Reflexion entspricht in seiner Abfolge von Situationserfassung, Bestimmung der möglichen Handlungsalternativen, Erfassung und schließlich Abwägung der Handlungskonsequenzen dem allgemeinen Forschungsprozess259. Gerade
beim letzten Punkt zeigen sich jedoch die Schwächen von Deweys prozeduralistischer Ethik. Die Abwägung und Bewertung der Konsequenzen wird nämlich oftmals
der schwierigste Punkt im Verfahren der moralischen Urteilsbildung sein, weil hier
unterschiedliche Wertvorstellungen und Standards der Beteiligten aufeinanderprallen. Umso wichtiger wäre es, näher zu konkretisieren, welchen Anforderungen dieser Abwägungsprozess genügen muss. Deweys Angaben hierzu bleiben jedoch in
Anbetracht der zentralen Rolle, die das Verfahren der moralischen Urteilsbildung in
seiner Ethik einnimmt, leider eher knapp. Am aufschlussreichsten sind noch Deweys
Ausführungen zum Wesen moralischer Deliberation in “Theory of the Moral Life”.
Danach besteht sie im wesentlichen aus dem gedanklichen Durchspielen der verschiedenen Handlungsalternativen260. So sollen im Wege des Gedankenexperiments
die möglichen Konsequenzen der Handlungsoptionen umfassend ermittelt werden.
Weitgehend offen bleibt bei Dewey aber die entscheidende Frage, nach welchen
259 Vgl. die Ausführungen Deweys zur Natur der Sozialforschung, LW 12.492 ff. (Log).
260 “Deliberation is actually an imaginative rehearsal of various courses of conduct.”, Dewey
LW 7.275 (TML).
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Kriterien diese Konsequenzen dann beurteilt werden sollen. Diese Lücke ist indes
durchaus folgerichtig, wenn man berücksichtigt, dass die moralische Deliberation
nur ein Sonderfall des allgemeinen Forschungsprozesses ist. Denn dieser entwickelt
seine Kriterien ja auch im Verlaufe des wissenschaftlichen Fortschritts aus sich
selbst heraus261. Ebenso wird auch die moralische "inquiry" als ein sich selbst steuernder, selbstlernender Vorgang gedacht. Allerdings misst Dewey bei der moralischen Deliberation einer Methode besondere Bedeutung bei, die in der allgemeinen
wissenschaftlichen Forschung kaum eine Rolle spielt: Die Akteure sollen in moralischen Diskursen stets versuchen, sich in die Lage der anderen Beteiligten hineinzuversetzen und die Situation aus deren Perspektive betrachten. Doch auch wenn Dewey dieses Einfühlen in andere Beteiligte als den “sichersten Weg zur Erlangung
moralischer Objektivität” bezeichnet262, beschreibt es doch nur eine bestimmte Art
und Weise der Argumentation unter vielen anderen, die nach Dewey in die moralische Reflexion Eingang finden können. Ein inhaltliches Kriterium ist daraus nicht
abzuleiten. Der Vorwurf der inhaltsleeren Formalität, den Dewey gegen Kants kategorischen Imperativ gerichtet hat, lässt sich somit auch gegen seine eigene Moraltheorie erheben.
Deweys Theorie, dass der Forschungsprozess seine Kriterien und Standards selbst
hervorbringt, gemahnt zunächst etwas an den Baron Münchhausen, der sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zieht. Dewey meint jedoch nicht, dass eine moralische Deliberation ganz automatisch die Kriterien hervorbringt, die gerade für die
Rechtfertigung im konkreten Entscheidungsfall entscheidend sind. Vielmehr meint
Dewey, dass sich im historischen Verlauf aller Forschungsprozesse sozusagen als
Nebenprodukt Kriterien ergeben können, die dann für künftige Forschungen relevant
werden können263.
Trotzdem bleibt Deweys Position, die für die Kriterien und Standards naturwissenschaftlicher Forschung eine gewisse Plausibilität besitzt (vor allem weil hier
durch die ständige Möglichkeit des Experimentierens und Bewährens an den Fakten
einer äußeren Realität ein Korrektiv bereit steht, dass tatsächlich eine Selbststeuerung des Forschungsprozesses nahe legt), im Hinblick auf die Frage nach den Kriterien moralischer Rechtfertigung unbefriedigend. Besonders vermisst man in Deweys
Ausführungen zur moralischen Deliberation Angaben zu den “Spielregeln”, an die
sich die Teilnehmer dabei halten müssen. Denn auch wenn das Ergebnis des moralischen Urteilsverfahrens nicht durch apriorische Prinzipien von vornherein festgelegt
ist, so muss doch das Verfahren selbst durch gewisse Regeln eindeutig festgelegt
werden. An diesem Punkt ist beispielsweise die Diskursethik von Jürgen Habermas
wesentlich ergiebiger264. Hilary Putnam hat zu Recht darauf hingewiesen, dass eine
“intelligent inquiry” im Dewey’schen bzw. pragmatistischen Sinne möglichst den
Anforderungen an einen herrschaftsfreien Diskurs im Sinne von Habermas genügen
261 Vgl. dazu oben S. 57.
262 Dewey LW 7.270 f. (TML)
263 Dewey LW 12.13 (Log).
264 Vgl. etwa Habermas (1983) S. 97 ff.; Alexy (1978) S. 234 ff.
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muss265. Das heisst, moralische Deliberation setzt u.a. voraus, dass sich die Teilnehmer als gleichberechtigt anerkennen, dass sie sich gegenseitig zuhören, den Diskurs nicht manipulieren usw. Deweys Prozeduralismus bedarf also sozusagen noch
der diskursethischen Ergänzung um die Verfahrensspielregeln der moralischen Deliberation.
b) Grenzen des moralischen Prozeduralismus
Der moralische Prozeduralismus Deweys wird dort an seine Grenze stoßen, wo ein
moralisches Problem auftaucht, das mehrere Beteiligte betrifft, die unterschiedlichen
kulturellen Kontexten entstammen. Da die pragmatistische Ethik keine universalisierbaren inhaltlichen ethischen Kriterien bereit hält, wird sie in diesen Fällen nicht
ausschließen können, dass die Überschneidungen der jeweiligen Kontexte so gering
sind, dass keine ausreichende gemeinsame Grundlage an geteilten Werten und Kriterien vorhanden ist, um die moralische Deliberation zu einem Ergebnis zu bringen,
das aus Sicht aller Beteiligten den Status der „warranted assertibility“ für sich beanspruchen kann266. Wenig hilfreich ist der moralische Prozeduralismus auch dort, wo
es um Entscheidungen von existentieller Bedeutung geht. Dewey betont ja völlig zu
Recht, dass wir mit jeder moralischen Entscheidung gleichzeitig eine Entscheidung
darüber treffen, wer wir sind. Doch dazu müssen wir bereits wissen, wer wir sein
wollen. Die Antwort auf diese existentielle Frage kann aber ein prozeduraler Ansatz
nicht liefern, er setzt sie vielmehr bereits voraus. Putnam erläutert diese Schwachstelle von Deweys Prozeduralismus anhand des bekannten Beispiel Sartres von einem Mann, der sich zwischen den Alternativen entscheiden muss, entweder
Résistance-Kämpfer zu werden oder seine gebrechliche Mutter zu pflegen267.
Das Risiko, es mit einem derart prozeduralistisch nicht entscheidbaren Problem
zu tun zu haben, besteht freilich zu Beginn jeder moralischen Deliberation, nur ist es
umso größer, je unterschiedlicher die Kontexte sind, denen die Beteiligten entstammen. Unterschiedliche Kontexte sind aber kein Grund, gar nicht erst in eine moralische Deliberation einzutreten. Sie bieten sogar eine Chance, dass der Lernprozess
und die Weiterentwicklung des moralischen Selbst, die für Dewey in jeder moralischen Untersuchung mit enthalten sind, besonders ergiebig ausfällt, weil hier eine
besonders große Vielfalt verschiedener Argumente zu erwarten ist268.
265 Putnam (2002) S. 104 f.
266 Ähnlich auch Habermas (2002) S. 301 f., der die Frage stellt, ob eine pragmatistische Wertethik überhaupt mit dem Gedanken der Universalität von Menschenrechten und Demokratie
vereinbar ist. Dazu, dass universelle Normen im Pragmatismus nicht in der Ethik sondern
in der Struktur eines durch intelligente Forschung angeleiteten Handelns verortet werden
können, siehe unten S. 187 ff.
267 Putnam (1997) S. 239 ff.; Westbrook (2000) S. 356.
268 Vgl. auch Joas (2002)
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c) Grenzen der Umformulierung von Werten und Prinzipien in Hypothesen
Deweys moralischer Prozeduralismus geht davon aus, dass der ethische Wert einer
Handlung dadurch bestimmt wird, dass sie aus einem Verfahren reflexiver moralischer Deliberation hervorgegangen ist. Dieser Prozeduralismus kann inhaltliche
ethischen Positionen, Prinzipien und Werte aus sich heraus nicht begründen. Dewey
geht stattdessen davon aus, dass wir in einer moralischen Problemsituation neben
unseren ursprünglichen Neigungen und Impulsen stets schon eine Vielzahl von Werten und Prinzipien vorfinden werden, die tatsächlich in der Gemeinschaft präsent
sind. Diese bilden dann sozusagen das Rohmaterial, das in das Verfahren moralischer Deliberation eingespeist wird. An dieser Stelle liegt jedoch ein Problem. Die
Frage ist nämlich, ob dieser Transformationsprozess, der aus Prinzipien und Werten
falsifizierbare moralische Hypothesen macht, sobald sie in das Prozedere der moralischen Deliberation eingebracht werden, sie nicht gerade dadurch ihrer argumentativen Überzeugungskraft beraubt. Führt man derart etwa Kants kategorischen Imperativ als einen bloßen Erfahrungssatz mit Hypothesencharakter ein, so verliert er dadurch gerade seinen kategorischen Charakter und damit den Grund seines Geltungsanspruchs. Übrig bleibt dann nur noch die Idee, Handlungsfolgen hypothetisch zu
verallgemeinern. Nun hat Letzteres ja immer noch einen gewissen argumentativen
Wert, auch wenn ihm die verpflichtende Kraft fehlt, die dem kategorischen Imperativ bei Kant dadurch zukam, dass er als apriorisch notwendiges moralisches Gesetz
konzipiert war. Doch andere ethische Argumentationsfiguren verlieren durch die
prozeduralismusgerechte Reduzierung auf Hypothesen gleich gänzlich ihre Geltungskraft. Wird zum Beispiel in einen moralischen Diskurs über die Zulässigkeit
staatlicher Folter zur Verhinderung schwerer Straftaten das Argument eingeführt,
dies verstoße gegen die Menschenwürde, so bezieht dieser Einwand seine Kraft gerade daraus, dass er sich auf etwas beruft, was nicht lediglich eine falsifizierbare
Hypothese darstellt, sondern eine unverfügbare Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. Für einen derartigen absoluten Geltungsanspruch ist jedoch im
pragmatistischen Prozeduralismus kein Platz. Als bloßer hypothetischer Erfahrungssatz (“Es hat sich bisher bewährt, jedem Menschen eine unveräußerliche Würde zu
unterstellen”), losgelöst von seiner deontologischen Verankerung, ist das Menschenwürdeargument aber im moralischen Diskurs faktisch ohne Wert und erschiene
als bloßes Vorurteil.
Deweys moralischer Prozeduralismus ist so zwar nicht im Stande, Werte und
Prinzipien aus sich heraus zu begründen, er schließt aber eine große Anzahl von ihnen, nämlich jene, die auf einem deontologischen Fundament beruhen und sich nicht
sinnvoll als Hypothesen reformulieren lassen, von vornherein aus dem Verfahren
moralischer Urteilsbildung aus. Gleichwohl ist er aufgrund seiner Unfähigkeit zur
Begründung von Inhalten davon abhängig, dass solche von anderer Seite, etwa moralischen Traditionen, materialen Ethiken etc. bereit gestellt werden. Die pragmatistische Ethik verhält sich so gewissermaßen parasitär zu anderen moralphilosophischen Konzepten, auf deren inhaltliche Vorarbeit sie angewiesen bleibt. Dass sie
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gleichzeitig oft die Geltungsgrundlagen dieser inhaltlichen Positionen unterminiert,
indem sie sie nur noch als Erfahrungssätze und Hypothesen gelten lassen will, darin
liegt ihr innerer Widerspruch.
d) Moralische Urteilsbildung und wissenschaftlicher Forschungsprozess
Der Kern der pragmatistischen Moralphilosophie besteht in der Übertragung der experimentellen Methode der Naturwissenschaften auf Fragen der Ethik. Der Pragmatismus bestreitet somit, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der
Rechtfertigung wissenschaftlicher Wahrheits- und moralischer Geltungsansprüche
gibt. Dieser Ausgangspunkt, der auf die Einebnung des Unterschieds von theoretischer und praktischer Vernunft hinausläuft, ist jedoch nicht unproblematisch. So bestehen etwa Bernhard Williams269 und Jürgen Habermas270 darauf, dass wissenschaftliche und ethische Diskurse nicht denselben Kriterien unterliegen. Williams
und Habermas bedienen sich dabei im Kern derselben Argumentation, wenn sie darauf hinweisen, dass die Naturwissenschaft im Gegensatz zur Ethik einen Bezugspunkt hat, der über die Kontexte der Rechtfertigung hinausweise, nämlich die objektive Beschaffenheit der Welt, die sie erklären will.
Gegenstand der Naturwissenschaft ist eine Realität, deren Kennzeichen – in den
Worten von Peirce – darin besteht, dass sie unabhängig davon existiert, was wir über
sie denken. Daher konnte Peirce auch annehmen, dass die verschiedenen Einzelmeinungen über diese Realität auf lange Sicht hin zu einem finalen Konsens hin konvergieren würden. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass die Erforschung der
Realität auf experimentellem Wege betrieben wird. Nur wenn die Theorien und
Hypothesen immer wieder aufs Neue in experimentellen Handlungsvollzügen an
den „brute facts“ der Realität erprobt werden, kann der Forschungsprozess auf einen
finalen Konsens hin gelenkt werden. Es ist folglich erst die objektive Beschaffenheit
der Welt, die die Konvergenz der Meinungen garantiert.
Williams bestreitet nun, dass eine derartige Konvergenz auch für Meinungen über
ethische Fragen in derselben Weise möglich sei, weil es für die Gegenstände der
Ethik anders als in den Naturwissenschaften so etwas wie die „tatsächliche Beschaffenheit der Dinge“ nicht gibt, die eine Konvergenz auf einen Zielpunkt hin lenken
könnte271. Denselben Punkt betont Habermas, wenn er schreibt, dass moralischen
Geltungsansprüchen der für wissenschaftliche Wahrheitsansprüche charakteristische
Bezug zur objektiven Welt fehle. Letztere könnten sich experimentell bewähren oder
an der faktischen Resistenz der objektiven Welt scheitern. Normative Geltungsansprüche hingegen scheitern nicht an der Welt, sondern am „Widerspruch und Aufschrei sozialer Gegenspieler“272, die konkurrierende Geltungsansprüche vertreten.
269 Williams (1999) S. 186 ff.
270 Habermas (1999) S. 271 ff.
271 Williams (1999) S. 191.
272 Habermas (1999) S. 295 f.
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Aus pragmatistischer Sicht hat sich eine derartige Kritik freilich nur noch nicht
radikal genug von den Dualismen der klassischen Philosophie gelöst und bleibt noch
in einer irreführenden Dichotomie von Fakten- und Wertwissen gefangen. So macht
es aus der naturalistischen Perspektive von Deweys Moralphilosophie nämlich tatsächlich keinen Unterschied, ob sich ein wissenschaftlicher Wahrheitsanspruch in
einem Experiment bewährt oder ein Werturteil sich im moralischen Rechtfertigungsdiskurs durchsetzen kann und sich damit in der sozialen Praxis bewährt. Physikalische Zustände und soziale Praktiken sind für Dewey beides Teilaspekte einer
Umwelt, mit der wir durch unsere Handlungen interagieren, die wir teils durch diese
beherrschen, und an deren Anforderungen wir uns anzupassen haben273.
Doch ebenso wie die pragmatistische Reduktion des Wahrheitsbegriffs auf „warranted assertibility“ der alltagssprachlichen Intuition widerspricht, widerstrebt es
derselben auch, moralische Richtigkeit allein in der Rechtfertigung in konkreten
Kontexten aufgehen zu lassen. Wer einen normativen Geltungsanspruch erhebt, beansprucht mehr, als nur jetzt in der konkreten Situation die besseren Gründe auf seiner Seite zu haben. Vielmehr beinhalten moralische Urteile regelmäßig einen Aspekt
der Universalisierbarkeit274. Ihre Überzeugungskraft als moralische Gründe beziehen
sie aus dem Anspruch, nicht nur für diesen Fall sondern auch für jeden gleichgelagerten Fall275 richtig zu sein. Sie zielen nicht nur auf die Anerkennung der unmittelbar Betroffenen (wohingegen „warranted assertability“ lediglich die Rechtfertigung
vor eben diesen meint276) sondern auf die Anerkennung durch alle. Deweys These,
jede moralisch problematische Situation bringe im Prozess der moralischen Reflexion ihr eigenes Gutes hervor, verkennt, dass wir diese Reflexion nur mit Argumenten
führen können, die über diese konkrete Situation hinausweisen und dass wir das Ergebnis der Reflexion auch nur dann als moralisch richtig akzeptieren, wenn wir
überzeugt sind, dass es auch über die Situation hinaus Gültigkeit beanspruchen
kann.
Der Pragmatismus weist zwar völlig zurecht auf einen engen Zusammenhang
zwischen moralischer Richtigkeit und der konkreten Möglichkeit der Rechtfertigung
hin, er geht jedoch fehl in der Annahme, dass sich der Sinn moralischer Geltungsansprüche bereits in dieser erschöpft. Dem Sinngehalt moralischer Argumentation ist
eine solche Rekonstruktion der Praxis moralischen Urteilens nicht angemessen. Der
273 Zur naturalistischen Grundlage des Forschungsprozesses Dewey LW 12.40 ff. (Log). Gegen die Argumentation von Williams von einem nichtnaturalistischen sondern wiederum
ethnozentrischen Standpunkt aus vgl. auch Rorty (1993) S. 32 ff.
274 Vgl. dazu Habermas (1999) S. 300 ff.; Birnbacher (2003) S. 31 ff.
275 Wobei die Gleichlagerung der Fälle freilich sehr genau spezifiziert sein kann: Die moralische Berechtigung, einem anderen das Rauchen in seiner Gegenwart zu verbieten, mag
vielleicht nicht allen Menschen, auch nicht allen Frauen, aber zum Beispiel allen schwangeren Frauen zustehen, nicht aber lediglich der schwangeren Frau X aus M. Entscheidend ist,
dass die Urteile durch nicht-singuläre Faktoren begründet werden, vgl. dazu Birnbacher
(2003) S. 37.
276 Oder wie bei Rorty jedenfalls die Rechtfertigung vor den Mitgliedern der jeweiligen Bezugsgemeinschaft vgl. Rorty (1988) S. 85.
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Einwand gegen die pragmatistische Ethik lautet also, dass sie entgegen ihrem Anspruch das Zustandekommen moralischer Urteile nicht zutreffend beschreibt, weil
sie nicht berücksichtigt, dass wir durch die Sprache und durch das moralische Vokabular, dem wir uns in unseren moralischen Diskursen bedienen, immer schon viel
mehr in Anspruch nehmen, als wir mittels einer lediglich auf „warranted assertibility“ abzielenden Rechtfertigungspraxis einlösen können. Die Praxis moralischen
Handelns (d.h. also vor allem der moralische Forschungsprozess), die der Pragmatismus beschreibt, stimmt also nicht überein mit der tatsächlichen Praxis unseres
moralischen Sprachgebrauchs.
Der Prozeduralismus der pragmatistischen Ethik liefert demnach keine angemessene Rekonstruktion unserer moralischen Praxis. Das schließt jedoch nicht aus, dass
eine solche prozeduralistische Betrachtungsweise dort angemessen sein kann, wo es
nicht mehr um unbedingte moralische Geltungsansprüche, sondern lediglich um legitimierbare politische Entscheidungsakte geht, nämlich im Verfahren demokratischer Willensbildung. Darauf wird im 2. Teil dieser Arbeit einzugehen sein.
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VI. Die Stellung des Pragmatismus in der modernen Philosophie
Einer zugegebenermaßen groben Einteilung nach lässt sich die Philosophiegeschichte in drei Epochen unterteilen, die man anhand ihrer Methode als Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie, und anhand ihres hauptsächlichen Gegenstandes als Sein, Bewusstsein und Sprache bezeichnen könnte277.
Legt man diese Einteilung zu Grunde, hat es zunächst den Anschein, als sei der
Pragmatismus nur eine ideengeschichtliche Episode geblieben, ein Irrläufer am
Übergang vom erkenntnistheoretischen zum sprachphilosophischen Paradigma. Der
klassische Pragmatismus hatte sich auf die Fahnen geschrieben, die klassische Erkenntnistheorie zu überwinden und statt Bewusstsein und Repräsentation nunmehr
Handlung und Erfahrung zu den zentralen philosophischen Kategorien zu erklären.
Während der Pragmatismus dabei in den USA zunächst einen spektakulären Siegeszug erlebte, der Ende des 19. Jahrhunderts begann und ihn dort dann zur dominierenden philosophischen Denkschule in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts machte, wurde er außerhalb der Vereinigten Staaten lange Zeit praktisch überhaupt nicht
rezipiert. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Pragmatismus dann auch an
den amerikanischen Universitäten zunächst durch die analytische Philosophie verdrängt. Nicht der Pragmatismus, sondern der „linguistic turn“ hatte die klassische
Erkenntnistheorie ersetzt. Statt Handlung und Erfahrung war nunmehr die Sprache
der hauptsächliche Gegenstand philosophischen Nachdenkens. Im letzten Viertel des
vergangenen Jahrhunderts kam es dann aber zu einer Wiederentdeckung des Pragmatismus. Philosophen wie Richard Rorty und Hilary Putnam bemühten sich darum,
die Kritik am Repräsentationalismus und die Praxisorientierung der pragmatistischen Klassiker erneut für aktuelle Fragen, insbesondere auch der Sozialphilosophie,
fruchtbar zu machen. Außerdem war auch in der sprachanalytischen Philosophie eine Art „pragmatistischer Wende“ zu beobachten, die sich in einem Wechsel von
eher semantischen hin zu Fragen nach den Regeln des praktischen Gebrauchs von
Sprache manifestierte.
Pragmatistische Ideen fanden über die Peirce-Rezeption von Karl-Otto-Apel au-
ßerdem auch Eingang in die Diskurstheorie von Jürgen Habermas, womit der Pragmatismus erstmals auch einen maßgeblichen Einfluss auf das philosophische Denken diesseits des Atlantiks ausübte.
1. Die Entwicklung des Pragmatismus in den USA
In den Vereinigten Staaten kam der Pragmatismus vor allem durch William James
und John Dewey in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu großer Verbreitung und
Popularität. Diesem steilen Aufstieg folgte dann aber spätestens seit Ende des zweiten Weltkriegs ein rascher Niedergang, der dazu führte, dass der Pragmatismus
277 Vgl. z.B. Habermas (1992) S. 20 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.