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tiert651, und Holmes Theorie der Haftung weist große Ähnlichkeiten mit der bereits
früher von Green entwickelten Auffassung zu diesem Thema auf652. Somit liegt die
Mutmaßung nahe, dass Peirce und Holmes für die Entwicklung ihres Denkens aus
derselben Quelle schöpften. Dies allein rechtfertigt es freilich noch nicht, in Holmes
einen Pragmatisten zu sehen. Dafür ist es notwendig, einen näheren Blick auf Holmes' Gedanken zu werfen, um festzustellen, inwiefern sich in ihnen pragmatistische
Elemente nachweisen lassen.
2. Die Kritik am Formalismus
Holmes 1881 erschienenes Werk „The Common Law läutete eine Revolution im
amerikanischen Rechtsdenken ein. Es markiert den Beginn eines „realistic turn“ in
der Jurisprudenz, einer Abkehr vom formalistischen Begriffsdenken hin zu einer
Auffassung vom Recht als einem empirisch zu begreifenden Teil der sozialen Wirklichkeit. Holmes bringt dieses Programm in einer berühmt geworden Formulierung
gleich am Anfang seines Buches zum Ausdruck: „The life of the law has not been
logic. It has been experience.“653. Der erste Programmsatz beinhaltet dabei eine
Kampfansage an den Formalismus. Dieser Formalismus war aus Sicht seiner Kritiker eine einseitige Fortentwicklung der „Analytical Jurisprudence“, einer analytischen Rechtsauffassung, wie sie in England von Bentham und Austin entwickelt
worden war. Das formalisierte Begriffsdenken der "Analytical Jurisprudence" prägte
in den Vereinigten Staaten zum Zeitpunkt des Erscheinens von „The Common Law“
im Jahre 1881 die amerikanische Rechtstheorie654.
a) Formalistische Jurisprudenz bei John Austin und Christopher Langdell
John Austin (1790 - 1859) hatte es sich – nicht zuletzt beeinflusst durch das Studium
des römischen Rechts in Deutschland655 - zur Aufgabe gemacht, aus den zahlreichen
einzelnen Regeln und Entscheidungen des englischen Rechts, wie sie von Blackstone zwar enzyklopädisch erfasst aber nur unzureichend systematisiert und analysiert
worden waren, ein zusammenhängendes System des Rechts zu gewinnen. Recht war
651 „Chauncey Wright, a nearly forgotten philosopher of real merit“, Holmes-Pollock-Letters
252 (Brief vom 30.08.1929). Zu Holmes' Wertschätzung von Wright vgl. auch Kellogg
(2007) S. 41 ff.
652 Dazu Schulz (1988) S. 103 ff.
653 Holmes (1963) S. 5.
654 Zur Dominanz des Formalismus in der amerikanischen Rechtstheorie in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts siehe auch Feldman (2000) S. 91 ff., 105; Reimann (1993) S. 136 ff.;
sowie speziell zum Verhältnis des Formalism zu Austin Sebok (1998) S. 108 f.
655 Fikentscher (1975) Bd. II, S. 44; vgl. auch Austins Ausführungen zum Nutzen des Studiums des römischen Rechts in Austin (1873) S. 1114 ff.
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für Austin dabei in erster Linie das positive Recht, wie es vom Souverän gesetzt
wurde. Es bildete ein geschlossenes System aus Rechtsbegriffen und Prinzipien, die
zueinander in einem logischen Zusammenhang stehen656. Austin ging dabei davon
aus, dass es eine „general jurisprudence“ gab, d.h. einen Korpus von Rechtsbegriffen und –prinzipien, der allen entwickelten Rechtssystemen gemeinsam ist657. Austins Ziel war es, diese Begriffe und Prinzipien aus dem Material des römischen
Rechts, der preußischen und französischen Gesetzbücher sowie den Entscheidungen
der englischen Richter herauszuarbeiten. Als methodisches Vorbild galten ihm dabei
nicht zuletzt die Arbeiten der Deutschen Pandektistik658. Die systematische und begriffliche Durchdringung des derart gewonnenen Materials erfolgte sodann bei Austin anhand einer Rationalität, die angeleitet war durch das Nützlichkeitsdenken des
Utilitarismus Bentham’scher Prägung659. Die Kenntnis der grundlegenden Prinzipien
und Begriffe sollte den Juristen in die Lage versetzen, konkrete Rechtsfragen rein
deduktiv entscheiden zu können. Für richterliche Rechtsschöpfung oder –
Fortbildung war in Austins System, das alles Recht auf den Willen des Souveräns
zurückführt, kein Platz. Austin etablierte einen Primat des logischen Begriffsdenkens in der englischen Rechtswissenschaft, so dass seine „Analytical Jurisprudence“
auch als das Pendant zur Begriffsjurisprudenz Puchtas und Windscheids gedeutet
wurde660. In der Tat lassen sich gerade bei Austin und seinen Schülern deutsche Einflüsse nachweisen661.
Die analytische Rechtslehre eroberte von England aus auch die Rechtsfakultäten
der Vereinigten Staaten. Zu einem ihrer wichtigsten Vertreter wurde Christopher
Columbus Langdell (1826 - 1906). Ebenso wie Austin verschrieb er sich dem Ziel,
Jurisprudenz als Wissenschaft zu betreiben. Wissenschaftlichkeit bedeutete für ihn
dabei vor allem Berechenbarkeit und Exaktheit. Das wissenschaftliche Vorbild waren daher nicht die experimentellen Naturwissenschaften, sondern in erster Linie die
Mathematik. Nach Langdells Vorstellung ist das Recht aus wissenschaftlicher Sicht
ein Gefüge grundlegender Prinzipien, denen eine vergleichbare Funktion zukommt,
wie den Axiomen in der Mathematik662. Sind diese Prinzipien erst bekannt, so lässt
sich das Recht für jeden Einzelfall aus ihnen heraus logisch deduzieren. Anders als
Austin ist Langdell nicht an der Formulierung einer an utilitaritischen Prinzipien
orientierten „general jurisprudence“ interessiert. Stattdessen geht es ihm darum, aus
656 Austin (1873) S.1107.
657 „The proper subject of General or Universal Jurisprudence ... is a description of such subjects and ends of Law as are common to all systems; and of those resemblances between
different systems which are bottomed in the common nature of man, or correspond to the
resembling points in their several positions.“, Austin (1873) S. 1112.
658 Dazu Reimann (1993) S. 142 ff.
659 Vgl. dazu Austin (1873) S. 109 ff; vgl. auch Löwenhaupt (1972), S. 216 ff; Kellog (1984)
S. 5 f.
660 Fikentscher (1975) Bd. II S. 45; Löwenhaupt (1972) S. 318 ff.
661 Vgl. dazu Reimann (1993) S. 131 ff.
662 "Law considered as a science consists of certain principles or doctrines.“, Preface to Selection of Cases to the Law of Contracts, 1871, S. VIII; dazu auch Grey (1983) S. 16 f.
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der Summe der Einzelentscheidungen des Common Law die für dieses partikulare
System bestimmenden Rechtsprinzipien herauszuarbeiten663. Dabei verfährt Langdell empirisch und induktiv, indem er versucht, aus der ratio decidendi der einzelnen
Entscheidungen abstrakte und generelle Prinzipien abzuleiten. In den Einzelentscheidungen verbirgt sich für ihn die historisch gewachsene Essenz des Rechts.
Während die Begriffe und Prinzipien von Austins „general jurisprudence“ einen
zeitlosen und universellen Charakter hatten, verstand Langdell die Rechtsprinzipien
als das Resultat eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses, wie er sich im Korpus
der einzelnen Fallentscheidungen niedergeschlagen hatte664.
Naturgemäß war für Langdell das Studium repräsentativer Einzelentscheidungen
der Schlüssel zur wissenschaftlichen Durchdringung des Rechts. Als Dekan der
Harvard Law School führte Langdell deshalb dort die sogenannte case-method ein,
die das Rechtsstudium revolutionierte, indem sie nunmehr die Analyse von Fallentscheidungen in den Mittelpunkt der Ausbildung stellte. Die gesammelten Entscheidungen waren für Langdell nicht nur das wichtigste, sondern auch das einzige Material, das für ein Studium des Rechts erforderlich war. Dies bedeutete gleichzeitig,
dass andere Materien, die zuvor noch zum Rechtsstudium gehört hatten, wie Philosophie oder Theologie, nunmehr davon ausgeschlossen waren. Die Rechtsgewinnung sollte ausschließlich aus der begrifflichen Struktur des Rechts selbst (d.h. der
in den Fallsammlungen enthaltenen Rechtstexte) erfolgen. Außerrechtliche Zweckmäßigkeits- oder Gerechtigkeitserwägungen hatten in dieser Jurisprudenz keinen
Platz665. Langdells Fallrechtsmethode, die sich rasch auch auf die übrigen Rechtsfakultäten in den Vereinigten Staaten ausbreitete, führte zur Verselbständigung der
Jurisprudenz als wissenschaftlicher Disziplin666. Und da diese Disziplin von Langdell und seinen Anhängern in einer rationalistischen Manier betrieben wurde, die
praktisch ausschließlich an der formalen begrifflichen Struktur des Rechts interessiert war, ging damit auch eine Abwendung der Rechtswissenschaft von der
Rechtswirklichkeit einher.
Es herrschte vielerorts die Vorstellung, dass es sich beim Recht um ein vorgegebenes System abstrakter Regeln handelt, das ebenso real existiert wie die empirische
Welt667 und dessen Gesetzmäßigkeiten zu entdecken die Aufgabe der Jurisprudenz
sei. Sind diese Gesetzmäßigkeiten bekannt, so braucht der Rechtsanwender die konkrete Entscheidung nur noch deduktiv aus dem System abzuleiten. Rechtsanwen-
663 Dazu Leiter (2007) S. 87 ff.
664 Sebok (1998) S. 96.
665 So heißt es bei Langdell einmal bzgl. des Einwandes, eine Rechtsauffassung würde zu ungerechten und den Interessen der Parteien widersprechenden Ergebnissen führen: „The true
answer to this argument is, that it is irrelevant.“, zit. nach Reich (1967) S. 33.
666 Vgl. Feldman (2000), S. 92 f.; Stevens (1983) S. 52 ff.
667 Die folgenden Worte von Rufus Choate spiegeln diese Überzeugung von der eigenständigen geistigen Realität des Rechts, die bei vielen amerikanischen Juristen fast schon religiöse Züge annahm: „Invisible, omnipresent, a real yet impalpable existence, it seems more a
spirit, an abstraction, - the whispered yet authoritative voice of all the past and all the
good“, zitiert nach Howe (1951) S. 538.
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dung ist somit primär eine Frage der Logik. Die richtige Entscheidung ist immer
schon im System des Rechts angelegt, so wie auch die Lösung eines geometrischen
Problems immer schon durch den Korpus der geometrischen Axiome von vornherein feststeht.
b) Zur Berechtigung des Formalismusvorwurfs
Gegen eine „euklidische Jurisprudenz“, die die Rechtsanwendung zu einem ausschließlichen Problem der Logik erklärte, wandte sich Holmes, als er in „The Common Law“ verkündete:
„The Life of the law has not been logic. ... The law ... cannot be dealt with as if it contained
only the axioms and corollaries of a book of mathematics“668.
Spätere Kritiker nannten das, was Holmes hier als "euklidische Jurisprudenz" bezeichnet, juristischen Formalismus ("formalism"). Insbesondere Langdells juristische Methode gilt gemeinhin als ein Musterbeispiel für diese Form der Jurisprudenz,
der Holmes und nach ihm die Sociological Jurisprudence und der Legal Realism den
Kampf ansagten.
Der Begriff des Formalismus ist jedoch nicht unproblematisch. Es handelt sich
dabei letztlich um einen Kampfbegriff, der nicht von den Vertretern des Formalismus selbst sondern vor allem von seinen Kritikern geprägt wurde. Für sie bezeichnete er ein allein an begrifflicher Logik und systematischer Kohärenz interessiertes
Rechtsdenken, dass alle empirischen Komponenten des Rechts, und vor allem seine
tatsächlichen sozialen und politischen Konsequenzen ausblendete. Ob ein solcher
Formalismus in Reinform auch tatsächlich vertreten wurde, oder ob er nicht eher ein
Konstrukt seiner Gegner darstellt, die ein leichtes Ziel für ihre Angriffe benötigten,
ist eine berechtigte Frage669. Mit dem Formalismus verhält es sich daher ähnlich wie
mit der deutschen Begriffsjurisprudenz. Auch hier wurde der Begriff vor allem auch
durch seine Gegner geprägt und neuere Untersuchungen belegen, dass etwa Windscheid oder Puchta kaum als Exponenten eines starren begriffsjuristischen Denkens
gelten können, wie es ihnen von anderen Autoren (etwa Jhering) oftmals unterstellt
wurde670. Was den Formalismus im anglo-amerikanischen Rechtsdenken anbelangt,
so wird man insbesondere Austin, der schon aufgrund seiner utilitaristischen Prämissen auch einen wachen Blick für die sozialen Konsequenzen des Rechts hatte,
kaum ein ausschließlich formalistisches Rechtsverständnis unterstellen dürfen671.
Gleichwohl bezeichnet der Begriff des Formalismus bei aller Überzeichnung und
Vereinseitigung dennoch einen zutreffenden Kern. Denn in der Tat traten bei Langdell und anderen Vertretern eines primär analytischen und systematischen rechtsthe-
668 Holmes (1963) S. 5.
669 Vgl. etwa Dworkin (1967) S. 47.
670, Vgl. zu Windscheid etwa Falk (1989), zu Puchta Haferkamp (2004) S. 463 ff.
671 Vgl. dazu etwa Hart (1958) S. 76 ff.
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oretischen Ansatzes die tatsächlichen sozialen Bedingtheiten und Auswirkungen der
Rechtsanwendung hinter das Interesse an begrifflicher Logik und Systematik zurück.
Daher traf Holmes durchaus den Punkt, als er für die Rechtstheorie seiner Zeit einen Vorrang der Logik vor der Erfahrung diagnostizierte. In "The Common Law"
versuchte er, die seiner Auffassung nach verhängnisvollen Folgen dieser Konstellation aufzuzeigen.
c) Die Kritik am Formalismus in "The Common Law"
In „The Common Law“ unterscheidet Holmes zwischen zwei Formen des logizistischen Fehlschlusses in der Jurisprudenz. Die erste besteht darin, „to deduce the corpus from a priori postulates“, die zweite in dem lässlicheren Sünde „of supposing
the science of the law to reside in the elegantia juris, or logical cohesion of part with
part“672. Zielscheibe des ersten Vorwurfs ist die deutsche Begriffsjurisprudenz. Der
zweite zielt auf die amerikanische Spielart der „Analytical Jurisprudence“, wie sie in
den Vereinigten Staaten von Langdell und seinen Anhängern vertreten wurde.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm die deutsche Rechtswissenschaft weltweit
eine Vorreiterrolle ein. Vorherrschend war dabei jene Begriffsjurisprudenz, zu der
Puchta und die Pandektisten die historische Rechtsschule Savignys weiterentwickelt
hatten673. Bereits bei Savigny war der Gedanke eines logisch stimmigen Systems
von Rechtsbegriffen angelegt gewesen. Seine historische Durchdringung der
Rechtsmaterie diente dem Zweck, ein System aus Institutionen zu gewinnen, in dem
sich das Recht als Gefüge logisch miteinander verbundener Prinzipien und Begriffe
abbilden ließ. Rechtsanwendung bestand nach diesem Verständnis gerade auch darin, Rechtssätze deduktiv aus dem Korpus der Begriffe und Prinzipien zu gewinnen.
Die philosophische Grundlage dieser Begriffsjurisprudenz bildete die Kantische
Philosophie674. Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernunft dargelegt, dass apriorische Erkenntnis nur von den Formen, nicht aber von empirischen Inhalten möglich
sei. Eine Wissenschaft, die für ihre Aussagen apriorische Gültigkeit in Anspruch
nahm, war daher nur in Bezug auf logische Formen, nicht aber empirische Inhalte
denkbar675. Da es der historischen Rechtsschule und später der Begriffsjurisprudenz
gerade auch darum ging, eine Rechtswissenschaft zu begründen, war der Weg in den
juristischen Formalismus eine direkte Konsequenz ihrer in der kantischen Philosophie wurzelnden Prämissen.
Dabei erwies sich die formalistische Rechtsauffassung der deutschen Rechtswissenschaft zunächst als außerordentlich erfolgreich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
wurde auch bei der Beschäftigung mit dem Common Law zunehmend auf die Me-
672 Holmes (1963) S. 32.
673 Vgl. dazu Wieacker (1967) S. 430 ff., zur Problematik des Begriffs bereits oben S. 208.
674 Dazu Wieacker (1967) S. 351 ff.
675 Zum kantischen Wissenschaftsverständnis siehe bereits oben S. 50 f.
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thoden und Auffassungen der deutschen Rechtswissenschaft zurückgegriffen676. Von
dem beträchtlichen Einfluss, den diese auf Austin und die Analytical Jurisprudence
ausübte, war bereits die Rede.
Holmes hielt diesen Einfluss für fatal. „The Common Law“ ist über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit der deutschen Begriffsjurisprudenz, und der Versuch, das Common Law davor zu bewahren, zum Opfer eines rechtswissenschaftlichen Formalismus zu werden677. Holmes Ablehnung der deutschen Rechtswissenschaft beruhte darauf, dass er die ihr zugrunde liegenden philosophischen Prämissen
für falsch hielt. Deutlich wird dies an Holmes Auseinandersetzung mit der deutschen
Rechtswissenschaft in dem Kapitel über den Besitz in „The Common Law“. Holmes
stellt hier zunächst den philosophischen Hintergrund der deutschen Lehre dar, wonach für den Besitz immer ein entsprechender Besitzwille notwendig sei. Für Holmes ist dies ein direkter Ausfluss der Kantischen Moral- und Rechtsphilosophie, die
die Freiheit des autonomen Subjekts in den Mittelpunkt stellte. Das Recht diente
dem Zweck, die Freiheitssphären der Bürger gegeneinander abzugrenzen, um so
größtmögliche Freiheit für alle zu gewährleisten678. Das Besitzrecht war aus dieser
Perspektive Ausdruck des aus der Freiheit entsprungenen Willens, eine Sache zu beherrschen und der eigenen Freiheitssphäre einzuverleiben.
Für Holmes wird diese begriffsjuristische Konzeption des Besitzes bereits dadurch widerlegt, dass Sie mit der vorherrschenden Rechtspraxis nicht übereinstimmt. Aus der Theorie, dass der Besitz einen Besitzwillen erfordert, weil auch das
Besitzrecht letztlich gemäß dem kantischen Rechtsbegriff der Abgrenzung von Willenssphären dienen muss, folgt eigentlich, dass ein Fremdbesitz wie z.B. der des
Pfandnehmers ausgeschlossen ist, gleichwohl stehen diesem sowohl im Common
Law wie z.T. auch im deutschen Recht die Abwehransprüche des Besitzers zu.
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob Holmes Einwand sachlich berechtigt ist,
oder ob Holmes hier ein falsches Verständnis des Besitzwillens zugrunde legt. Entscheidend ist die Struktur seiner Argumentation: Er spielt die vorherrschende
Rechtspraxis gegen die dogmatische Theorie aus und behauptet den Vorrang der
Ersteren: „The first call of a theory of law is that it should fit the facts.“679. Der Ausgangspunkt von Holmes Rechtstheorie ist somit ein gänzlich anderer als der der
Begriffsjurisprudenz. Das Recht ist nicht von der Logik der Begriffe her zu bestimmen, sondern von der sozialen Wirklichkeit. In diesem Wechsel der Perspektive
liegt der „Realistic Turn“ oder die empiristische Wende, die Holmes in der Rechtstheorie vornimmt.
Die zweite Form des logizistischen Fehlschlusses sieht Holmes bei Langdell und
den Anhängern der Analytical Jurisprudence am Werk. Diese trifft zwar nicht der
676 Reimann (1993) S. 142 ff.
677 Vgl. dazu Reimann (1993) S. 147 ff.
678 Vgl. Kants Rechtsbegriff in der Metaphysik der Sitten: „Eine jede Handlung ist recht, die
oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach
einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“, AA VI, 230.
679 Holmes (1963) S. 167.
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Vorwurf, das Recht aus apriorischen Postulaten zu deduzieren, da sie ihre Rechtsprinzipien ja auf induktivem Weg aus dem Korpus der Präjudizien gewinnen. In einer Besprechung von Langdells Casebook zum Vertragsrecht nennt Holmes ihn aber
gleichwohl einen „Rechtstheologen“, dessen Bestreben, alle rechtlichen Einzelregelungen als logische Resultanten einiger weniger Postulate aufzufassen, zwangsläufig
gerade zur Unwissenschaftlichkeit führen müsse680. Der Vorwurf richtet sich gegen
die Tendenz der Analytical Jurisprudence, das System der Rechtsbegriffe mit dem
Recht selbst zu identifizieren und Aspekte der sozialen Rechtswirklichkeit, wie zum
Beispiel die Interessen der an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien, auszublenden.
Wenn Holmes dieser Position Unwissenschaftlichkeit vorwirft, so zeigt sich hierin
einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Holmes und Langdell. Für Letzteren
war es gerade die Abstraktion von der empirischen Rechtswirklichkeit und die Beschränkung auf die formalen Beziehungen zwischen den Rechtsbegriffen, die Wissenschaftlichkeit verbürgte. Dahinter steckte ebenso wie bei der deutschen Begriffsjurisprudenz ein an Kant angelehnter Wissenschaftsbegriff, für den eine Wissenschaft gesicherte (d.h. apriorische) Erkenntnis nur insoweit zu liefern vermag, als in
ihr Mathematik enthalten ist. Will man auf dieser Grundlage die Beschäftigung mit
dem Recht wissenschaftlich betreiben, wie es die Analytical Jurisprudence für sich
beanspruchte, so ist der Weg in den rechtswissenschaftlichen Formalismus vorgezeichnet. Holmes hingegen legt schon einen ganz anderen Wissenschaftsbegriff
zugrunde, nämlich den der empirischen Naturwissenschaft, wonach (wenigstens vorläufig) gesicherte Erkenntnis nur im Wege experimentell kontrollierter empirischer
Erfahrung möglich ist681.
d) Formalismus in der Rechtsprechung: Die "Lochner"-Entscheidung
Logik und die Bildung abstrakter Begriffe und Prinzipien spielen bei Holmes nur die
Rolle eines Hilfsmittels, um durch Erfahrung gewonnene Erkenntnis zu ordnen und
zu strukturieren. Sie können aber nicht die alleinige Grundlage sein, um konkrete
Rechtsfälle zu entscheiden. Wo dennoch Entscheidungen allein aufgrund begrifflicher und logischer Erwägungen entschieden werden, verdeckt dies in der Regel nur
die konkreten Interessenerwägungen682, die die tatsächliche Grundlage dieser Entscheidungen bilden. Aufgrund ihres formalen Charakters kann die Logik zur Begründung jedes beliebigen Ergebnisses herangezogen werden683. Die Entscheidung
des Supreme Court im Fall Lochner684 bildet hierfür ein Musterbeispiel. In dem Fall
680 14 Am. Law Review 233, 234 (1880).
681 Zum Wissenschaftsverständnis bei Holmes vgl. Wiener (1949 ) S. 172 ff.; Howe (1957) S.
211 f.
682 „The decision can do no more than embody the preference of a given body in a given time
and place.“, Holmes (1992) S. 166 f.
683 „You can give any conclusion a logical form.“, Holmes (1992) S. 167.
684 198 U.S. 45 (1905).
212
ging es um ein Gesetz des Staates New York, dass die Arbeitszeit in Bäckereien auf
60 Stunden pro Woche beschränkte. Der Supreme Court erachtete dieses Gesetz für
verfassungswidrig, weil es gegen die Due-Process-Klausel des 14. Amendments
verstoße: Es beeinträchtige in verfassungswidriger Weise die Vertragsfreiheit, weil
es einem Arbeiter, der freiwillig länger als 60 Stunden arbeiten wollte, dieses nicht
gestatte.
Die Argumentation des Supreme Courts war eine rein begriffsjuristisch-formale
im Stile Langdells685. Die Due-Process-Klausel verbietet die Einschränkung bürgerlicher Freiheit ohne gerichtlichen Prozess. Der Begriff der Freiheit umfasst auch die
Freiheit zum Abschluss eines Arbeitsvertrages. Daher verstößt ein Gesetz, dass diese
Freiheit einschränkt, ohne für jeden Einzelfall ein gerichtliches Verfahren vorzusehen, gegen das 14. Amendment.
Holmes weist in seinem Dissent zu diesem Urteil zunächst darauf hin, dass die
formalistische Interpretation des Freiheitsbegriffs im 14. Amendment zu einem absurden Widerspruch mit der übrigen Rechtsordnung führt, da gesetzliche Freiheitseinschränkungen im amerikanischen wie in jedem anderen Recht völlig selbstverständlich sind, wie sich schon an den Schulgesetzen zeige686.
Nach Holmes Einschätzung ist das Urteil des Supreme Courts zudem nur vorderhand ein Ergebnis logischer Auslegung des Begriffs Freiheit. Es sei ein Irrtum, anzunehmen, dass sich allein aus abstrakten Aussagen mit zwingender Logik konkrete
Fälle entscheiden ließen: „General propositions do not decide concrete cases.“687
Letztlich beruhe das Urteil darauf, dass das Gericht einer bestimmten Wirtschaftstheorie – nämlich der des Laissez-Faire-Kapitalismus – anhänge und versuche, diese in den Text der Verfassung hineinzulesen. Dieser sei aber gerade keine
Präferenz für eine bestimmte Wirtschaftsordnung zu entnehmen688. Die Lochner-
Entscheidung bildet damit ein Paradebeispiel dafür, wie eine formallogische Argumentation dazu dient, politische Präferenzen zu verbergen, die in Wahrheit die eigentliche Grundlage der Entscheidung bilden.
3. Der Rechtsbegriff der „Prediction Theory of Law“
Im Gegensatz zur Tradition der "Analytical Jurisprudence" stand für Holmes im
Zentrum des Rechts nicht die Logik, sondern Erfahrung. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Konzepts von "law as experience" ist ein spezifischer Rechtsbegriff. Denn
Holmes radikale Abkehr von der traditionellen analytischen Rechtstheorie führte da-
685 Vgl. auch Feldman (2000) S. 100 f. Differenzierend Grey (2003) S. 494 ff., der betont, dass
die Lochner-Entscheidung neben einer formalistischen vor allem auch von einer naturrechtlichen Argumentation getragen wird.
686 Holmes (1992) S. 306. Auch hier wieder ein typisches Holmes-Argument, das einer formalistischen Rechtsauffassung die empirische Rechtswirklichkeit entgegenhält.
687 Holmes (1992) S. 306.
688 Holmes (1992) S. 306.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.