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7. Holmes’ Pragmatismus
Holmes war wohl kein Pragmatist in dem Sinne, dass er direkt von den Ideen von
Peirce oder James beeinflusst worden wäre. Dafür stand er den beiden zu kritisch
gegenüber und war ein zu eigenständiger und origineller Denker. Er war jedoch insbesondere im Metaphysical Club - denselben Einflüssen ausgesetzt wie Peirce
und James und er zog daraus auch weitgehend identische philosophische Konsequenzen. Diese ließen ihn dann zwar im Ergebnis Dewey näher stehen als Peirce
und James, sie rechtfertigen es aber, Holmes als einen Pragmatisten zu sehen.
a) Instrumentalismus statt Utilitarismus
Mit den Pragmatisten verbindet Holmes zunächst das tiefe Misstrauen gegenüber
jeder Art von Metaphysik, insbesondere wenn sie mit einem Begriff absoluter
Wahrheit verbunden ist809. Holmes eigener Wahrheitsbegriff ist eng verwandt mit
dem von Peirce, wenn er in einem Brief an Laski schreibt:
„Truth is the unanimous consent of mankind to a system of propositions. It is an ideal and as
such postulates itself as a thing to be attained, but like other good ideals it is unattainable and
therefore may be called absurd.“810
Hierin klingt ebenso wie in der Formulierung vom „marketplace of the ideas“811 der
pragmatistische Gedanke von der Öffentlichkeit als einer Gemeinschaft von Forschenden an, in der Ideen diskutiert und ausprobiert werden, um sich auf lange Sicht
hin der Wahrheit anzunähern.
Wie bei den Pragmatisten steckt dahinter auch bei Holmes die Vorstellung, dass
diese Übereinkunft auf der gemeinsam geteilten Erfahrung einer unabhängig existierenden Realität beruht. Wenn Holmes sagt, etwas sei wahr bedeute soviel wie „that I
can’t help believing it“, so meint dies, dass die Erfahrung der „brute facts“ dazu
zwingt, gewisse Aussagen als wahr anzunehmen, ohne dass darüber freilich endgültige Gewissheit bestehen könnte.
An anderer Stelle beschreibt Holmes unter Berufung auf Chauncey Wright die
Bedeutung der Aussage, dies oder das sei wahr, damit, dass jemand bereit sei, darauf
zu wetten, dass das Universum auf eine bestimmte Weise reagieren würde812. Das ist
im Kern nichts anderes als die Aussage der Pragmatischen Maxime, denn wer eine
Wette eingeht, gibt damit die Bereitschaft zum Ausdruck, einen Sachverhalt experimentell zu beweisen, indem er bestimmte äußere Ereignisse herbeiführt. Auch für
Holmes ist Ausgangspunkt jedes Denkens zunächst die empirische Wirklichkeit und
wie für die Pragmatisten bildet diese Wirklichkeit dann auch wieder den Endpunkt,
809 „Absolute truth is a mirage.“, Holmes-Laski-Letters II S. 248 (Brief vom 11. Januar, 1929).
810 Holmes-Laski-Letters I S. 203 (Brief vom 6. April 1920).
811 Dazu oben S. 231 ff.
812 Holmes-Pollock-Letters II S. 252 (Brief vom 30. August 1929).
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an dem sich alle Bemühungen bewähren müssen. Dies ist die Pointe von Peirces
pragmatischer Maxime ebenso wie von Holmes' Prediction Theory of Law.
Der Beitrag von Holmes zur amerikanischen Rechtstheorie ist vor dem Hintergrund dieser pragmatistischen Philosophie zu sehen. Sie war es, die es ihm ermöglichte, seine realistische Wende zu vollziehen und Einflüsse der historischen Schule
und der Analytical Jurisprudence zu einem realistisch-instrumentalistischen Rechtsverständnis zu synthetisieren, in dem das Recht als Teil der sozialen Wirklichkeit
begriffen wurde, um dann in instrumentalistischer Weise bewußt als soziales Gestaltungsmittel eingesetzt zu werden.
Es ist dieser Instrumentalismus, der es vor allem rechtfertigt, in Holmes einen
Pragmatisten zu sehen. Gelegentlich wurde Holmes instrumentalistische Rechtsauffassung von der Forschung im Sinne eines Utilitarismus interpretiert813. Holmes Instrumentalismus ist aber letztlich nur die Konsequenz aus seinem evolutionistischen
Rechtsverständnis und nicht der Ausdruck einer utilitaristischen Philosophie. Zwar
versteht auch der Utilitarismus, z.B. bei Bentham, das Recht als Instrument zur Verfolgung eines sozialen Zieles, nämlich des größten Glücks der größten Zahl. Diese
Auffassung ist aber das Ergebnis der rationalistischen Methode Benthams, das
Rechtssystem quasi aus dem Nichts, ausgehend allein vom Nützlichkeitsprinzip, zu
entwickeln814.
Holmes Methode zum Verständnis des Rechts ist eine völlig andere, sein Ausgangspunkt ist stets das in der Gesellschaft schon vorhandene, historisch gewachsene Recht: Holmes Rechtsauffassung entspringt nicht rationalistischer Konstruktion,
sondern empirischer Einsicht in die Natur des evolutionären Daseinskampfes. Die
methodische Differenz von Holmes und Bentham an diesem Punkt entspricht der
zwischen Peirce und Descartes hinsichtlich der methodischen Bedeutung des Zweifels815. Benthams Rekonstruktion des Rechts aus dem Nützlichkeitsprinzip entspricht Descartes Vorgehensweise, erst alle Überzeugungen einem radikalen Zweifel
zu unterwerfen, um dann auf der Grundlage der Gewissheit des „Cogito ergo sum“
zu neuen gesicherten Überzeugungen zu gelangen. Dagegen steht Holmes wie Peirce
auf dem Standpunkt, dass wir gar nicht umhin können, unsere gesamten bisherigen
Erfahrungen, also das gesamte Recht, wie es sich speziell im Common Law über die
Jahrhunderte organisch entwickelt hat, zum Ausgangspunkt für die Lösung konkreter Probleme zu nehmen816.
Gegen die Einordnung von Holmes als Utilitarist spricht zudem, dass er sich an
anderer Stelle explizit dagegen ausspricht, das größte Glück der größten Zahl zum
Leitgedanken bei der Gesetzgebung zu machen:
813 Vgl. zum Beispiel Pohlmann (1984); ders. (1991) S. 22.
814 Bentham (1948).
815 Vgl. dazu oben S. 25 f.
816 „One fancies that one could invent a different code under which men would have been as
well off as they are now, if they had happened to adopt it. But that if is a very great one.
The tree has grown as we know it. The practical question is what is to be the next organic
step.“, Holmes (1992) S. 205 f. Vgl. auch Grey (1989) S. 809.
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„Why should the greatest number be preferred? Why not the greatest good of the most intelligent and most highly developed? The greatest good of a minority of our generation may be the
greatest good of the greatest number in the long run. But if the welfare of all future ages is to
be considered, legislation may as well be abandoned for the present.“817.
b) Holmes und Dewey
Holmes Rechtsinstrumentalismus steht daher Dewey viel näher als Mill oder
Bentham. Deweys „Experience and Nature“ hatte Holmes zutiefst beeindruckt, und
er nannte es gegenüber Laski „truly a great book“818, dessen „view of the universe ...
came home to me closer than any other I know“819 und er habe in darin wie in keinem anderen Werk seine eigene Weltauffassung wieder gefunden820. Dieses Urteil
dürfte nicht nur der Erbauung des 85jährigen darüber zuzuschreiben, dass Dewey
ihn in diesem Werk als einen großen amerikanischen Philosophen bezeichnet, sondern einer tatsächlichen Übereinstimmung in elementaren philosophischen Grund-
überzeugungen821. Dies ist umso bemerkenswerter, als Dewey und Holmes, was ihre
politischen Standpunkte angeht, völlig entgegen gesetzte Auffassungen vertraten822.
Dewey war ein energischer Befürworter sozialer Reformen, dem auch Roosevelts
New Deal bei weitem nicht radikal genug erschien823. Holmes war zwar als Richter
am Supreme Court maßgeblich daran beteiligt, die Durchsetzung sozialer Reformen
zu ermöglichen, privat machte er allerdings keinen Hehl daraus, dass er diese Politik
für verfehlt hielt824.
Die Übereinstimmung zwischen Holmes und Dewey musste also auf einer tieferen Ebene als der aktuellen Tagespolitik zu finden sein, über die sie so verschiedener
Meinung waren. Beide teilten vor allem eine evolutionistische Perspektive, die die
Dynamik und stetige Wandelbarkeit aller Ideen und Institutionen betont, und die
sowohl Holmes’ Auffassung von „Law as Experience“ als auch Deweys pragmatischem Instrumentalismus kennzeichnet. Während diese Weltsicht freilich bei Dewey
durch seinen naturalistischen Humanismus und seinen Optimismus bzgl. der Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Natur in einem sehr milden
Licht erscheint, kommt bei Holmes oftmals ein rauer Sozialdarwinismus zum Vorschein, der nicht selten menschenverachtende und zynische Züge trägt. Was Dewey
als ein Kosmos voller Chancen und Möglichkeiten für die erstrebenswerte "Self-
817 Holmes (1992) S. 122.
818 Holmes-Laski-Letters II S. 127 (Brief vom 15.12.1926).
819 Holmes-Pollock-Letters II 272 (Brief vom 26.07.1930).
820 Holmes-Laski Letters II S. 124 (Brief vom 4. Dezember 1926).
821 Vgl. dazu auch Grey (1989) S. 868 ff.; Menand (2001) S. 437.
822 Bei Holmes heißt es an einer Stelle, wenn Dewey von der Ausbeutung des Menschen durch
den Menschen spreche, sträubten sich ihm die Haare, Holmes-Laski-Letters I S. 330 (Brief
vom 14.06.1922).
823 Vgl. dazu Westbrook (1991) S. 440 f.; Menand (2001) S. 65 ff., sowie oben 126 f.
824 Vgl. dazu die Nachweise oben Fn. 791.
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Realization" des Menschen erschien, war für Holmes in erster Linie ein erbarmungsloser "Struggle for Existence"825. Deweys Spielart des Pragmatismus dürfte aus
Sicht von Holmes aber attraktiv gemacht haben, dass darin jene religiöse Komponente fehlte, die Holmes im Pragmatismus von James und Peirce vorzufinden glaubte, und die ihm als religiösem Skeptiker zuwider war. Hinzu kamen bei diesen beiden auch persönliche Abneigungen, die Holmes Urteil womöglich beeinflussten826.
Auch im Hinblick auf ihre rechtstheoretischen Ansichten stimmen Holmes und Dewey weitgehend überein. Hierauf wird im Abschnitt über Deweys Rechtstheorie
noch näher einzugehen sein827.
Bei Holmes werden auch bereits die Probleme sichtbar, die sich mit einer pragmatistischen Rechtstheorie verbinden. So stehen realistischer Rechtsbegriff und
Rechtsinstrumentalismus in einem Spannungsverhältnis zueinander, weil die Berücksichtigung im Einzelfall kontingenter tatsächlicher Folgen die Entscheidungen
die Bindungswirkung von Normtexten und Präjudizien teilweise suspendiert und so
die Entscheidungen weniger vorhersehbar werden lässt. Der realistische Rechtsbegriff blendet die normative Komponente des Rechts weitgehend aus und kann damit
aber auch keine Kriterien mehr für dessen Legitimität angeben. Holmes instrumentalistisches Rechtsverständnis hilft diesem Problem nicht ab, denn das Dilemma von
Holmes bestand - wie Thomas Grey treffend formuliert hat - gerade darin, dass er
ein Instrumentalist war, dem ein adäquates System legitimer Zwecke fehlte828. Die
Rechtfertigung der Zwecke kann aber durch ein normativ gehaltvolles Verständnis
von Demokratie geleistet werden, das in den Entscheidungen des demokratischen
Gesetzgebers mehr erblickt als lediglich den Ausfluss von Machtinteressen. Bei
Holmes sind solche Überlegungen in seinem Konzept vom „marketplace of ideas“
lediglich in Ansätzen erkennbar. Holmes blieb gegenüber der Weisheit der politischen Öffentlichkeit stets skeptisch. Diese Skepsis herrscht bei Holmes allerdings
zuallererst auch gegenüber seinen eigenen Überzeugungen. Daher bleibt durchaus
Raum für die Auffassung, dass er vielleicht doch mehr von der Leistungsfähigkeit
des demokratischen Prozesses überzeugt war, als es seine gelegentlichen abfälligen
Äußerungen829 vermuten lassen, gemäß seinem Diktum, dass Männer der Praxis es
oftmals vorziehen, ihre grundsätzlichsten Überzeugungen für sich zu behalten830.
825 "I look at men through Malthus's glasses -as like flies - here swept away by pestilence there multiplying unduly and paying for it. I think Your morals ... are not the last word but
only a check for varying intensity upon force, which seems to me likely to remain the ultimate", Holmes (1992 S. 140).
826 Dazu näher Grey, Stanford Law Review 41 (1989), 864 ff, 870.
827 Dazu unten S. 243 ff.
828 Grey (1989) S. 850. Ähnlich Aichele (1989) S. 165.
829 Nachweise etwa bei Menand (2001) S. 64 ff.
830 Vgl. Holmes (1992) S. 299.
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II. Pragmatismus und amerikanische Rechtstheorie 1900-1950
Oliver Wendell Holmes hatte dem pragmatistischen Denken zum Durchbruch in der
Rechtstheorie verholfen und so die Grundlage für einen empirisch orientierten Gegenentwurf zum vorherrschenden Rechtsformalismus geschaffen. Danach gewann
dieses Denken weiter an Einfluss und dominierte spätestens seit den 20er Jahren des
vorigen Jahrhunderts die rechtstheoretische Diskussion in den Vereinigten Staaten.
Die Philosophie des Pragmatismus, die etwa zur gleichen Zeit ihre einflussreichste
Periode durchlebte, lieferte dabei der empirischen Rechtstheorie in vielerlei Hinsicht
das gedankliche Fundament. Zum Teil, etwa durch die rechtstheoretischen Arbeiten
John Deweys, wirkte sie auch direkt an der Formulierung des neuen – empirischen –
Rechtsparadigmas mit. Die einflussreiche Schule der Sociological Jurisprudence war
ihrem Selbstverständnis nach eine Anwendung pragmatistischer Ideen auf die
Rechtstheorie. Mit dem Legal Realism schließlich wurde der Rechtsformalismus
endgültig aus den Universitäten und Gerichtssälen verabschiedet und das empiristische Rechtsverständnis entfaltete seine radikalste Ausprägung.
1. John Dewey und die logische Methode im Recht
Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil von Deweys umfangreichem Werk beschäftigt
sich explizit mit Fragen des Rechts und der Rechtstheorie831. Gleichwohl hat Dewey
einen großen Einfluss auf die amerikanische Rechtstheorie in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts ausgeübt832, da sein pragmatischer Instrumentalismus eine ideale
Grundlage für eine empirische Theorie des Rechts abgab.
a) Deweys realistischer Rechtsbegriff
Dewey erkennt in Holmes folgerichtig einen Verbündeten, wenn es darum geht, das
Recht aus einer empirischen Perspektive zu betrachten. Ebenso wie Holmes vertritt
Dewey einen konsequent realistischen Rechtsbegriff:
831 Relevant sind hier vor allem die Aufsätze “Nature and Reason in Law” (MW 7.56 ff.);
“Justice Holmes and the Liberal Mind” (LW 3.177 ff.); „Logical Method and the Law“,
1924 = LML (MW 15.65 ff.) sowie „My Philosophy of Law“, 1941 = MPL (LW 14.115
ff.).
832 So führten die Rechtsrealisten Walther Wheeler Cook und Underhill Moore ihre Hinwendung zu einer empirischen Sichtweise auf das Recht auf den Einfluss von Dewey zurück,
vgl. Feldmann (2000) S. 110. Insbesondere Cook hatte zahlreiche Vorlesungen Deweys gehört und bezeichnete sie als „one of the most helpful things I have ever had“. Zum Einfluss
Deweys auf Cook und Moore vgl. insb. Schlegel (1995) S. 24 f; 225 ff..
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der klassische Pragmatismus steht für einen amerikanischen Sonderweg in die philosophische Moderne. Auch die Entwicklung des amerikanischen Rechtsdenkens wurde durch den Pragmatismus von C.S. Peirce und John Dewey bis heute maßgeblich geprägt. Strömungen wie der "Legal Realism" oder die "Economic Analysis of Law" wären ohne das gedankliche Fundament der pragmatistischen Philosophie nicht denkbar.
Das Buch zeichnet den Einfluss des Pragmatismus auf die amerikanische Rechtstheorie über einen Zeitraum von 150 Jahren von Oliver Wendell Holmes" "The Common Law" bis zum modernen "Legal Pragmatism" eines Richard Posner nach. Der Verfasser veranschaulicht zudem den engen Zusammenhang, der zwischen der pragmatistischen Rechtstheorie und einem deliberativen Demokratieverständnis besteht. Für die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen dem Willen des demokratischen Gesetzgebers und der Autonomie des Rechtssystems aufzulösen ist, kann der Pragmatismus neue Perspektiven liefern. Deshalb ist es lohnend, sich auch auf dem alten Kontinent mit ihm auseinanderzusetzen.